Monatsgespräch
«Informatik macht Spass und schult das Denken»
wir eltern: Herr Hromkovič, warum sollen Kinder programmieren lernen?
Juraj Hromkovič: Informatikkenntnisse gehören heute zur Allgemeinbildung. Wir leben in einer digitalen Welt, Informatik durchbringt unser ganzes Leben. Es gibt kaum noch Tätigkeiten, die wir ohne die Unterstützung elektronischer Geräte ausführen. Es ist unlogisch, dass wir unseren Kindern das Grundlagenwissen, wie diese Maschinen funktionieren und wie sie zu steuern sind, nicht vermitteln.
Zumindest an den Mittelschulen wird heute doch Informatik unterrichtet ...
Schön wärs. Was heute an den meisten Schule unter dem Titel Informatik unterrichtet wird, sind reine Anwenderkenntnisse für gewisse Microsoft-Programme. Die Jugendlichen lernen Programme zu bedienen. Ein oberflächliches Wissen, das bereits nach wenigen Jahren nichts mehr Wert ist und an einem Gymnasium nichts zu suchen hat. Da haben es sich die Schweizer Bildungspolitiker schlicht zu einfach gemacht.
Das müssen Sie genauer erklären
In dern 90er-Jahren haben einige grosse Informatikfirmen beschlossen. die Schulen bei der Einführung des Informatikunterrichts zu unterstützen. Natürlich in erster Linie mit dem Ziel, den Absatz gewisser Produkte anzukurbeln. Die Bildungsverantwortlichen nahmen diese Unterstützung dankbar an und merkten nicht, dass sie damit einen grossen Fehler machten. Die Kinder lernen jetzt nicht programmieren, sondern Software wie «Word» oder «Excel» zu bedienen. Das demotiviert sie nicht nur, sondern ist auch ein Eigentor für die Informatikindustrie. Man weiss, dass der Mangel an ausgebildeten Informatikern hauptsächlich auf das schlechte Image zurückzuführen ist, das die informatik an den Schulen hat.
Sie kritisieren die Schweiz. Machen es denn andere Länder besser?
Ja. Ich bin zum Beispiel in der ehemaligen Tschechoslowakei aufgewachsen. Dort habe ich am Gymnasium vier Jahre lang guten Informatikunterricht genossen. Heute ist er in der Slowakei bereits ab der 1. Klasse obligatorisch, und in vielen anderen osteuropäischen Ländern und Russland ist die Informatik den übrigen Naturwissenschaften gleichgestellt. Auch in den USA, Frankreich und Deutschland bewegt sich einiges. Es ist also höchste Zeit, wenn die Schweiz den Anschluss nicht ganz verpassen will.
Warum tun wir uns Ihrer Meinung nach denn so schwer? Sie sagten anderweitig, dass das Schweizer Schulsystem der Realität 20 Jahre hinterherhinke.
Ich möchte das nicht verallgemeinern. Das Schweizer Schulsystem ist eines der besten der Welt. Was aber die Informatik und die Frauenförderung in den naturwissenschaftlichen Fächern betrifft, sind wir tatsächlich 20 Jahre im Rückstand. Als ich an der Universität in Bratislava Mathematik studiert habe, waren wir gleich viele männliche wie weibliche Studenten. Das ist für Sie wahrscheinlich unvorstellbar …
Allerdings. Ich war das typische Mädchen: gut in den sprachlichen Fächern, eine Katastrophe in Mathematik und Physik.
Sehen Sie, das ist doch ein Jammer! Dabei weiss man heute, dass Mädchen in diesen Fächern keineswegs schlechter sein müssen. Sie brauchen einfach einen anderen Unterricht. Wenn man Physik- und Mathematikunterricht systematisch aufbaut, Erklärungen in kleine Schritte zerlegt und immer wieder Zeit für die Überprüfung und Festigung des Gelernten einräumt, haben Mädchen Erfolg. Tatsache ist aber, dass gerade in diesen Fächern oft Aufgaben gestellt werden, hinter denen sich komplexe Lösungsschritte verstecken, die nur durch Improvisieren oder Experimentieren zu lösen sind. Da sind Jungs einfach risikobereiter und selbstbewusster.
