Gesellschaft
Jungbrunnen im Altersheim
Von Daniela Schwegler
Sie können es gut miteinander, die Alten und die Jungen, die im Berner Domicil Schönegg unter einem Dach leben. In der Altersresidenz die einen, in der Kita die anderen. Zu Besuch im Generationenhaus.
Wie von der Tarantel gestochen rennen Jorin (6), Valentina (5), Ada (4) und Ananda (2) um den Tisch, an dem die zwei alten Damen sitzen: Anna Katharina Zambetti (88), und Käthe Marthaler (89). Das ebenerdige Zimmer mit grossen Fenstern zum Garten hin haben die Kinder am Begegnungsnachmittag in einen Abenteuerspielplatz umfunktioniert. Die beiden rüstigen Seniorinnen schauen der Bande amüsiert zu. So viel wildes Leben haben sie im Berner Altersheim Domicil Schönegg nicht alle Tage um sich herum. Gut möglich, dass die Rasselbande sie an ihre eigene Kindheit erinnert. Oder an die Zeit, als sie selbst als junge Mütter mit aufgedrehtem Nachwuchs beschäftigt waren. Jedenfalls geniessen sie den turbulenten Ringeltanz.
Treffen zwischenJung und Alt sind in der Berner Kindertagesstätte MixMax fixer Bestandteil. Drei bis vier Mal pro Monat begegnen sich die Krippenkinder und die Bewohnerinnen und Bewohner des Domicils Schönegg. Man kocht gemeinsam, erzählt sich Geschichten, badet die Füsse und singt zusammen Lieder. Mit dabei sind immer je eine Betreuerin des Altersheims sowie der Tagesstätte. Und auch zwischen den fixen Terminen kommt es zu spontanen Treffen im Treppenhaus, Café oder Garten: Das Leben unter dem gleichen Dach macht es möglich.
Die Begegnungsidee der Berner Kindertagesstätte MixMax findet schweizweit Anklang. Nicht nur die Kindertagesstätte im Generationenhaus Neubad in Basel liess sich vom Berner Modell inspirieren, sondern auch in der Churer Kinderkrippe Wigwam sind Treffs zwischen Kindern und der älteren Generation fester Bestandteil geworden. Gleich einen ganzen Tag lang sollen «Chli & Gross» in Meilen im Projekt Tandem miteinander betreut werden.
Und auch das gemeinsame Wohnen mehrerer Generationen unter einem Dach, das in Deutschland vielerorts längst Alltag ist, wird in der Schweiz zunehmend populärer. So sind Mehrgenerationenhäuser unter anderem in den Städten Winterthur und Zürich am Entstehen.
www.mix-max.ch
www.generationenhaus-neubad.ch
www.wigwam-chur.ch
www.tandem-tagesbetreuung.ch
www.giesserei-gesewo.ch
www.refhoengg.ch
MixMax ist ein Pionierprojekt und will, wie es der Name sagt, Jung und Alt zusammenbringen. Weil von diesem Miteinander beide profitieren können. Mit dem Generationen- Mixen betrat Initiantin Marie- Jeanne Metz 2002 Neuland. Die ausgebildete Kleinkinderzieherin und Bewegungspädagogin liess sich durch ein Projekt in Holland inspirieren. So was müsste doch auch in der Schweiz möglich sein, fand sie. Und heuerte ein halbes Jahr im Domicil Schönegg an, um zu sehen, ob ihre Idee dort auf fruchtbaren Boden stossen würde. Sie lernte den Betrieb von innen kennen und klärte ab, was es braucht, damit ein Generationentreffen für alle Beteiligten stimmig ist. Schnell zeigte sich, dass viele Senioren Freude hätten, regelmässig Kinder zu treffen. Also arbeitete Marie-Jeanne Metz mit dem eigens gegründeten Verein mixmax ein Konzept aus. Und gründete im grosszügigen Dachstock des Hauses Schönegg in der frei gewordenen 5-Zimmer-Wohnung die Kindertagesstätte MixMax. Die Idee entwickelte sich zum Erfolgsmodell.
Wie es Jung und Alt gefällt
«Ein ‹Streichelzoo› sind wir nicht», stellt die Kita-Leiterin klar. Die Kinder dürften nicht instrumentalisiert werden. «Sie machen nur so lange mit, wie es ihnen gefällt.» Klar lösten die Kleinen bei den alten Leuten oft einen Jö-Effekt aus. Aber ob sich ein Kind herzen lassen oder einer Heimbewohnerin auf den Schoss sitzen will, bleibt ihm überlassen. «Alles beruht auf Freiwilligkeit.» Selbstverständlich gilt dies auch für die Pensionäre. An jenem Begegnungsnachmittag, als die Kids augelassen durchs Domicil Schönegg tollen, macht eine Dame, die im Rollstuhl sitzt, denn auch gleich an der Türe kehrt, als sie sieht, mit welcher Energie die Kinder geladen sind.
