Trisomie 21
Glück jenseits der Perfektion
Als Christine Schüler an diesem 20. April zum Kaiserschnitt-Termin ins Krankenhaus geht, hat sie ein paar Stofftierchen dabei, eine Spieluhr, die «La, le, lu, nur der Mann im Mond schaut zu» spielt, und eine weisse Kuscheldecke. In die möchte sie Frederick wickeln, wenn er stirbt. Dass sein Geburtstag auch sein Todestag sein wird, weiss die damals 35-Jährige seit viereinhalb Monaten.
Als ihr Gynäkologe an jenem Tag im Dezember 2000 beim Ultraschall murmelt: «Ihr Kind hat eine komische Kopfform», denkt sie noch: komische Kopfform? Na und? Mein Mann hat auch eine komische Kopfform. Halt etwas länglich. Doch als der Arzt sie ernst anschaut und weiter ans Frauenspital Bern verweist, wird sie unruhig. Drei Wochen müssen die werdenden Eltern warten. Bern ist in Adventslaune: Tannenzweige, Guetsli und «Oh, du Fröhliche » überall. Die Fröhlichkeit der Schülers endet, als sie nach zahllosen Untersuchungen vom Professor hören: «Ihr Kind ist sehr schwer behindert. Wir raten Ihnen, die Schwangerschaft abzubrechen. » Wie? Was? Schwangerschaft abbrechen? Unseren Frederick abtreiben, der schon ein bisschen gegen die Bauchdecke kickt? Und was bedeutet das überhaupt: offener Rücken, kein Fruchtwasser, keine Nierentätigkeit des Kindes? Zu Christine Schüler dringt alles nur wie durch eine Watteschicht. «Jetzt geht es noch darum, zu klären, ob wir das vor Weihnachten erledigen oder später», hört sie von weit weg. Noch heute, 10 Jahre später, wünschte sie, sie hätte das Wort nicht hören müssen: «erledigen». «Die Diagnose ist schon schlimm, aber wenn plötzlich über dein Kind geredet wird wie über einen Sachschaden, den es zu beseitigen gilt, da wird einem eiskalt.» Christine Schüler verwandelt das eiskalt in cool und beschliesst reserviert: «Wir lassen uns zu keiner hopplahopp Entscheidung drängen.» Auch wenn die Schülers spüren, der Arzt findet sie unverantwortlich bis verrückt, fahren sie für ein paar Tage nach Zermatt, nehmen sich Zeit, weinen ab und an und besprechen, was sie fühlen, hoffen, sich zutrauen und fällen dann erst die Entscheidung: «Da Frederick nicht leidet, lassen wir der Natur ihren Lauf. Wenn er stirbt, stirbt er, wenn nicht ... vielleicht …»
Christine Schülers Bauch wird runder. Anders als prognostiziert, hat sie keinen Abort. Leute sprechen sie auf ihre Schwangerschaft an, verstummen jedoch, wenn die junge Frau antwortet: «Mein Sohn wird wahrscheinlich sterben.» Ihre Schwiegereltern machen Druck, finden, ihr Sohn hätte als erstes Kind doch ein gesundes verdient, sie solle es nicht austragen; fremde Menschen weinen, wenn sie hören, dass sie auf ein Kind wartet, das todkrank ist. Die Dame von der Krankenkasse, bei der sie Frederick anmelden und offenherzig erzählen, dass er behindert sein wird, fährt die junge Mutter rüde an: «Ja, muss das denn sein? Was denken Sie denn, was das kostet? Dass wir für so was auch noch aufkommen sollen …» Ausser mit ihrem Partner habe sie mit niemandem recht über Frederick reden können, sagt die 45-Jährige leise, über das Taufkleidchen für die geplante Nottaufe, die besonders weiche Decke. Geschmacklos, zu belastend, morbide ist auf den Gesichtern vieler Menschen zu lesen.
Diagnostik zwischen Segen und Fluch
40,6 Prozent aller Eltern, die vor der Geburt wussten, dass ihr Kind behindert sein würde, sind laut einer Studie der Universität Würzburg mehrfach mit dem Vorwurf konfrontiert worden, dass man die Geburt eines solchen Kindes hätte verhindern sollen. Leute, die das nur gedacht, aber nicht gesagt haben, tauchen in der Statistik nicht auf.
