Wochenbett
Heilsame Erfahrung
Frauen gehen nach der Geburt immer früher nach Hause. Damit verkürzt sich die Pflege im Wochenbett. Studien zeigen, dass das Risiko einer postpartalen Depression sinkt, wenn Wöchnerinnen zu Hause professionell betreut werden.
In der linken Hand trägt sie ein Köfferchen, in der rechten eine Babywaage – mehr braucht Regula Scherler nicht für den Wochenbettbesuch bei Familie Germann. Zum vierten Mal ist sie hier und wird mit Küsschen links und rechts begrüsst wie eine alte Bekannte. Die Tage nach der Geburt sind eine intime Zeit voller Höhen und Tiefen. Fühlt sich eine Frau verstanden und ernst genommen mit ihren häufig zwiespältigen Gefühlen, ihren Ängsten, Sorgen, Freuden und ihrer Verletzlichkeit, stellt sich schnell Nähe ein. Regula Scherler sieht auf ihren Besuchen oft Tränen fliessen. «Die Psyche braucht im Wochenbett besondere Aufmerksamkeit», sagt die diplomierte Pflegefachfrau. Auch bei Karin Germann.
Nichts wie weg
Es war Sonntagmorgen fünf Uhr früh, als die junge Mutter vom Spitalbett aus ihren Mann anrief und sagte: «Chrigi, ich will heim! Bitte hol mich ab!» Knapp drei Tage vorher hatte sie per Kaiserschnitt Fabio geboren, ihr zweites Kind. Sie hatte versucht, zu stillen, doch wie schon bei der Tochter wollte es auch dieses Mal nicht klappen. «So sehr ich es mir gewünscht habe», seufzt die 35-Jährige.
Die Trauer darüber war gross. Karin Germann wollte nur noch eins: zu ihrem Mann, zu ihrer Tochter. Sie sehnte sich nach der tröstlichen Umgebung des eigenen Zuhause. «Ich merkte, im Spital werde ich depro.» Ihr Zustand war allerdings noch nicht stabil. Die Kaiserschnittnarbe benötigte Überwachung, die gestaute Milch verursachte Schmerzen in den Brüsten. Doch zum Glück hatte Karin Germann vorgesorgt und eine Wochenbettbetreuung organisiert. Das Kantonsspital Baden hätte sie sonst nicht nach Hause entlassen.
Beim Gynäkologen war ihr ein paar Wochen vor der Geburt ein Flyer der Internet-Plattform wochenbettbetreuung.ch in die Hände gekommen – ein Angebot, das es erst seit etwas mehr als einem Jahr gibt. Gründerin ist Regula Scherler (32), Pflegefachfrau mit 30-Prozent-Pensum in der Wochenbettabteilung des Kantonsspitals Baden und Mutter von drei Kindern im Alter zwischen vier und acht Jahren. Die Idee für das Angebot tauchte im Frühsommer 2010 auf: «Ich suchte für eine Frau, die bei uns geboren hatte, eine freiberufliche Hebamme für das Wochenbett und konnte niemanden finden, der verfügbar war», erzählt Regula Scherler. Von einer Hebamme erfuhr sie, dass sich auch Pflegefachfrauen selbstständig machen und Wöchnerinnen betreuen können. Dieser Gedanke liess Regula Scherler nicht mehr los.
Hilfe für die ersten Tage
50 bis 80 Prozent aller Frauen fallen nach der Geburt in ein Stimmungstief, aus welchem sich eine postpartale Depression entwickeln kann. Verschiedene Studien zeigen, dass eine umfassende Wochenbettbetreuung, bei welcher die Frauen medizinisch versorgt werden, aber auch über ihre Gefühle sprechen können, das Risiko für eine postpartale Depression senkt.
Das steht Ihnen zu:
- Bis zum 10. Tag nach der Geburt täglich ein Besuch einer Hebamme oder einer Pflegefachfrau. Die Krankenkasse übernimmt sämtliche Kosten.
- Ab dem 11. Tag nach der Geburt ist für weitere Wochenbettbesuche eine ärztliche Verordnung nötig. Die Krankenkasse übernimmt die Kosten abzüglich Franchise und Selbstbehalt.
- 3 Stillberatungen. Die Krankenkasse übernimmt die vollen Kosten.
Das Spital ist kein Hotel
Schon damals war klar, dass mit der Fallpauschale, die im Januar 2012 eingeführt wurde, die Frauen nach der Geburt tendenziell früher entlassen würden. Das Spital sei kein Hotel, so der Tenor der Finanzkontrolleure. «Gegen eine baldige Rückkehr nach Hause spricht nichts, wenn die Mutter gesund ist und es sich zutraut», sagt auch Doris Güttinger, Geschäftsleiterin des Schweizerischen Hebammenverbands. Ihre einzige Bedingung: «Die Nachsorge muss gewährleistet sein.» Die Befürchtung, dass es hier vermehrt zu Engpässen komme, war in letzter Zeit insbesondere von Hebammen immer wieder zu hören. In diese Lücke können nun die Pflegefachfrauen springen.
