Narzissmus
ich ich ich
Die übertriebene Selbstliebe grassiert, und Eltern tragen einiges dazu bei.
Wehe der Mutter, die nicht auch für den lahmsten sackhüpfenden Kindergeburtstagsgast einen Preis hat. Gnade der Kinderskischule, die nach dem Rennen lediglich an die besten drei Medaillen verteilt. Und die Primarlehrerin, die es wagt, unter ein Diktat «Eine schlechte Leistung» zu schreiben, kann sich schon mal auf was gefasst machen. Gute Güte, da könnte sich ja jemand als Verlierer fühlen! Gefahr laufen, die eigenen Fähigkeiten für begrenzt zu halten. Geht gar nicht. Unumstösslich gilt das pädagogische Mantra: «Das Selbstwertgefühl der Kinder muss gestärkt werden.» Um jeden Preis.
Nur – warum?
Tatsächlich mag es bis in die 70er-Jahre hinein bitter notwendig gewesen sein, durch autoritäre Erziehung, Schwarze Pädagogik und drakonische Strafen verschüchterte Kinder zu ermuntern, an sich selbst zu glauben.
Doch inzwischen schlägt das Pendel mit Schwung in die andere Richtung aus. Die Zahl der Narzissten, der anormal Ich-Bezogenen, hat sich in den vergangen 10 Jahren verdoppelt. In Amerika etwa findet jeder dritte junge Erwachsene vor allem einen Menschen toll: sich selbst.
Wissenschaftler rufen die «Narcissism Epidemic» aus, der Schweizer Psychiater Gerhard Dammann bezeichnet die auch hierzulande ausufernde Selbstliebe als «Leitneurose der Gegenwart» und neben gedruckten Ego-Boostern wie «Ich bin stark» und «Die 50 besten Spiele für mehr Selbstvertrauen » für Kinder im Vorschulalter kommen inzwischen auch Bücher in die Buchhandlungen mit Titeln wie «Warum Ichlinge keine Zukunft mehr haben», «Generation Me» oder «Too much of a good thing».
Wenn an einem kein Mangel bei unserm Nachwuchs herrscht, dann an Selbstbewusstsein.
Ich bin schön, ich bin klug
Laut einer Studie von Jean Twenge, Psychologieprofessorin an der Universität von San Diego, halten sich 79 Prozent der Teenies für «sehr intelligent», 74 Prozent finden sich «attraktiv» und stimmen auf breiter Front Statements zu wie «Wenn ich die Welt regieren würde, wäre sie ein besserer Ort» und «Ich verlange das Beste, weil ich es verdiene.»
In Deutschland bewerben sich für die Exhibitionisten-Show «Deutschland sucht den Superstar» pro Staffel 35 000 Jugendliche, denen es zwar zuweilen an Talent, nicht aber an Eitelkeit und Hybris mangelt.
Wie konnte es bloss dazu kommen? Wieso haben sich die Geister, die wir riefen, so verselbstständigt? Beziehungsweise: Wieso haben sie sich vermehrt wie Fruchtfliegen auf angematschten Äpfeln? Schliesslich ist ja das Phänomen nicht neu. Schon in der griechischen Mythologie verliebte sich der Jüngling Narziss in sein eigenes Spiegelbild im Wasser. Die fatale Folge ist bekannt.
Gerhard Dammann, Leiter der psychiatrischen Klinik Münsterlingen und Narzissmus- Spezialist, sieht für den grassierenden Grössenwahn viele Ursachen, die meisten davon liegen in der Kindheit. «Klar muss ein Kind, muss jeder Mensch sich mögen. Problematisch wird es, wenn die einzig relevante Perspektive das eigene Ich ist, Mitmenschen zu Publikum degradiert werden und Selbstbewusstsein in Selbstgerechtigkeit umschlägt.» Noch stehe die Forschung am Anfang. Aber ein möglicher Auslöser sei, so der Psychiater, dass Kinder, die zu wenig Beachtung fänden oder vernachlässigt würden, eine Gegenreaktion zeigten wie «Ich muss aufpassen, nicht übersehen zu werden.»
