Erziehung
Ich geh allein in den «Chindsgi»
Nach den Sommerferien ist es jeweils wieder so weit. Zehntausende Mädchen und Jungen werden zu «Chindsgi»-Kindern und machen sich regelmässig auf den Schulweg. Meist allein. Vielen Müttern stellt sich da eine ganze Batterie banger Fragen: Ist mein Kind überhaupt schon fit für den Strassenverkehr? Was muss ich ihm beibringen? Wie kann ich es schützen? Was soll ich tun? Eins vor allem: Ruhe bewahren. Die Zahl der im Strassenverkehr tödlich verunfallten Kinder sinkt seit Jahren stetig und liegt im unteren einstelligen Bereich. Nur ein Sechstel der Unfälle mit Kindern passiert auf dem Schulweg. Da aber jeder Unfall einer zu viel ist, gilt es dennoch einiges zu beachten.
Entwicklungsbedingte Voraussetzungen
- Nur wenn Eltern wissen, wozu ihr Kind vom Reifegrad her in der Lage ist, können sie es entsprechend vorbereiten und auf alterstypische Risiken hinweisen.
- Kinder nehmen nur Dinge wahr, die sie interessieren und reagieren spontan. Gegen diesen tollen toten Frosch auf der Fahrbahn haben es Verhaltensregeln schwer …
- Entfernungen können erst im Alter von 9 Jahren in etwa korrekt eingeschätzt werden.
- Bremswege sind Kindern kein Begriff und werden deshalb nicht eingeplant.
- Bis 8 Jahren fällt es Jungen und Mädchen schwer, eine einmal begonnene Bewegung abrupt abzubrechen. Wer rennt, rennt.
- Vorschulkinder können Geräusche noch nicht zuordnen. Erst ab 6 Jahren können sie lokalisieren, wo der Laut herkommt und ob er Gefahr bedeuten könnte oder nicht. Erst mit 8 Jahren nutzen sie ihr Gehör als Hilfe im Strassenverkehr.
- Tiefenschärfewahrnehmung ist erst bei 9-Jährigen voll ausgebildet, deshalb können jüngere Kinder Entfernungen zu einem heranfahrenden Auto nicht richtig bewerten. Geschwindigkeiten können sogar erst mit 10 Jahren einigermassen exakt geschätzt werden.
- Kinder sind klein. Über parkende Autos können sie nicht hinwegsehen.
- Warum halten sich kleine Kinder zum Verstecken die Hände vor die Augen? Weil sie noch nicht zwischen Sehen und Gesehen werden unterscheiden können. Bei unter 8-Jährigen liegt es ausserhalb der Vorstellungskraft, dass ein Autofahrer sie nicht wahrnehmen könnte, obwohl sie selbst den Wagen doch prima sehen.
- Verkehrsregeln werden nicht flexibel angewendet. Weicht irgendwas von der Norm ab, ist etwa die Ampel kaputt, wird es schwierig. Ab 12 Jahren können Mädchen und Jungen abstrakt denken und Regeln unabhängig von der konkreten Situation begreifen.
- Pro Sekunde können Kinder vor dem Schulalter nur ein bis drei Verkehrsobjekte gleichzeitig wahrnehmen. Halb so viele wie Erwachsene.
- Ihnen fehlt die Erfahrung.
- Die Konzentrationsfähigkeit ist erst mit 14 Jahren voll ausgebildet. Ab 8 Jahren können sie sich in etwa so lange konzentrieren, wie ein Schulweg dauert.
- Links und Rechts können noch 59 Prozent der Erstklässler nicht verlässlich unterscheiden.
Was Eltern tun können
- Davon ausgehen, dass Kinder nicht verkehrssicher sind. Daher nicht 100, sondern 1000-mal richtiges Verkehrsverhalten üben. Und zwar sobald der Nachwuchs läuft. Altersangemessen, natürlich.
- Lästig, lästig, aber es geht nicht anders: Eltern müssen Vorbild sein. Also an der roten Ampel stehen bleiben, auch wenn nicht mal am Horizont etwas Autoähnliches auszumachen ist. Immer.
- Die sicherste, nicht die nächste Stelle zur Strassenüberquerung wählen.
- Wüste Beschimpfungen anderer Verkehrsteilnehmer vermeiden, wenn man selbst am Steuerrad und das Kind auf der Rückbank sitzt. Lernziel: Verkehr hat mit Toleranz und Selbstbeherrschung zu tun. Ja, sogar wenn der Klotzkopf da Ihnen die Vorfahrt genommen hat.
- Helle, auffällige Kleidung für das Kind aussuchen. Jungen und Mädchen in Dunkelblau, Schwarz oder Grau sind im Dunklen oder in der Dämmerung ungefähr so gut zu sehen wie Siegfried mit der Tarnkappe.
- Zeit abmachen, wann das Kind vom Kindergarten zu Hause sein muss. Erstens, damit die Kinder für einen 5-Minuten-Weg nicht zwei Stunden brauchen, und zweitens, damit die Kleinen nicht rennen als sei der böse Wolf hinter ihnen her und vor lauter Hetze die wichtigsten Verkehrsregeln vergessen.
- Uhrzeit realistisch festsetzen. Mit der Freundin über eine Mauer zu balancieren, Pusteblumen zu pusten oder dem Nachbarsjungen eine Schnecke in den Kragen zu stecken, muss drin sein.
- Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. So schrecklich es erscheinen mag, es schadet nicht, dem Kind ein paar Mal heimlich auf dem «Chindsgiweg» nachzuschleichen, um zu sehen, wie gewissenhaft es Verkehrsregeln umsetzt, wenn es sich unbeobachtet glaubt.
- Ängstlichkeit unterdrücken. Schliesslich soll das Kind ja nicht den Eindruck bekommen, der Weg zum «Chindsgi» sei vom Gefährlichkeitsgrad her durchaus vergleichbar mit einer Löwendressur.
- Der Schulweg ist wirklich nicht ohne! Wie wäre es damit, einen «Pedibus» zu organisieren, also einen gemeinschaftlichen Schulweg mehrerer Kinder, der von einem Erwachsenen begleitet wird?
Was sitzen muss
- Kinder gehen innen, nie an der Fahrbahnseite vom Trottoir. Mehrfach üben.
- Beim Warten Abstand von der Fahrbahn halten.
- Rot bei der Ampel bietet KEINEN Interpretationsspielraum.
- Auf der Fahrbahn wird nicht gerannt, gehüpft, gespielt, kein platter Igel beguckt und kein Wasser aus der Pfütze getrunken.
- Kein Schubsen, Drängeln und Fangis spielen am Fahrbahnrand.
- Erst über die Strasse gehen, wenn das Auto komplett steht.
- Strasse nicht zwischen parkierenden Autos überqueren.
- Keine Mutproben, die mit dem Strassenverkehr zu tun haben.
Buchtipp: «Max der Dachs»
Verkehrsregeln schon den Kleinsten beizubringen, ist unerlässlich. «Mit Max sicher unterwegs im Strassenverkehr» ist ein Verkehrsbilderbuch für kleine Leser ab 4 Jahren. Mit dem Dachs Max lernen die Kinder auf spielerische Weise die wichtigsten Verkehrsregeln und Merksprüche wie «Warte, lose, luege».