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Entwicklungsstufen
Ich will gamen!
Von Marc Bodmer
Wenn es um Bildschirmzeit und Computerspiele geht, geraten Eltern mitunter in Schnappatmung. Marc Bodmer, Spezialist für Videospiele, beruhigt und ordnet ein.
Fallbeispiel, 3 Jahre
Wenn sich die Gelegenheit bietet, greift die dreijährige Lydia nach dem Handy ihrer Mutter. Gelegentlich schauen die Eltern Fotos mit Lydia auf dem Smartphone an und fragen sich, ob sie spezielle Apps für Kleinkinder installieren sollten.
Kinder im Alter von ein bis vier Jahren brauchen keine Bildschirmmedien. Das klingt nun sehr «oldschool», hat aber keineswegs etwas mit einer konservativen Haltung zu tun. In den ersten Monaten und Jahren haben unsere Kinder so viel zu entdecken und zu lernen. Das fängt mit dem eigenen Körper und dessen Fähigkeiten an. Wie fühlt sich etwas an? Wie lange kann das Kind hüpfen, ohne hinzufallen? Der Aufbau eines sprachlichen und sozialen Vokabulars gehört natürlich auch dazu. In dieser Entwicklungsphase kann so viel erkundet, ausprobiert und gelernt werden, dass mediale Ablenkung kaum Platz im Alltag findet und keineswegs förderlich ist, wie verschiedene Anbieter von Lernsoftware für Kleinkinder suggerieren. Weit wichtiger als die bunt blinkenden «Frühförderungshilfen» ist das elterliche Vorbild und die Auseinandersetzung mit den Interessen des Kindes.
Diverse Studien haben gezeigt, dass ein Zusammenhang zwischen der Bildschirmzeit und Verzögerungen in der frühkindlichen Entwicklung besteht. In einer japanischen Langzeit-Studie (2013 – 2017), an der über 7000 Kinder teilnahmen, wurden die folgenden Fähigkeiten untersucht: Kommunikation, Grob- und Feinmotorik, Problemlösung, persönliche und soziale Fähigkeiten. Sind einjährige Kinder längerer Bildschirmzeit ausgesetzt, verlangsamt sich die Entwicklung der Kommunikation, mit zwei und vier Jahren zeigte sich eine verminderte Fähigkeit in der Problemlösung.
In eine ähnliche Richtung wiesen die Ergebnisse einer australischen Langzeitstudie (2018 – 2022), an der 220 Familien teilnahmen. Hier lag der Fokus auf der Sprachentwicklung der Kleinkinder. Gemessen wurden «erwachsene» Worte, Stimmgebung und sprachlicher Umgang. Die Untersuchungen zeigten, dass die Bildschirmzeit Gespräche zwischen Eltern und Kind behindert. Der markanteste Entwicklungsrückstand fiel bei den Dreijährigen auf.
Lutz Jäncke, Neuropsychologe
Fallbeispiel, 6 Jahre
Remo ist stolz darauf, in den Kindergarten zu gehen. Manche von seinen Gschpänli lieben es, zu Hause zu gamen, aber Remo interessiert sich nicht wirklich dafür. Seine Eltern fragen sich, ob sie den Einstieg in die Gamewelt fördern sollen.
Die Zahl der Spieler:innen wächst von Jahr zu Jahr. Aktuell wird geschätzt, dass es weltweit über 3,4 Milliarden Gamer:innen gibt, die mehrheitlich auf ihren Smartphones spielen. Oder anders gesagt: Gamer sind die Regel, nicht die Ausnahme. Doch selbst in Anbetracht dessen muss kein Einstieg in die digitalen Spielwelten aktiv gefördert werden. Gamen ist keine Pflicht, sondern eine tolle und vor allem freiwillige Beschäftigung. Entscheidend ist, dass Remo seinen Spass hat und nicht von der Gruppe ausgegrenzt wird. Das kann schnell geschehen, denn Videospiele werden meist gemeinsam gespielt. Es geht oft um Problemlösungen. Es müssen Wege gefunden werden, um ans Ziel zu kommen. Darüber kann man sich bestens unterhalten und natürlich auch von besonders «krassen» Situationen erzählen, die man im Game erlebt hat.
Wenn nun Remo eines Tages nach Hause kommt und sagt: «Ich möchte ‹Brawl Stars› spielen – alle meine Kollegen dürfen das», können seine Eltern dies nutzen, um den reflektierten Umgang mit Medien zu üben. So soll Remo erklären, warum er gerade «Brawl Stars» spielen will. Mag er das Spiel überhaupt? Oder geht es ihm vielmehr um die Gruppenzugehörigkeit? Nun ist das Gratisspiel erst ab 12 Jahren empfohlen. Warum? Zum einen ist es ein Kampfspiel, zum andern bietet es In-App-Käufe an. Ersteres erachte ich in einem sozial intakten Umfeld als weniger problematisch als die Mechanismen, die eingesetzt werden, um Gamer:innen zu Käufen zu bewegen. In den letzten Jahren hat sich das Geschäftsmodell von Computerspielen massgeblich verändert. Wurde früher ein Game zu einem Preis gekauft, sind heute selbst grosse Titel gratis erhältlich. Die Finanzierung erfolgt durch Werbung, das Sammeln von Daten bzw. deren Verkauf und Käufe im Spiel selbst. Damit das Free-to-Play-Modell funktioniert, müssen die Spielenden an das Game gebunden und im weiteren Verlauf frustriert werden: Es geht zu wenig schnell vorwärts, oder die Spielfiguren sind zu schwach. So werden die ehrgeizigen Spielenden verleitet, Geld in die Hand zu nehmen. Weiter werden Glücksspielelemente eingesetzt, die die Bindung verstärken. Letzteres ist besonders problematisch, weil Kinder so an die Gambling-Mechanismen gewöhnt werden.
