Annemarie Stalder
«Ich fühlte mich verpflichtet, zu lächeln»
Omar Stalder war der James Dean aus Egg. Von den Mädchen wurde der 16-jährige Teenager verehrt, von den Jungs bewundert. Omar war ein auffällig hübscher Junge, dazu sensibel und charmant. Am Dienstagabend des 15. Juni 2004 machte er sich auf den Heimweg und stieg, zufällig, kurz vor 22 Uhr in den Alfa Romeo eines Bekannten. Dieser sollte ihn die kurze Strecke mit nach Hause nehmen. Es sassen drei junge Männer im Wagen. Kurz bevor Omar in das Auto steigt, schreibt er seiner Mutter, die zu Hause auf ihn wartet, eine SMS mit den Worten: «Mami, wie geht es dir? Geht es dir gut, Mami?»
Der Fahrer liefert sich mit einem anderen Automobilisten ein Raser-Rennen. Auf der Forch-Autobahn kommt der Wagen mit sehr hoher Geschwindigkeit von der Fahrbahn und prallt frontal in einen Fahrleitungsmast der Forchbahn. Omars letzte Worte, so berichtet der einzige Überlebende, der auf dem Rücksitz des Unfallwagens sass, seien gewesen: «Fahr nicht so schnell, fahr nicht so … Scheisse!»
wir eltern: Annemarie Stalder, was geschah danach?
Annemarie Stalder: Plötzlich hörte ich draussen die Ambulanz und Geräusche eines Helikopters. Dann schrillte das Handy von Nour, meinem zweitältesten Kind. Er stürzte die Treppen herunter, machte ein verstörtes Gesicht. Ich fragte, wie in Trance, was los sei? Seine Stimme brach ab. Die Haustür fiel ins Schloss. Kurz darauf erfuhr ich via Handy, dass etwas geschehen sei, das unsere Familie betrifft.
Ahnten Sie, als Sie aus dem Haus gingen, die Tragweite des Geschehens?
Ja, sofort. Ich wusste, es geht um Omar. Ich stieg wie eine aufgezogene Puppe in mein Auto, fuhr ein paar Meter, aber die Strasse war abgesperrt. Ich rannte zur Unfallstelle. Man liess mich aber nicht zu meinem Kind, ein Polizist sagt mir, ich würde die Rettungsmassnahmen behindern. Ich konnte nicht fassen, was ich da hörte. Da lag doch mein Baby!
Wie hält man das aus?
Ich war wie in einer anderen Wirklichkeit, als würde ich über der Erde schweben. Gleichzeitig nahm ich aber alles extrem genau wahr, war hoch sensibilisiert. Es verging eine gefühlte Ewigkeit, ich stakste auf und ab, kauerte am Strassenrand, wiegte den Körper hin und her, betete zu Gott, dass er uns hilft. Ich dachte immer wieder: «Alles! Nur das nicht. Nicht meine Kinder!» Aber es war zu spät.
Omar verstarb auf der Unfallstelle. Nach etwa zwei Stunden liess man mich endlich zu meinem Sohn.»
«Sie sinkt auf den Asphalt neben ihr Kind. Ein weisses Tuch bedeckt seine Gestalt. Sein männliches Knabengesicht – als würde er schlafen. Das Blau seiner Iris schimmert leicht unter den Augenlidern hervor. Mit unendlicher Zärtlichkeit umfasst sie Omars Kopf, streichelt über seine Haare, die blassen Wangen, auf denen die Sommersprossen wie gefallene Sterne scheinen – und über die gelbe Verfärbung, die den Tod kennzeichnet. Sein Mund, der rot und lachend, jetzt … Sie gibt ihm tausend Küsschen auf sein Gesicht, wie sie es am Morgen getan hatte, nimmt seine kalten Hände in ihre kalten, will ihn wärmen, will…»
Sie schreiben ganz am Anfang Ihres Buches, dass Sie schon Wochen vor dem Unfall Panikattacken überfielen. Dass Sie dachten, dass etwas passieren könnte.
Ich habe bis heute keine Ahnung, woher dieses Gefühl kam. Aber ich erinnere mich sehr genau, dass ich die Tage vor Omars Unfall meine Kinder immer wieder ermahnt habe, vorsichtig zu sein. Ich fühlte etwas. Es war, als wäre mein Urvertrauen weg.
Wie reagieren die Menschen, wenn Sie von dieser Vorahnung berichten?
Ich habe die Leute, denen ich davon erzählte, sehr sorgfältig ausgewählt. Diese glaubten mir, ohne zu zögern. Ich habe nicht den Anspruch, dass alle Menschen etwas nachvollziehen können, das in einer anderen Realität stattfindet.
Sie klingen etwas resigniert. Haben Sie die Reaktionen der Umwelt enttäuscht?
Nein. Enttäuscht bin ich nicht einmal. Es reagieren nun mal nicht alle Menschen adäquat in so einer schwierigen Situation. Ein Kind zu verlieren ist das Schlimmste, was einer Mutter passieren kann. Dieses Schicksal überfordert die meisten Menschen. Trotzdem habe ich aber auch viel Positives und Hoffnungsvolles erlebt in dieser Zeit. Meine Kinder, meine Ergotherapeutin, meine Freunde waren da für mich. Aber ich war am Anfang wirklich komplett überfordert mit allem.
Und doch mussten Sie funktionieren.
Ja, das musste ich. Ich wollte doch auch für meine drei anderen Kinder ein gutes Mami sein.