Im Altersheim leben 83 Seniorinnen und Senioren. Und die Kita bietet Platz für 24 Kinder im Alter zwischen sechs Monaten und sechs Jahren. Unter den Alten, berichtet die Kita-Leiterin, gebe es eine Kerngruppe von 30 Leuten, die immer an die verschiedenen Begegnungen mit den Kids kommen würden. Vereinzelt entstünden sogar Freundschaftsbande zwischen der Grosseltern- und der Enkelgeneration.
Der Soziologe François Höpflinger begrüsst den organisierten Generationenmix in Heim und Kindertagesstätte. «Heute gibt es fast keine freilaufenden Kinder und Senioren mehr», sagt der Generationenforscher augenzwinkernd. Alte Leute und kleine Kinder seien entweder zu Hause in den eigenen vier Wänden oder würden in Heime und Tagesstätten gesteckt. «Früher traf man sich beim Dorfbrunnen oder auf dem Kirchenplatz.» Aber mit dem Verkehr heutzutage und der Verstädterung seien spontane Begegnungen fast nicht mehr möglich. Umso wertvoller seien organisierte Generationentreffen. «Die Kinder bringen Leben ins Haus. Und die alten Menschen mit ihrem langsamen Rhythmus wirken beruhigend auf die Kleinen.»
Natürlich seien solche Treffen weniger verbindlich als innerfamiliäre Begegnungen von Grosseltern und Enkeln. Aber Beziehungen müssten nicht immer verbindlich sein. Im Gegenteil: «Die Unverbindlichkeit von Beziehungen ist ein wichtiges Element moderner Gesellschaften.» Und auch in diesen losen Beziehungen könnten Menschen viel voneinander lernen, unter anderem, sich gegenseitig in ihrer Andersartigkeit zu respektieren und leben zu lassen. Verklären dürfe man solche Projekte dennoch nicht. «Ich warne vor sozialromantischen Illusionen! », so der Altersforscher. Die Gleichung, je mehr Kontakte zwischen Jung und Alt, desto besser die Beziehung, gehe nicht auf. Im Zentrum müssten immer die Bedürfnisse der Beteiligten stehen. Also das Bedürfnis nach Ruhe bei den alten Menschen und nach ausgelassenem Herumtollen bei den Kindern.
Erinnerungen werden wach
Aber solange der Rahmen stimmt, profitieren beide. Die Begegnungen lösen, laut der Initiatin Marie-Jeanne Metz viel aus: Kinder lernten durch Beobachten, dass alte Menschen nicht mehr so gut hören, sehen oder gehen können. Dass alte Menschen alles langsamer angehen und man ihnen manchmal helfen müsse, etwas aufzuheben. Dass sie dafür aber auch sehr aufmerksam zuhören, Lieder singen und Geschichten erzählen könnten. Kurzum: «Das Verständnis füreinander wächst.»
In der Schönegg sitzen die Kids mit den Seniorinnen und den zwei Begleiterinnen am Zvieri-Tisch. Bei Apfelschnitzen, Käsestücken, Brot und Tee werden die Kinder beinahe andächtig still. Zeit zum Plaudern. Frau Zambetti strahlt: «Ich habe Kinder gern.» Dass im Schönegg die Begegnung mit Kindern möglich sei, sei mit ein Grund, dass sie dieses Altersheim ausgesucht habe. Und dass sie von der zweijährigen Ananda entzückt ist, erstaunt bei ihrer Vergangenheit wenig. «Ich war als Krankenschwester ein halbes Jahr in Indien und habe dort viel mit Kindern zu tun gehabt», erzählt sie und lässt die Runde teilhaben an den Erlebnissen, die sie als Entwicklungshelferin in über zehn Ländern gemacht hat.
Bei ihrer Tischnachbarin Käthe Marthaler weckt das gemeinsame Tafeln Erinnerungen an den eigenen Familientisch, an dem jeweils Geschichten ausgetauscht wurden. Und sie erzählt den Kita-Kindern die Geschichte vom «Onkel Grizzly», der ein guter Schütze gewesen sei. Ein Original mit Knickebocker-Hosen. Sekundarlehrer von Beruf. In der Freizeit immer auf Bärenjagd. Es ist nun ganz still im Raum und die Kinder hören mit offenen Mündern zu.