Marc Bodmer, Cyberculturist
Fallbeispiel, 12 Jahre
Ralph spielt mit seinen Kollegen in den Schulpausen auf dem Handy. Seine Eltern finden das keine gute Idee. Er sollte sich besser erholen und auf den Schulstoff des Langzeitgymnasiums konzentrieren. Die Schule verbietet das Handy nicht. Ralphs Eltern finden, die Einsicht müsste von Ralph aus kommen.
Die Frage «Handys an Schulen verbieten oder den Umgang damit fördern?» treibt in den letzten Monaten die Schulen weltweit um. Gemäss dem Global Education Monit0ring der Unesco haben über 60 Länder weltweit Gesetze oder Verordnungen erlassen, die Smartphones an Schulen verbieten. Ob und wie solche Regelungen durchgesetzt werden können, wird sich zeigen. Geschieht das nicht, sind solche Massnahmen kontraproduktiv, vermitteln sie doch eine falsche Sicherheit. Tatsache ist, dass Smartphones nicht mehr aus unserem Alltag verschwinden werden. Sie haben sich derart in unser soziales Gewebe eingebunden, dass man ohne das «digitale Sackmesser» massive Einschränkungen in Kauf nehmen muss.
Games werden an Schulen meist – wie bei Ralph – gemeinsam in der Gruppe gespielt. In dieser teilen die Schüler:innen ein Erlebnis, das dem sonst verbreiteten gewohnheitsmässigen Scrollen durch die belanglosen Inhalte von sozialen Medien vorzuziehen ist.
Eine einmalige Qualität von Videospielen ist, dass sie vereinnahmend sind – auf positive, aber auch auf negative Weise. Um kurz abzuschalten und den Kopf auszulüften, eignen sie sich hervorragend. Aber: Wer in der Pause spielt, kann schlecht daneben noch etwas trinken oder essen, geschweige denn sich bewegen.
Wie Ralphs Eltern schreiben, muss er selbst zu dieser Erkenntnis kommen, um seine Gewohnheit zu ändern. Anstelle eines allgemeinen Verbots wäre ein alternierendes Modell zielführender, von dem er möglicherweise auch seine Kollegen überzeugen könnte : Einen Tag gamen, am nächsten rausgehen und Fussball spielen oder sonst etwas gemeinsam ohne Handy unternehmen.
Cyberculturist Marc Bodmer ist Jurist und setzt sich seit über 30 Jahren mit digitalen Medien auseinander. Sein Spezialgebiet sind Videospiele. Tipps für Eltern: CyberiaNewsletter → cyberia.media
• Vorbild sein! Kinder ahmen das Verhalten der Eltern nach. Wer ständig am Smartphone hängt, vermittelt, dass dies normal ist. Ein bewusster Umgang mit digitalen Gadgets zeigt den Kindern, wie Prioritäten gesetzt werden können.
• In den ersten Jahren kommt Medien noch nicht die Rolle zu, die sie später einnehmen. In dieser Phase stehen die Bewegung, das Ausprobieren und Entdecken im Vordergrund. Medien können im wahrsten Sinne des Wortes warten, denn ihre Inhalte sind stets verfügbar, während das erste Fassen nach einem Gegenstand ein einmaliges Erlebnis ist.
• Erlaubst du deinem Kind trotzdem einmal ein Spiel auf dem Handy, begleite es. Beantworte allfällige Fragen, sprecht über das Gesehene.
• Eltern sollten gemeinsam mit dem Kind einen Rahmen festlegen, wann und unter welchen Bedingungen gespielt werden darf.
• Auf der Website pegi.info können alle Games, die in der Schweiz erhältlich sind, aufgerufen und deren Altersempfehlungen geprüft werden. Darüber hinaus informieren Piktogramme über die Inhalte. Wer keinen Bezug zu Videospielen hat, tut gut daran, sich an die Altersempfehlungen zu halten.
• Von Gratisspielen ist abzuraten. Viele Free-to-Play-Spiele nutzen Glücksspielmechanismen, die besonders für Kinder problematisch sind und Abhängigkeiten fördern können. AbonnementModelle wie Apple Arcade bieten werbefreie Spiele ohne Datenverkauf und In-App-Käufe – eine sichere und transparente Option.
• «Der digitalen Verlockungen zu widerstehen, braucht Disziplin», sagt der Neuropsychologe Lutz Jäncke. Das ist besonders in Jugendjahren sehr schwierig, befindet sich doch das Hirn im Umbau und die Region der rationalen Entscheidungen ist noch nicht ausgereift. Darum brauchen Kinder unsere Unterstützung. Und die fängt mit simplen Dingen an wie keine Handys am Esstisch. Und das gilt für alle.
• Die Digitalisierung hat es mit sich gebracht, dass wir Warten und Langeweile nicht mehr aushalten. Das trifft nicht nur auf unsere Kinder zu, sondern vermehrt auch auf uns Eltern. Blitzkuriere liefern bestellte Waren noch am gleichen Tag, Episoden von TV-Serien können an einem Wochenende durchgehechelt werden, und Computerspiele liefern seit jeher sofortiges Feedback auf jede Handlung im Game.