
Patric Sandri
Familie / Transgender
Jetzt bin ich Nancy
Von Anita Zulauf
Dies sind die Geschichten von Claire und Nancy. Diese Namen sind frei erfunden. Auch wo sie leben, wird hier nicht verraten. Denn Nancy, 15, und Claire, 8, sind trans Kinder. Es ist so schon schwierig genug.
Claire
Es ist ein kühler Morgen. Kühe grasen auf den Weiden, der Bauer auf dem vorbeiratternden Traktor hat den Hut ins Gesicht gezogen. Vom Mist auf dem Anhänger steigen dampfende Schwaden auf. Eine volle Ladung Landidylle. Einen Gemischtwarenladen gibt es noch, in dem 800-Seelendorf. Auch eine kleine Molkerei. Am Stammtisch im «Rössli» wird hemdsärmlig bürgerlich diskutiert und gewählt.
Das Haus von Claires Familie steht mitten drin, in diesem Dorf. Katzen schleichen ums Haus. «Für uns ist es nicht schwierig. Schwierig ist es für die Menschen hier, die damit nicht klar kommen, dass unser Mädchen ein trans Kind ist», sagt der Vater. Claire wurde nach der Geburt das Geschlecht eines Jungen zugewiesen. Die äusseren Geschlechtsmerkmale waren eindeutig männlich. Es gab keinen Zweifel. «Claire entwickelte sich gut, war ein fixes Kind», sagt die Mutter. Mit zwei Jahren kannte sie alle Buchstaben. Mit Drei konnte sie Wörter lesen. «Sie ist sehr sprachbegabt, konnte früh ihre Bedürfnisse verbal mitteilen.» Als sie mit drei Jahren in die Spielgruppe kam, fing sie an, in Mädchenrollen zu schlüpfen. Sie spielte Laura*, war Sophie oder Pia und so wollte sie auch genannt werden. «Sie wurde fuchsteufelswild, wenn man das nicht respektierte und sie bei ihrem Jungennamen nannte», sagt der Vater.
Für die Eltern war es ein Rollenspiel. Doch für Claire ist es längst kein Spiel mehr. «Irgendwann wurde uns klar, dass sie es ernst meint», so die Mutter. Und irgendwann sagt sie zu dem Kind, «jeden Tag einen anderen Namen, das finde ich blöd. Ich nenn dich jetzt einfach Claire.»
Jungenkleider verweigerte Claire schon lange. Sie lief in die Mädchenabteilungen, bestaunte die hübschen Röckchen, die Mädchen- T-Shirts. Die Eltern kauften neutrale Sachen. Weder in Pink noch mit Superman. Und sie haben sich informiert, im Internet, in entsprechender Literatur. Über trans. Trans Kinder. «Dass es trans Menschen gibt, das war uns längst bekannt. Aber trans Kinder? Diesen Sprung hatten wir schlicht noch nie gemacht», sagt der Vater. Und jetzt? Doch diese Frage war überflüssig. Denn Claire ging ihren Weg. Als sie mit dreieinhalb Jahren sagte, «ich fühle mich falsch, ich möchte nicht mehr leben», als sie sich selbstgefährdend benahm, einfach auf die Strasse rannte, ohne auf den Verkehr zu achten, als sie sagte, sie wolle sich ihren Penis abschneiden, «da wussten wir, wir haben gar keine Wahl, keine Alternativen. Das ist kein Spleen, keine Phase, das geht nicht vorbei.»
Es war auf dieser Ferieninsel, in den Herbstferien, als Claire erstmals Röcke tragen durfte. Sie war vier. Einheimische, die sie einfach nur als Mädchen wahrnahmen, sagten: «Was für eine hübsche Prinzessin du bist.» Claire strahlte, war glücklich. Wie noch nie. Zwar ging Claire schon seit dem Sommer in den Kindergarten, offiziell mit ihrem Jungennamen. Doch nach diesen Ferien wurde dort ihre weibliche Identität akzeptiert. Ausschlaggebend war die Psychologin vom Schulpsychologischen Dienst, die an einer Sitzung mit den Schulverantwortlichen und den Eltern sagte: «Lasst dieses Kind Mädchen sein.» Die Lehrer nennen sie seither Claire. Sie sagen «sie» und nicht «er». Claire darf auf die Mädchentoilette, in die Mädchenumkleide. Claires Eltern informierten mit einem Brief die Eltern der Mitschüler. Sie erklären darin, warum es ist, wie es ist. Sie bieten sich an für Gespräche.
