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Ehrlichkeit in der Erziehung
Jugendsünden: Wieviel dürfen Kinder erfahren?
Sollen Kinder wissen, dass Mama und Papa in ihrer Jugend auch mal Mist gebaut haben? Oder bringen wir sie damit erst auf Ideen? Wir haben zwei Elternteile gefragt: Wie ehrlich seid ihr zu eurem Nachwuchs? Ein Pro und Kontra kompletter Offenheit.
Ist es ratsam, mit dem Kind über die Eskapaden in der eigenen Jugend offen zu sprechen? Ein Vater und eine Mutter haben sich dazu ihre Gedanken gemacht und haben zu unterschiedlichen Haltungen gefunden. Er, Markus, sieht gewisse Erlebnisse seiner Jugend heute kritisch und zieht deshalb Grenzen bezüglich Offenheit. Direkt zu seiner Begründung geht es hier. Sie, Katja, sieht hingegen keinen Grund, den Kindern Informationen über die eigene Jugend vorzuenthalten. Ihre Überlegungen dazu direkt hier.
Kontra totale Offenheit
«Sie sollen nicht auf dieselben dummen Gedanken kommen», sagt Markus (48), Vater eines Sohns (11) und einer Tochter (7).
«Ob unsere Kinder von meinen Jugendsünden wissen dürfen? Puh, schwierige Frage. Spontan würde ich sagen: Ja klar, schliesslich sind wir eine offene Familie und sprechen über alles. Ich will mich auch nicht als super Vorbild mit weisser Weste ausgeben. Die habe ich nämlich keineswegs.
Dass ich in der achten Klasse sitzen geblieben bin, wissen meine Kinder, daraus mache ich keinen Hehl. Ausserdem hat meine Mutter sämtliche Zeugnisse von mir aufgehoben und macht sich einen Spass daraus, diese ihren Enkeln immer wieder zu zeigen. Papas schlechte Noten zu sehen, finden die beiden natürlich irre lustig.
Aber es gibt es auch Grenzen. In meiner Jugend habe ich nämlich nichts ausgelassen. Wir sprechen also nicht nur von schlechten Noten, Hausaufgaben abschreiben und nächtlichem Biertrinken im Park, sondern auch von Komasaufen, völlig besoffen Auto fahren und mit Kumpels über mehrere Wochen nachts einen Kiosk beklauen, nur so zum Spass. Auch Acid, Shit und Speed konnte ich schon präzise unterscheiden, bevor mir überhaupt ein Bartflaum gewachsen war. Ehrlich, meine Kinder sind zwar erst im Primarschulalter, aber das werde ich ihnen auch später sicher nicht erzählen.
Zum einen, weil mir vieles, was ich früher gemacht habe, heute einfach peinlich ist. Das auseinandergenommene Hotelzimmer in Südfrankreich etwa, in dem ich mit Kollegen nach dem Schulabschluss randaliert habe, der Besitzer uns aber nie auf die Schliche kam.
Ausserdem will ich nicht, dass meine Kinder auf dieselben dummen Gedanken kommen wie ich – vor allem, was das Experimentieren mit diversen Substanzen angeht. Ich hatte verdammt viel Glück damals, nicht komplett abzurutschen, das hätte auch schiefgehen können.
Und dann habe ich auch noch die Erfahrung meines älteren Bruders im Kopf, der ebenfalls kein Kind von Traurigkeit war. Dies gab er auch seinen eigenen Kindern gegenüber lange freimütig zu und erzählte mit Vorliebe detaillierte Geschichten von früher.
Bis sein damals 15-jähriger Sohn begann, die Jugendsünden des Vaters als Freifahrtschein für sich selbst zu nutzen. «Aber du hast doch auch…», verteidigte sich Junior zum Beispiel, nachdem er betrunken auf dem Töffli erwischt worden war. Ja, tatsächlich, sein Vater war früher mehr als einmal auf exakt derselben Weise unterwegs. Aber eben: Vor 30 Jahren in einem verschlafenen Dorf und nicht im Stadtverkehr des 21. Jahrhunderts!