An Fachwissen und Erfahrung fehlt es ihnen nämlich nicht: 80 Prozent der Betreuerinnen in den Wochenbettabteilungen der Spitäler sind nicht Hebammen, sondern Pflegefachfrauen. Was letzteren bis anhin fehlte, war eine einfache und praktische Website, auf welcher Angebot auf Nachfrage trifft. Das sollte sich ändern. Voller Elan packte Regula Scherler die Entwicklung einer solchen Plattform an. Mit wenigen Klicks sollten Wöchnerinnen Wochenbettbetreuerinnen in ihrer Nähe finden können. Technische Unterstützung, aber auch viele praktische Tipps erhielt die Macherin von ihrem Schwager. Drei Monate später war wochenbettbetreuung.ch online.
So funktionierts: Die Anbieterin erstellt ein Profil mit Foto, Angebot und Verfügbarkeit, welches sie jederzeit anpassen kann, beispielsweise wenn sie ausgelastet ist und kurzfristig keine Kundinnen annehmen kann. Einzig unter Qualifikationen kann sie nichts ändern. «Ich verlange Diplome oder Arbeitszeugnisse. Aufgeschaltet wird zudem nur, wer zwei Jahre auf einer Wochenbettabteilung gearbeitet hat und mir ein Zeugnis zuschickt», sagt Regula Scherler. Die Nachfragerin wählt die gewünschte Dienstleistung, Verfügbarkeit sowie die Region aus, kann das Profil einer passenden Anbieterin anschauen und diese dann kontaktieren.
Tag und Nacht erreichbar
Das hat auch Karin Germann gemacht – und weil Regula Scherler fast um die Ecke wohnt, schaute diese einen Tag nach der Spitalentlassung zum ersten Mal bei Familie Germann vorbei. Sie versorgte die Kaiserschnittnarbe und Fabios Nabel. Überwachte die Gebärmutterrückbildung, die Brustentzündung, die latente Neugeborenengelbsucht. Und versicherte Karin Germann, dass sie ihrem Sohn auch eine gute Mutter sein könne, wenn sie ihn nicht stille. Kein einfaches Thema. Eine Woche nach der Geburt, in der Nacht, verschlechterte sich Karin Germanns Zustand. Wallungen wechselten sich ab mit Schüttelfrost, sie weinte und weinte. Auch die Brustentzündung wurde nicht besser. Regula Scherler war klar, dass sie die Mutter bald zum Arzt würde schicken müssen.
Am nächsten Tag sind die Tränen versiegt. «Ich ging um acht Uhr abends schlafen und als ich drei Stunden später aufwachte, fühlte ich mich völlig gesund», erzählt Karin Germann strahlend. Ihr Mann habe sich derweil um Fabio gekümmert. «Danach hielt uns der Kleine bis um halb fünf auf Trab.» Ein Glück, dass Christoph zwei Wochen Ferien habe.
Regula Scherler hatte geahnt, dass es aufwärts geht bei Familie Germann, da sie nach dem gestrigen Besuch nichts mehr gehört hatte. Für ihre Frauen ist sie in Notfällen rund um die Uhr telefonisch erreichbar.
Etwa einen halben Tag pro Woche arbeitet Regula Scherler momentan als selbstständige Wochenbettbetreuerin, daneben ist sie weiterhin als Pflegefachfrau angestellt im Spital Baden. Viel Zeit investiert sie in ihr «viertes Kind», wie sie ihre Website gerne nennt. «Wenn andere abends auf Facebook ihre Freundschaften pflegen, arbeite ich an der Plattform», sagt sie – ohne das geringste Bedauern in der Stimme. Einen Dämpfer erhielt sie allerdings von Hebammenseite.
«Nach der Aufschaltung der Website bekam ich mehrere böse Mails von Hebammen, die mir und meinen Kolleginnen die Berechtigung für eine professionelle Wochenbettbetreuung absprechen wollten», erzählt sie. Einen kurzen Moment lang habe sie sich überlegt, die Plattform wieder zu löschen. Enttäuscht hat sie auch, dass der Hebammenverband seine Internetseite nicht mit der ihren verlinken will. Von Verbandsseite gibt man zu verstehen, dass manche Hebammen die Pflegefachfrauen als Konkurrenz empfinden würden. Regula Scherler findet das schade, sie sagt: «Ich arbeite gerne vernetzt, wenn es dem Wohl der Frauen dient.»