Die Schule hat geholfen
Reaktion: Die Leute grüssen nicht mehr, wenden sich ab, wenn sie Claires Eltern sehen. «Wir sind stigmatisiert», sagt die Mutter. Die Nachbarin sagt: «Er kann schon spielen kommen, aber bei mir ist er ein Bub.»
Im Gegensatz zu den Erwachsenen ist für die Kinder Claires Transidentität kein Problem. Sie akzeptieren sie, wie sie ist. Als Claire im Schwimmunterricht die Mädchengarderobe benützen will, formiert sich ein regelrechter Mob. Die Eltern von Mitschülerinnen sammeln Unterschriften, unterstellen Claire, dass sie ihre Transidentität lediglich vortäusche, damit sie nackte Mädchen angucken könne. «Es ist unglaublich. Ein Kind wird von den Erwachsenen sexualisiert. Dabei hat Transsein überhaupt nichts mit Sexualität zu tun», so der Vater. Die Schule hat sich hinter Claire gestellt.
Einige Bekannte und Freunde der Familie haben sich zurückgezogen. «Bei uns könnte der Junge so was nicht durchziehen, ihr macht ja alles mit», war der Tenor. «Die wirklich guten Freunde, die haben wir noch. Einfach ausserhalb.» Und die Verwandten der Familie haben es auch akzeptiert. «Klar stellt man sich Fragen. Doch wir haben einfach nur gelebt, wir haben es einfach genommen, wie es ist. Das Leben. Und Claire.»
Sie haben den Jungen ins Weltall entlassen, haben ein Playmobilmännchen an Ballone gebunden und fliegen lassen. «Wir haben gesagt, vielleicht findet er ein Raumschiff, oder einen Planeten, auf dem er glücklich ist. Und vielleicht kommt er wieder zurück.» Damit war Claire einverstanden. «Wir lassen ihre Zukunft offen. Wir werden ihr Mut machen, ihren Weg zu gehen und ihr dabei folgen. Und wenn sie sich für eine Umkehr entscheidet, wir sind da. Es liegt in ihrer Hand. Es ist ihr Leben.»
Nancy
Auch bei Nancys Geburt war alles klar. Eindeutige männliche Geschlechtsmerkmale. Ein Bub. Nancy fand aber immer Mädchensachen gut, pink, Glitzerfeen, hübsche Kleidchen. An die Fasnacht ging sie als Prinzessin. «Nein, ich fand das nicht merkwürdig, warum auch?», sagt die Mutter. «Mein Mann und ich sind frei von Geschlechterdruck, wir denken, dass Männer auch ihre weiblichen Seiten leben sollen und dürfen und umgekehrt. Vielleicht auch darum wäre ich niemals auf den Gedanken gekommen, dass Nancy ein trans Kind ist.»
Nancy lebt mit ihrer Mutter in einem grösseren Dorf, in einem alten, stilvoll eingerichteten Haus. Der Vater wohnt schon länger nicht mehr hier. «Aber das ist eine andere Geschichte, hat mit der hier nichts zu tun», sagt die Mutter. «Nancy war immer schon ein sehr stilles, ruhiges Kind, überhaupt nicht laut und aufmüpfig. Wäre sie lauter gewesen, hätten wir vielleicht eher gemerkt, dass Nancy trans ist.» So hat es lange Zeit gedauert, «zu lange», sagt die Mutter.
Der Vater ist ein Fussballer, ein Grillmeister. Ein «richtiger» Mann. Zu seinem Kind kann er keine enge Beziehung aufbauen. Es fehlen Gemeinsamkeiten, Berührungspunkte. Fussball, raufen, Männergespräche, das alles findet Nancy überhaupt nicht toll. Der Vater akzeptierts. Nancy fühlt sich trotzdem unverstanden.
Ihr ganzes Kinderleben lang hat sie nur eine Freundin, ein Mädchen aus der Spielgruppe. Mit ihr taucht sie ab, verschwindet in Fantasiewelten, dort sind sie Prinzessinnen, Feen, Kriegerinnen. Das ist ihre Welt. Die Jungs in der Schule lachen über Nancy: «Du bist gar kein richtiger Junge, du bist wie ein Mädchen.» Die Mädchen gehen ihr aus dem Weg. Über Jahre wird sie gemobbt. Irgendwann erzählt Nancy keinem mehr von den Demütigungen. Die Mutter sagt: «Ich wusste nicht, wie unglücklich sie ist. Daheim war sie ein zufriedenes Kind, kreativ, in sich ruhend.» Und sie sagt, dass «es schon sehr schwer ist, zu merken, wie hilflos und unfähig man als Eltern manchmal ist. Hätte ich besser hören können, wäre Nancy wohl viel Leid erspart geblieben.»