Annemarie Stalder
Kann man denn das? Drei Kinder betreuen und da ist diese grenzenlose Leere, die Verzweiflung.
Am liebsten wäre ich damals mit meinem Sohn gestorben. Weiterleben war ein ständiger Kampf. Jeden einzelnen Tag von Neuem. Rückblickend weiss ich, dass ich das alles ohne meine Kinder nicht überlebt hätte.
Ihre vier Kinder haben zwei unterschiedliche Väter, beides Schweizer, die hier leben. Aber zu beiden haben Sie bis heute kein gutes Verhältnis.
Nein. Meine Tochter sieht ihren Vater ab und zu, ich selber habe keinen Kontakt zu ihm. Mit dem Papa der Buben habe ich den Kontakt seit dem Unfall abgebrochen. Er hat uns das Leben schwer gemacht. Jetzt muss er die Last des Todes selber tragen.
«Auch das Einkaufen ist ein Höllentrip. Oft lasse ich alles liegen, wenn ich fünf Zahnbürsten nehmen will, ein Lebensmittel sehe, das Omar gerne mochte, Kleider, die ihm gefallen hätten – die Liste ist endlos. Anita wird immer dünner, trotz der Therapie, die sie jetzt macht. Amun turnt von einer Medaille zur anderen. Nour hat seine Lehre abgebrochen. In der Not rufe ich im Malergeschäft an, wo Omar seine Lehre hätte machen können. Mein Ältester sagt mir nicht, wie schwer es ihm fällt, den Platz des Bruders zu besetzen.»
Haben Sie mit Ihren Kindern viel über Omar geredet?
Ich habe eher in meiner Therapie geredet. Im Umgang mit Kindern ist der Körperkontakt wichtiger. Ein Blick, ein Wort, eine Umarmung. Der Trauerprozess hat uns ausserdem nicht nur zueinander gebracht.
Wie meinen Sie das?
Am Anfang war die Verbindung noch stärker als zuvor. Dann kam eine Zeit, in der wir uns etwas voneinander distanzierten. Heute sind wir uns wieder näher denn je. Meine beiden Söhne wohnen wieder bei mir in unserer kleinen Wohnung am Kreuzplatz in Zürich.
Wie findet man nach so einem Verlust wieder ins Leben zurück?
Die ersten zwei Jahre nach dem Unfall funktionierte ich wie eine Maschine, die sich verpflichtet fühlte, zu lächeln. Kaum war ich allein, stürzte alles, was im Alltag keinen Platz hatte, über mir ein. Nach dem ersten massiven Zusammenbruch wurde ich sozial abhängig und arbeitsunfähig und musste auch immer wieder stationär in psychiatrische Kliniken. Bis heute habe ich noch nicht zurück in die Gesellschaft gefunden. Ich bin immer noch dabei zu lernen, wie man nach dem Tod eines geliebten Menschen weiterleben kann – so wie viele Eltern, die ein Kind verloren haben.
Half Ihnen das Schreiben, mit dem Erlebten umzugehen?
Ja. Das Schreiben nahm einen hohen therapeutischen Stellenwert ein. Aber ich lebe seit Omars Tod sehr zurückgezogen, kann fast nicht mehr unter die Leute. Schreiben ist eine stille Arbeit, die man im eigenen Kämmerchen machen kann. Ich dachte am Anfang gar nicht an ein Buch, sondern ich habe einfach wild drauflos geschrieben.
«Sie weiss nicht, wo sie war, noch dass sie hätte wissen können, ob sie gestorben ist und nun das Leben in sich trägt. Ein Leben, das vergänglich ist, doch niemals enden wird. Von alledem kann sie nichts wissen, nur eines weiss ich ganz gewiss: Es ist die Kraft der Liebe, der Glaube an das Gute, der uns das Wunder schenkt.»
Wer machte Ihnen Mut, Ihr Schicksal in Buchform zu erzählen?
Allen voran die Kinder. Und zwei Dozenten der SAL, der Schule für Angewandte Linguistik, an der ich eineinhalb Jahre studierte. Der eine hat meine wild geschriebenen Seiten strukturiert, der andere hat mir immer wieder gut zugeredet. Aber ich bin sehr nervös, jetzt, wo meine Gedanken öffentlich sind. Grausam nervös (lacht)!
Sie lachen auch wieder.
Ich fühle mich von der Liebe meiner Nächsten getragen, und das gibt mir Kraft. Ihr Glaube an mich macht mir Mut. Ich schätze insbesondere Augenblicke der Heiterkeit. Davon gibt es inzwischen eine Menge. Meine Lieben und ich lachen viel und von Herzen. Doch ich habe nie aufgehört zu weinen.
Xanthippe
Annemarie Stalder «Herzrasen»
Die Autorin ist seit dem Unfall ihres Sohnes Omar im Komitee der Initiative «Schutz vor Rasern» (www.roadcross.ch). Sie ist Mutter einer 29-jährigen Tochter und zweier Söhne im Alter von 24 und 18 Jahren. www.xanthippe.ch
Das Buch ist autobiografisch und gibt einen intimen Einblick in die ganze Familie. Wie reagierten Ihre Kinder darauf?
Sie haben mir das grösste Kompliment gemacht, das es gibt und immer gesagt: Mami, es ist alles gut so, du hast das geschrieben und wir stehen hinter dir.
Ich bin sicher, Omar wäre sehr stolz auf sein Mami.
Lieb, dass Sie das sagen. Ich denke auch, ja, Omar wäre stolz. Das war er immer.