Klimawandel
Ist ein Kinderwunsch verantwortungslos fürs Klima?
Menschen mit Kindern oder Kinderwunsch müssen sich immer häufiger rechtfertigen. Denn Kinder sind CO2-Schleudern. Soll man deshalb auf sie verzichten?
Wie süss das Baby auf den Armen liegt: klein und knuddelig, zart und zerbrechlich. Keiner käme auf die Idee, in diesem unschuldigen Wesen einen künftigen Klimakiller zu sehen. Genau diese Botschaft aber verkündet die Gebärstreik- Bewegung, die in den letzten Monaten Fahrt aufgenommen hat.
Aus Klimaschutzgründen sei es für alle besser, keinen Nachwuchs zu zeugen. Wir schlucken leer. Und hören hin. Müssen Eltern sich neuerdings schämen, Kinder zu haben? Und weitere zu gebären? Wer sind die Apologeten der Fortpflanzungsverweigerung? Und was ist dran an ihrer Forderung?
Anfang 2019 gründete die britische Musikerin Blythe Pepino die «Birth Strike»-Bewegung – ein Zusammenschluss von Gebärstreikenden. Angesichts steigender Meeresspiegel und schmelzendem Permafrost sorgt sich die 34-Jährige zutiefst um die Erde: Dürren, Wassermangel und Hunger würden zu Gewalt und Krieg führen. In ein solch düsteres Zukunftsszenario möchte sie kein Kind gebären: «Ich fühle mich für mich und ein Kind zu wenig sicher auf dieser Welt», erklärt Blythe Pepino eindringlich auf Youtube.
Kinderscham statt Fleisch- und Flugscham?
Mittlerweile haben sich ihr zahlreiche Frauen – und vereinzelt Männer – angeschlossen. Mitglieder der kanadischen Gruppierung «Conceivable Future» diskutieren an sogenannten House-Parties darüber, welchen Schaden eine kaputte Welt potenziellen Kindern zufügen würde – aber auch, welches Übel ein Kind als Klimaschädling der Umwelt im Laufe seines Lebens anrichten wird. Auch sie sehen von eigenen Kindern ab. Die Verweigerung von menschlicher Reproduktion soll so lange anhalten, bis das Klima gerettet ist.
Als aktuelle Steilvorlage für die Vertreterinnen der «Birth Strikers» dient eine Studie der schwedischen Universität Lund. Diese untersuchte 2017 jene Lifestyle-Massnahmen, die den CO2-Fussabdruck am effizientesten reduzieren könnten (siehe Grafik unten). Während Recycling, vegane Ernährung, ein autofreies Leben und der Verzicht auf Flugreisen als nette, aber letztlich klägliche Versuche dargestellt werden, um die Klimakatastrophe abzuwenden, überragt die Säule «Ein Kind weniger» alle anderen Einflüsse um ein Vielfaches. In den Industrienationen wird laut Lund-Studie für jedes geborene Kind fast 60 Tonnen CO2-Ausstoss jährlich berechnet. Seither wird diese Zahl durch die Medien gereicht und von den Gebärstreik- Bewegten dankbar aufgenommen.
Jung, grün und tief beseelt
Tatsächlich sind es gescheite und reflektierte Frauen, die sich in den sozialen Medien zu ihrem Kinderverzicht äussern. Die meisten, die öffentlich das Versprechen abgeben, kinderlos zu bleiben, sind jung, grün und tief beseelt von ihrem Anliegen. Viele von ihnen bedauern, voraussichtlich nie ein eigenes Baby in den Armen halten zu können. Eine, die schon zwei Kinder hat, aber der Umwelt zuliebe auf ein drittes verzichten möchte, ist Irina (29).
An einem Spätwintermorgen sitzen wir bei ihr zu Hause am Stubentisch. Während die 6-jährige Tochter im Kindergarten weilt, wuselt der 4-jährige Sohn putzmunter übers Parkett. Irina lebt mit ihren Kindern, getrennt von ihrem Mann, in einer Altbauwohnung in Luzern. Die Holzböden fallen schief ab, an den Wänden hängen grossflächige Bilder, überall stehen ästhetisch komponierte Hingucker:
«Die meisten Möbel habe ich aus dem Brockenhaus oder von meinen Grosseltern», sagt Irina lachend auf die bewundernden Blicke hin. Die grossgewachsene Frau mit dem zartrosa Turban auf dem Kopf lebt nach dem Zero-Waste- Prinzip: Konsum- und Abfallvermeidung stehen ganz oben auf der Liste. Was andere nicht mehr brauchen, daraus gestaltet die gelernte Innendekorateurin Neues. Die junge Mutter lebt vegan, fährt nicht Auto, fliegt selten.