Auch jedes dritte Elternpaar, das sich gegen Pränataldiagnostik entscheidet und ein behindertes Kind bekommt, ist, so die Wissenschaftler, massiven Vorwürfen ausgesetzt. Leidet das Kind unter einem Down-Syndrom, das sich präzise diagnostizieren lässt, steigt der Prozentsatz auf 40 Prozent. Entscheidet sich jedoch eine Frau bei der Diagnose Trisomie 21, beziehungsweise Down-Syndrom, für einen Abbruch, wie das bei 92 Prozent der Fall ist, verschweigt sie das lieber ganz, drohen doch andernfalls massive Beschuldigungen wie: sie wolle nur ein perfektes Kind, habe kein Herz und sei selbstsüchtig.
Ein «Richtig» scheint es in dieser Situation nicht zu geben. Nur falsch, ganz falsch und völlig falsch.
Irgendwo zwischen Segen und Fluch ist die Pränataldiagnostik daher wohl angesiedelt. Ein Viertel aller Schwangeren über 35 lässt heute Fruchtwasseruntersuchungen machen. 35 gilt als Eintrittsalter in die Risikoschwangerschaftsgruppe. In der Schweiz trifft inzwischen auf 27 Prozent die sogenannte «Altersindikation» zu.
Einerseits erlauben die seit etwa 40 Jahren angewendeten Methoden wie Ultraschall, Fruchtwasseruntersuchung und Bluttest frühe Befunde, manchmal Hilfe schon im Mutterleib und sie eröffnen Familien, die durch ein schwerstkrankes Kind vollständig überfordert wären, einen anderen Weg – dann sind sie ein Segen. Auf der anderen Seite erzeugt die Möglichkeit, Krankheit zu erkennen, klammheimlich den Druck, nur gesundes Leben in die Welt zu setzen. Produktoptimierung nennt man so was unter Ingenieuren. «1b-Ware» gilt da schnell als Zumutung. Dann wird die Frühstdiagnose zum Fluch.
Wir schaffen das schon. Nur wie?
«Ach ja, die ausgesprochenen und unausgesprochenen Vorwürfe kenne ich», lächelt Susanne Ruzsics (55), Mutter einer 15-jährigen Down-Tochter, und streichelt Katharina über die Wange. Eine rotglühende Wange, denn Katharina erzählt gerade voller Begeisterung von ihrem Schulprojekt in Horgen und dass sie dabei den Schulhof anmalen dürfen und wie gerne sie male, alles würde superschön bunt werden… Katharina schwatzt wie Mädchen das eben so tun, wenn sie Aufregendes aus ihrem Teenie-Leben berichten. Vielleicht redet Katharina nicht ganz so deutlich, vielleicht sind die Sätze nicht ganz so lang, aber der blonde Pferdeschwanz wippt und hüpft wie bei allen glücklichen, überdrehten jungen Mädchen. «Wir wollten eben noch ein drittes Kind und ich habe bewusst keinen Test gemacht», erzählt die gelernte Juristin. Klar, mit 40 gäbe es da ein Risiko: «Aber ein Kind auf Probe? Nein.» Das stand für Karoly und Susanne fest. Was soll ein Test bringen, wenn man doch ohnehin nehmen will, was kommt? Und in der Nacht, als Katharina geboren wurde, schien auch alles in Ordnung zu sein. «Alles prima», kommentierte die Hebamme das Baby. Nur Susanne wusste instinktiv, dass nicht alles prima war. Ein Blick hatte ihr genügt: das Stumpfnäschen, die etwas anderen Augen…