Häufiger als bislang angenommen mitverantwortlich ist jedoch vermutlich ständiger Applaus. Und das elterliche «Unbehagen mit dem Unbehagen», wie der Harvard-Professor Dan Kindlon es bezeichnet, wenn Mama und Papa ihrem Kind auch noch das kleinste Steinchen aus dem Weg räumen. Dazu kommt das gebetsmühlenhafte Vermitteln von «Du bist etwas Besonderes ». «Es ist erschreckend, wie viele Eltern ihr Kind für hochbegabt halten», findet Gerhard Dammann. Und wenn «hochbegabt» beim besten Willen nicht hinhaut, dann ist das Kind wenigstens von ADHS betroffen, auffallend sensibel, allergisch, musikalisch, ein verkapptes Sporttalent … alles geht, nur kein Durchschnitt, kein Normalo.
Allein die moderne Namensgebung spricht Bände. Hiessen früher Schulklassen zu 50 Prozent «Susanne» und die andere Hälfte verteilte sich auf «Michael» und «Thomas», so nennen heute Eltern ihre Kinder «Liu», «Apple», «Kira» oder quirlen zumindest noch ein y oder ein th in einen ansonsten gängigen Namen. Besonderheit ist Pflicht! Und auf diese, bitte schön, haben alle anderen Rücksicht zu nehmen.
Hauptsache: Beachtung
«Zu meiner Zeit, und ich bin ja auch noch nicht steinalt», sagt Gerhard Dammann (48), «sind Eltern davon ausgegangen, dass es wohl okay sein wird, wie die Lehrer ihr Kind behandeln. Damit musste man halt zurechtkommen. » Die Haltung sei so was von gestrig. Heute wird am Elternabend thematisiert, ob ein Kind vor der Klasse gerügt werden darf. Ob rote Tinte im Heft nicht demotivierend wirkt. Ja, ob nicht, wie unlängst in Grossbritannien vorgeschlagen, überhaupt das Wort «falsch» ersetzt gehört durch «deferred success» (verzögerter Erfolg). Und sollte sich das Talent dann ärgerlicherweise doch nicht auf dem Zeugnis niederschlagen, ist entweder der Lehrer doof oder Privatschulen sorgen dafür, dass das intakte Selbstbild des Kindes keine Kratzer bekommt. Denn «Selbstbewusstsein», so eine Untersuchung des Meinungsforschungsinstitutes Allensbach, ist für 89 Prozent der Eltern das wichtigste Erziehungsziel.
Aber – sollte Selbstbewusstsein nicht auf irgendwas gründen? Auf Leistung, beispielsweise? Nö. Findet derzeit kaum noch jemand. Wer «Traumberuf Model» googelt, landet 334 000 Treffer. Ruhm einfach dafür, wie man wirkt – das ist es, was fetzt. Und auf Facebook findet schliesslich auch jeder belanglose Gedanke, jedes eitle Bild Publikum. Wichtig? Unwichtig? Hauptsache: Beachtung. Doch was wird aus all den kleinen, begabten, speziellen, cheerleadermässig bejubelten Kindern, wenn sie später mit dem wirklichen Leben in Kontakt kommen? Was, wenn die Bewerbung abgelehnt wird, und das, obwohl man schon als Baby Bodys mit dem Aufdruck «Kleine Prinzessin» getragen hat? Was, wenn spätere Partner keine Lust haben, Hofstaat zu sein? Tja. Dann ist das «mentale Immunsystem», wie es Dan Kindlon nennt, nicht trainiert. Dann werden Frustrationen nicht ertragen, wird die Erkenntnis, in Wahrheit mittelmässig statt aussergewöhnlich zu sein, nicht verkraftet.
Die Angst vor der Kritik
So brechen beispielsweise – schildert Jean Twenge in ihrem Buch «Generation Me» ein Experiment – Jugendliche aus Ländern, in denen «Individualismus und Selbstwert» gross geschrieben werden, Tests mit schwierigen Aufgaben viel schneller ab als etwa koreanische Kinder, bei denen «besonders sein», als Schimpfwort gilt. Wer Applaus gewohnt ist, meidet das Risiko für Buhrufe. Depressionen und Partnerschaftsprobleme sind bei vielen Narzissten die Folge.
Und jetzt? Soll man Kindern wieder wie früher ins Poesiealbum schreiben: «Sei wie das Veilchen im Moose, sittsam, bescheiden und rein, und nicht wie die stolze Rose, die immer bewundert will sein?» Nein. Aber vielleicht ist es nicht verkehrt, Kinder auf die Realität vorzubereiten und sie darauf hinzuweisen, dass Lady Gagas «We all are born Superstars» nicht Programm ist. Kreuznormal ist auch okay. Verlierer – ab und an. Sieger – manchmal. Und dann ruhig mit Medaille!