Die 15-jährige Nancy kommt ins Wohnzimmer. Sie will erst mal zuhören. Dann setzt sie sich an den Tisch, ihre Hände sind fahrig, als sie zu reden beginnt: «Ich habe meinen Eltern schon früh immer wieder gesagt, dass ich mich als Mädchen fühle. Das ist eine Phase, sagten sie. Bei mir nicht, antwortete ich. Doch keiner hat zugehört. Ich war ziemlich einsam und allein. Aufgehört hat das nie, dieses Gefühl. Bis heute nicht.»
Als Nancy zwölfeinhalb Jahre alt ist, schaut die Mutter im Fernsehen eine Doku über trans Menschen. Sie erzählt Nancy davon, einfach so, weil sie über vieles diskutieren. Nancy sagt: «Genau das bin ich auch.» Da ist kein Lächeln, kein Schalk im Gesicht. Die Mutter weiss sofort, es ist so. «Es war, als würde ein schreckliches Gewitter über mich einbrechen. Es war ein Schock. Ich hatte wahnsinnige Angst, sah Bilder vor mir, von Erwachsenen, denen man ansieht, dass sie trans Menschen sind. Ich hatte Angst davor, dass mein Kind auch so sein wird, dass es ein Leben lang leiden wird.»
Geschlechtslos hängen gelassen
«Ich war so erleichtert, als Mama es mir endlich glaubte», erzählt Nancy. Endlich ist sie nicht mehr allein. Doch die Zeit drängt. Nancy ist schon im Stimmbruch. Der Vater kann nicht helfen. Er stemmt sich zwar nicht dagegen, aber es ist ihm zu viel. Die Mutter und Nancy informieren sich. Nach Gesprächen mit Psychologen und Psychiatern bekommt Nancy Pubertätsblocker, um die männliche Entwicklung zu stoppen (s. Box). Und das Outing in der Schule wird vorbereitet.
«Das war so schrecklich», erzählt Nancy. Sie muss es den Schülern selber sagen, vor versammelter Klasse nach vorne stehen. Allein. Das war eine Bedingung der Schulleitung, sonst wäre sie von der Schule nicht als Mädchen akzeptiert worden. «Ich hätte erwartet, dass die Erwachsenen mich bei diesem Outing unterstützen. Doch sie haben mich wieder allein gelassen.» Nancy wollte das Outing. «Wegen dem Namen. Und weil ich ich bin.» Die Mädchen finden es ganz okay, gratulieren ihr sogar dazu. Doch die Jungs sagen: «Du bist doch gar kein Mädchen.» Sie lachen sich schief. Hören nicht auf. Irgendwann wechselt Nancy die Schule.
Mit knapp vierzehneinhalb Jahren nimmt sie erstmals weibliche Hormone. Erst wollte man sie ihr verweigern. «Ich musste der Psychiaterin immer und immer wieder alles erzählen, mein ganzes Ich auf den Tisch legen. Und dann wollten sie mir die Hormone trotzdem nicht geben. » Nancy tobte wie verrückt, zum ersten Mal in ihrem Leben. «Ich kam mir vor wie ein Fake, ich wurde in einer Zwischenwelt geschlechtslos hängen gelassen, war diesen Fachleuten total ausgeliefert. Das machte mich fast wahnsinnig. Denn ich wusste, ich brauche diese Hormone, unbedingt.» Die Mutter sagt: «Es war unglaublich. Die Fachleute zögerten, weil sie Angst vor der Verantwortung hatten. Hätten wir die Rechtslage besser gekannt und mehr Informationen gehabt, hätten wir uns vieles ersparen können.» Denn Verantwortung über den eigenen Körper hat, laut Gesetz, in erster Linie der Mensch selber. Also Nancy in diesem Fall (s. Box). «Wir erfuhren dann, eher per Zufall, dass wir nur einen Endokrinologen finden mussten, der bereit war, mit der Behandlungen zu beginnen», sagt die Mutter. Das taten sie. Und dann geht alles sehr schnell. Nancy bekommt Hormone.