Mein Bruder ist mittlerweile um einiges zurückhaltender mit dem Ausplaudern seiner Jugendsünden. Und ich lasse lieber meine Frau erzählen.»
Pro totale Offenheit
«Ich bin auch keine Heilige», sagt Katja (45), Mutter von zwei Töchtern (12 und 10) und eines Sohns (7).
«Eltern wollen zu gerne glauben, es gebe eine Jugend ohne Gefahren. Obwohl wir insgeheim natürlich wissen: Das ist eine Illusion. Auch unsere Kinder – egal, wie vernünftig sie sein mögen – werden den einen oder anderen Mist bauen.
Von daher bin ich dafür, dem eigenen Nachwuchs schonungslos offen von eigenen jugendlichen Ausrutschern zu erzählen. Denn Erwachsene brauchen keinen künstlichen Heiligenschein, um Autorität zu markieren.
Im Gegenteil: Geben sie zu, dass sie früher auch über die Stränge geschlagen haben und dafür Konsequenzen tragen mussten, wirken sie authentisch.
Zu meinen Jugendsünden gehört unter anderem der Klassiker «Privatparty in der Badi»: Mit den Jungs bin ich über den Zaun geklettert und in Unterwäsche ins Becken gesprungen. Was sehr, sehr kalt war, aber auch total lustig!
Natürlich prahle ich meinen Kindern gegenüber damit nicht. Aber ich erzähle davon, wenn die Sprache darauf kommt. Genauso wie ich ehrlich sage, dass ich früher auch mal beim Spicken in einer Klassenarbeit erwischt wurde oder die Unterschrift meiner Mutter gefälscht habe.
Deshalb bin ich noch lange kein schlechtes Vorbild. Ich glaube, es geht darum, das Ganze ohne Stolz zu erzählen. So habe ich zum Beispiel meinen Kindern gegenüber betont, wie gross meine Angst damals war, wenn meine Mutter besagte Lehrerin traf und ich jedes Mal Sorge hatte, die Fälschung könne auffliegen.
Meine Eltern haben mir immer sehr viele Freiheiten gelassen. Denke ich an all die Nächte in irgendwelchen Discos – damals, mit gerade mal 15 – und daran, dass meine Grosse in drei Jahren auch in solch zwielichtigen Schuppen abhängen könnte, wird mir ganz schlecht. Von dieser Zeit habe ich noch nicht berichtet, die Kinder waren bisher zu jung.
Sobald es aber Thema wird, schneide ich auch das an. Natürlich nicht im Sinne einer Generalbeichte, nach dem Motto «Jetzt ist es raus!», auch keine Lügen und Schönfärberei werde ich auftischen. Nein, ehrlich, sachlich und selbstkritisch soll es sein – so nehme ich es mir zumindest vor.
Denn letztendlich geht es doch vor allem darum zu signalisieren: «Kinder, eure Eltern sind auch keine Heiligen!» Vermitteln wir, «niemand ist perfekt», ist es ihnen hoffentlich auch nicht peinlich, von eigenen Dummheiten zu erzählen.
Ausserdem haben uns all diese Jugenderlebnisse geprägt und uns erst zu denjenigen gemacht, die wir heute sind. Meist sind dabei sogar halbwegs ordentliche Erwachsene herausgekommen – dann wird dies beim Nachwuchs hoffentlich auch so sein. Sollte eines meiner Kinder also irgendwann fragen: «Mama, hast du schon mal gekifft?», werde ich wahrheitsgemäss antworten.»
Einst Redaktorin beim «Tages-Anzeiger», später Korrespondentin in Shanghai, schreibt Kristina Reiss heute als freischaffende Journalistin leidenschaftlich über den Mikrokosmos Familie. Dabei interessiert sie sich für alles, was Menschen bewegt – ihre Wünsche, Sehnsüchte, Ängste und Hoffnungen.