Kein weiteres Kind, der Umwelt zuliebe
Das grösste Geschenk aber, das Irina der Umwelt machen möchte, ist es, von einem dritten Kind abzusehen. «Ich finde es klimatechnisch nicht okay, weitere Kinder in die Welt zu setzen», sagt sie. Obwohl sie eigentlich am liebsten eine ganze Fussballmannschaft von Kindern aufziehen würde. Dass sie ein «Muttertier» ist, findet offensichtlich auch ihr Kleiner: Zwischen Legospiel und Dattelnknabbern schmiegt er sich immer wieder an seine Mama.
Irinas Entscheid, keine weiteren Kinder zu bekommen, hat nichts mit «Regretting Motherhood» zu tun: Sie bereut es keineswegs, Kinder zu haben. «Jeder, der Kinder hat, liebt sie und würde sie nicht wieder hergeben!» Manchmal versuchen Wildfremde Irina aufs Glatteis zu führen, wenn sie von ihrem Entscheid erzählt, der Umwelt zuliebe keine weiteren Kinder gebären zu wollen. Sie unterstellen ihr dann, sie hätte ihre beiden geborenen Kinder wohl ebenfalls nicht gewollt. Das empört Irina.
Die «Birth Strike»-Bewegung
Schuldgefühle ihren Kindern gegenüber kennt sie hingegen gut: «Ich habe ab und zu schon ein schlechtes Gewissen, weil ich sie in eine Welt geboren habe, die den Bach runter geht.» Viele Gebärstreikende wollen ihrem Nachwuchs das Leid ersparen, auf einem zerstörten Planeten zu leben. So äusserte sich die Sängerin und Schauspielerin Miley Cyrus (27) in einem Interview mit der Zeitschrift «Elle» unmissverständlich zum Thema Kinderwunsch: «Wir bekommen ein Stück Dreck als Planeten überreicht und ich weigere mich, diesen an Kinder weiterzureichen. »
Den Teppich ausgerollt für die «Birth Strike »-Bewegung hatte schon vor vielen Jahren die philosophische Schule der Antinatalisten: Für diese Geburtsgegner ist das Leben an sich ein Jammertal, in das man gar nie hätte hineingeboren werden dürfen. Auch aus Sicht des Philosophen und modernen Anhängers der Antinatalisten, David Benatar, ist es moralisch verwerflich, einem noch nicht geborenen Lebewesen das ganze Ausmass an Leid zuzufügen, dem es im Laufe seines Lebens begegnen würde.
Die Fertilitätsrate nimmt ab
Der einzige Weg, den Planeten – auch ökologisch – zu retten, sei das freiwillige Aussterben von Menschen. Auch die Gebärstreikerinnen laufen Gefahr, implizit die Botschaft zu senden, dass es gut wäre, wenn wir alle nicht existieren würden. Die Kinderscham-Message ist düster. Den Vertreterinnen ist zwar hoch anzurechnen, dass sie sich oft unermüdlich für die Umwelt stark machen. Doch sie bewegen sich vornehmlich in einer Blase von ihresgleichen: Die Gruppierungen werden getragen von meist jungen, gut ausgebildeten, meist noch kinderlosen Frauen und Männern.
Der mittlerweile verstorbene schwedische Mediziner und Statistiker, Hans Rosling, plädiert in seinem posthum erschienenen Bestseller «Factfullness » hingegen dafür, sich nicht von düsteren Szenarien lähmen zu lassen. Die Vorstellung, die Welt würde unter der Last von zu vielen Menschen kollabieren, widerlegte er mit umfangreicher Forschung. So belegt der Wissenschaftler, dass die weltweite Fertilitätsrate nicht zu-, sondern abgenommen hat: Während 1963 die Frauen im Durchschnitt 5 Kinder zur Welt brachten, waren es 2016 noch 2,41. Zwar zeige die Bevölkerungskurve auf dem afrikanischen Kontinent noch immer nach oben, flache aber auch dort stark ab. Grund dafür: der Zugang zu Bildung und Familienplanung.