Die Leute im Dorf wissen Bescheid über Nancy. Negative Reaktionen hat die Familie nie erlebt. Im Gegenteil. «Die Nachbarn interessieren sich, die Leute fragen nach, ob es Nancy gut geht, sind sehr freundlich», so die Mutter. Doch die Verwandten kommen damit überhaupt nicht klar. «Sie klagen, wie schwer das für sie sei, wie schlecht es ihnen wegen Nancy gehe. Sie lassen uns total hängen.»
Entwürdigender Weg
Nancy sagt, sie habe keine Bilder, wenn sie an ihre Zukunft denke. Aber eines ist klar: «Ich werde mich operieren lassen, so bald wie möglich.» Über das «Leben danach» nachzudenken, dafür hat Nancy keine Kraft. «Ich muss erst mal meine Vergangenheit abschliessen.» Das tut sie, indem sie eine Geschichte schreibt und illustriert. Diese Geschichte will sie veröffentlichen. Die Protagonisten bleiben geheim, hier, in dieser Geschichte.
«Ich denke oft darüber nach, was war. Ich bin traurig, wütend und werde es wohl auch immer sein. Dass ich nicht schon vorher sein konnte wer ich bin», sagt sie. «Ich kann es noch immer nicht fassen, dass ich hätte beweisen sollen, dass ich mich nicht eines Tages wieder umentscheide. Als ob es eine Entscheidung wäre, als ob ich eine Wahl hätte.» Sogenannte Fachleute, sagt sie, die selber nicht trans seien, könnten nicht wissen, wie entwürdigend dieser offizielle Weg sei. «Sie können sich nicht vorstellen, wie schlimm es ist, wenn einem die Entscheidungsgewalt über seinen eigenen Körper verwehrt wird. Ich wurde zerrissen. Doch jetzt bin ich Nancy. Für immer.»
Eine Variante
Trans Mädchen sind Kinder, die mit einem biologisch männlichen Körper geboren wurden, deren Geschlechtsidentität jedoch weiblich ist. Trans Jungen sind Kinder, die mit einem biologisch weiblichen Körper geboren wurden, deren Geschlechtsidentität jedoch männlich ist. Transsein ist keine Störung oder Krankheit. Es ist lediglich eine Variante wie rote Haare oder verschiedenfarbige Augen. «Heute melden sich mehr Eltern bei uns und informieren sich, holen sich Tipps, sind bemüht, dass es dem Kind gut geht. Das ist sehr gut, weil so viel Leid erspart werden kann», sagt Hannes Rudolph, Leiter der Zürcher Fachstelle für Transmenschen und Gründungsmitglied von Transgender Network Switzerland TGNS. Laut Schätzungen von TGNS gibt es in der Schweiz 500 bis 2000 Transkinder unter 18 Jahren.
Trans sein dürfen
Trans Kinder haben das Recht, so zu leben, wie es ihrer Geschlechtsidentität entspricht. Trans Mädchen dürfen beispielsweise Röcke tragen, sich einen Mädchennamen aussuchen, die Mädchenumkleide benutzen. Trans Jungen dürfen die Knabentoilette benutzen, einen männlichen Namen wählen, etc. Schulen dürfen trans Kinder nicht vom Unterricht ausschliessen. Lehrer müssen den gewählten Namen des trans Kindes akzeptieren. Zeugnisse und Klassenlisten dürfen auf den neuen Namen ausgestellt werden. Pubertätsblocker sollten spätestens sechs Monate nach Pubertätsbeginn verabreicht werden. Nach Ansicht von Fachleuten ist der Pubertätsstopp für trans Kinder ausserordentlich wichtig, damit wertvolle Bedenkzeit gewonnen werden kann. Der Leidensdruck wird gelindert, weil weder Brüste noch Barthaare zu wachsen beginnen. Der Stopp der Pubertät ist vollkommen reversibel. Hormone und Operationen sind allein die Entscheidung des Jugendlichen. Wenn er oder sie gut informiert ist, die Diagnose trans gestellt ist, die Person die Folgen der Angleichung verstanden hat und urteilsfähig ist, braucht es keine Einwilligung der Eltern.
Nützliche Infos und Beratungsstellen unter: www.transgender-network.ch und www.trans-kinder-netz.de