Juraj Hromkovič
Viele Experten beklagen, der heutige Unterricht sei zu sehr auf die Mädchen ausgerichtet; lassen wir doch den Buben den Vorsprung in der Mathe …
Auch die Jungs lernen mehr, wenn der Unterricht besser ist. Lassen Sie mich eine kleine Geschichte erzählen: Ich habe vor einigen Jahren in Nord-Rhein-Westfalen einen Schulversuch durchgeführt. Wir haben zwei Jahre lang 5. und 6. Klässler in Mathematik und Englisch in der eben beschriebenen Art unterrichtet. Acht Klassen mit je 25 bis 30 Schülerinnen und Schüler. Alles, was wir anders gemacht haben, war, den Unterricht systematisch aufzubauen, alles schriftlich abzugeben, damit die Kinder das Gehörte zu Hause selbstständig und im eigenen Tempo nachvollziehen konnten. Zudem haben wir dafür gesorgt, dass konsequent kontrolliert wurde, ob alle alles verstanden haben. Zu den gelösten Aufgaben gab es individuelle Rückmeldungen. Der Notendurchschnitt in beiden Fächern war schnell überdurchschnittlich gut und damit wurde die Sache zum Selbstläufer. Sobald die Kinder die ersten guten Prüfungen in der Hand hatten, waren sie so motiviert, dass sie nicht mehr zu halten waren. Jahre später wurde im selben Bundesland eine Erhebung über die Mathematikkenntnisse der Schüler und Schülerinnen aller Gymnasien gemacht. Diejenigen, die an meinem Experiment teilgenommen haben, gehörten zu den besten zwei Prozent des ganzen Bundeslandes. Das muss uns doch zu denken geben.
Allerdings. Aber wir sind von Ihrer Forderung, den Informatikunterricht an den Schweizer Schulen einzuführen, abgekommen.
Ja und nein. Ich bin seit zwölf Jahren mit demselben Unterrichtsmodell in Schweizer Schulen unterwegs. Ich unterrichte bereits in der Primarschule Informatik. Leider liessen sich bis jetzt nur Gemeinden in Bergkantonen auf das Experiment ein.
Berggemeinden?
Ja, der Kanton Zürich hält am bisherigen Konzept seines Informatikunterrichts, der nur kurzlebiges und oberflächliches Wissen vermittelt, fest. Die Stadt Zürich hätte zwar am liebsten ein eigenes Silicon Valley, aber die Bildungsdirektion hat noch nicht begriffen, dass ein Silicon Valley nur entstehen kann, wenn das nötige Know-how vorhanden ist.
Sprechen Sie von den 30 000 Informatikern, die der Schweizer Wirtschaft fehlen?
Uns fehlen diese Fachkräfte dringend und der Notstand wird noch grösser, denn sie fehlen auch im benachbarten Ausland. Aber es gibt tausend andere Gründe, warum wir heute Informatik unterrichten müssen. Mit der Informatik ist ein Wissenschaftszweig entstanden, der sehr viel neues Wissen erzeugt und gleichzeitig eng mit anderen naturwissenschaftlichen Disziplinen verwoben ist. Informatik ist heute ein unverzichtbarer Teil aller grossen Forschungsprojekte. Mal abgesehen von der Wissenschaft, schult Programmieren das algorithmische Denken, das systematische modulare Entwerfen von komplexen Systemen. Diese Fertigkeit wird in allen technischen Berufen benötigt. Und nicht zuletzt: Es macht Kindern und Jugendlichen einfach irrsinnig Spass, weil es kreativ ist und zu sichtbaren Erfolgen führt.
Der Erfolg Ihrer «Open Classes» für Kinder gibt Ihnen Recht. Weit über 100 Kinder hängen Ihnen an schulfreien Nachmittagen an den Lippen, um sich mit mathematischen Problemen auseinanderzusetzen. Haben Sie mit diesem grossen Interesse gerechnet?
Ehrlich gesagt nein, wir gingen von etwa 50 Buben und Mädchen aus. Im letzten Kurs waren es 130, und es werden immer mehr. Es ist eine Freude zu sehen, mit welcher Leichtigkeit und Begeisterung diese Kinder ihre ersten Computerprogramme schreiben. Vielleicht schaffen sie es irgendwann, die Bildungsverantwortlichen davon zu überzeugen, dass sich die Welt ausserhalb der Schulen verändert hat. Nicht nur in den Bergkantonen.
Die ETH Zürich führt regelmässig «Open Classes» für Kinder durch. An vier Mittwochnachmittagen lernen Kinder ab 10 Jahren das Programmieren. Weitere Informationen: www.abz.inf.ethz.ch