Klimaethiker übt Kritik an Studie
Auch die oben erwähnte Lund-Studie sollte nicht einfach kritiklos übernommen werden. Der Klimaethiker Dominic Roser etwa (zum Interview) steht dem imposanten Studienresultat skeptisch gegenüber: «Die Lund-Studie rechnet den Eltern nicht nur die Emissionen im Kindesalter an, sondern die Emissionen über das ganze Leben des Kindes – und darüber hinaus alle Emissionen von deren Kindern und Kindeskindern.»
Die Studie gehe von enorm pessimistischen Annahmen aus, bemängelt Dominic Roser: «Würden die Pro-Kopf-Emissionen im 21. Jahrhundert deutlich sinken, wäre die negative Klimawirkung eines Kindes um ein Vielfaches kleiner.» Warum der schwedischen Studie zudem ausgerechnet der Ressourcen verschleissende Lebensstil der USA, Russlands und Japans zugrunde gelegt wurde, erschliesst sich dem Klimaethiker ebenfalls nicht.
Der Lebensstil ist entscheidend
Klimaforscher rund um den Globus sind sich zwar einig: Um nicht auf einen verheerenden Kollaps zuzusteuern, muss das Klimaproblem in den nächsten zwei Jahrzehnten gelöst werden. Die meisten Umweltwissenschaftler gestehen sich auch ein, dass der Ressourcen- Verbrauch – auch jener unserer Kinder – in unseren Breitengraden desaströs hoch ist.
Das Klimaproblem aber über die Kinderfrage lösen zu wollen, greife zu kurz. Viel entscheidender als die nicht geborenen Kinder ist für die Umwelt der Lebensstil. Nicht nur, was wir unseren Kleinen hinterlassen, sondern auch, was wir ihnen an Handlungskompetenz mitgeben, ist prägend für deren Zukunft. Wer weiss – diese Kinder könnten die nächsten Gretas sein.
Auch für Irina steht die eigene Lebensweise und die Erziehung weit oben auf der ökologischen Prioritätenliste. Dabei mag sie es keineswegs verbissen und humorlos: Ihre Kinder dürfen im Restaurant auch einmal Chicken-Nuggets bestellen, wenn ihnen danach ist. Trotzdem ist es ihr wichtig, den Kindern einen gesunden Umgang mit Konsum und Abfall zu vermitteln: Sie verwendet Glas- statt Plastikflaschen, das Spielzeug ist aus Holz oder aus dem Secondhandladen und beim Ausflug in den Wald nimmt Irina stets ein Säcklein mit, in dem sie achtlos weggeworfenen Müll einsammelt.
Zudem müsse, wer Fleisch isst, wissen, woher es stammt: «Fleisch essen sollen jene, die fähig sind, ein Tier zu töten, auszunehmen und zuzubereiten. Die Drecksarbeit den anderen zu überlassen, finde ich nicht richtig.» Für sich selber lebt Irina so konsequent als möglich. Für das laufende Jahr hat sie sich einen Fashion-Boykott auferlegt – bei Bedarf schneidert sie sich aus alten Röcken die neuen Kleidungsstücke einfach selbst.
«Ökologisch perfekt ist nicht das Ziel»
Wie aber denkt Irina über ihr Umfeld, das vielleicht nicht in derselben Konsequenz lebt wie sie? Über Freundinnen, die sich keinem Gebärstreik anschliessen wollen, gar ein drittes oder viertes Kind bekommen? «Ich erwarte, dass meine Entscheidung respektiert wird – also achte ich auch die Entscheidung der anderen.» Mit Ansinnen, die ökoterroristische Züge tragen, kann die Mutter nichts anfangen. Sie plädiert für Toleranz: «Wir brauchen nicht 100 Menschen, die perfekt ökologisch leben – wir brauchen 1 Milliarde Menschen, die es nicht perfekt machen. »
Irina wird bald von ihrer Altbauwohnung in ein Tiny-House ziehen. Dafür sortiert sie schon einmal Kleider aus. In einer der Kisten im Spielzimmer liegen gestreifte Babymützchen, seidenweiche Schlüttchen und klitzekleine Turnschuhe. Auf die Frage hin, ob die Schachtel nun ins Brockenhaus wandert, zögert Irina. «Vielleicht reissen wir Menschen uns ja am Riemen und wir schaffen die Wende zu einer besseren Welt doch noch – ich hoffe es so sehr!» Für diesen Fall, überlegt Irina laut und verblüffend ehrlich, möchte sie die Kiste mit den Säuglingskleidern doch noch mitzügeln in ihr neues Zuhause.