«Ich habe genau eine Sekunde gebraucht, um zu sehen, was mit Katharina los ist.» Der Kinderarzt und ihr Mann brauchten ein wenig länger. «Wir schaffen das schon», habe Karoly nur gesagt, sie gedrückt und ihr die Kleine nach der Diagnose in den Arm gelegt. Nur – wie, darauf hatte niemand eine Antwort. Und als sie einen Tag später mit der Kleinen auf dem Gang stand, vor sich das Säuglingszimmer mit all diesen gesunden Babys darin, da habe sie einen Augenblick überlegt: Wenn ich es jetzt einfach austauschen würde und stattdessen ein «richtiges» nähme? Dann würde mein Leben weiter so perfekt laufen wie es immer lief: toller Job, toller Mann, zwei tolle kluge Kinder… nichts würde unser Leben verwuscheln. «Aber dann habe ich in Katharinas liebes Gesicht gesehen und die Nase in ihre strubbeligen blonden Haare gedrückt und gewusst: sie ist, wie sie ist und – unseres. Fertig. Das war die Entscheidung: Sie von ganzem Herzen anzunehmen. Trotz der Ängste bei der Herzoperation, trotz der leidigen Vergleicherei mit anderen Kindern und Katharinas kläglichem Abschneiden, trotz der Rückenschmerzen vom häufigen Tragen eines dafür viel zu grossen Mädchens. Trotz allem sagt Susanne Ruzsics: «Katharina ist unser Sonnenschein.» Und wenn die Juristin aus Kilchberg das sagt, klingt das nicht süsslich, nicht nach diesen verzuckerten «Down-Kinder sind das reine Glück»-Berichten. Sondern nach: Es gibt Sonnenschein, aber es gibt auch Stürme, Hagel, richtiges Sauwetter. Richtiges Sauwetter war, als Susanne vor lauter Überlastung einen Kreislaufzusammenbruch bekam: die eigenen Eltern krank, zwei quirlige gesunde Grundschulkinder, Katharina… «Tja, das wünscht man keinem – aber tauschen möchte ich auch mit keinem. » An blöde Blicke hat sie sich längst gewöhnt, Früher, in einem anderen Leben, war sie auch mal eine mit blöden Blicken: «Ich weiss noch, dass in unserer Nachbarschaft eine ‹Mongoloide› wohnte, so nannte man das damals. Ich habe mich immer ein wenig gefürchtet und auch geekelt, weil sie manchmal Bröckchen zwischen den Zahnlücken durchgespukt hat.» Aber Menschen sind eben so: schämen sich fremd, wo es nichts zu schämen gibt, schützen sich vor Menschen, die selbst Schutz brauchen und grenzen sich ab, wo alle mehr Spass hätten, wenn die Grenze eingerissen würde. So ist es halt. Sie nimmt das nicht übel und freut sich, dass Katharina auf starrende Mitmenschen mit einem freundlichen aber direkten «Wasch luegs?» reagiert.
«Och ja, das Starren», Susanne Ramseier lacht. «Ja, mein Gott, ist das nicht ohnehin eine Lebenseinstellung, ob man etwas darum gibt, was andere denken?» Ihre Einstellung war das nie. Das hilft der 49-Jährigen jetzt. Denn ihre Tochter Elena wird ständig angestarrt. Erstens ist sie milchkaffeebraun, zweitens autistisch. Die Kombination sorgt 100-prozentig fürs Starren. Susanne Ramseier zuckt die Achseln. Ganz so als wollte sie sagen: Na, das ist noch mein geringstes Problem. Und vermutlich ist es das sogar. Seit sechs Jahren lebt die Handarbeitslehrerin aus Urdorf mit ihren beiden Kindern Victor (12) und Elena allein. Verdient ihr Geld allein, baut allein überall Sicherungen ein, damit Elena nicht nachts wieder unbemerkt abhaut und ins Dorf schleicht, den Gasherd andreht oder all ihre Stofftiere in der Kloschüssel wäscht. Trägt die Neunjährige auf dem Rücken, wenn die absolut keine Lust hat zu laufen, windelt sie, schneidet das Fleisch klein, wäscht und kämmt sie, hört den Grossen Vokabeln ab. Haushalt, Garten und das Übliche macht sie sowieso. Ob die Partnerschaft an dem zusätzlichen Stress durch Elena zerbrochen ist? Die blonde Frau guckt eine Weile nachdenklich in ihren Villa-Kunterbunt-Garten: «Nein. Jein. Weiss nicht, vielleicht.» Susanne blinzelt in die Sonne. «So leicht lässt sich das nicht sagen, aber mit einem Kind wie Elena kann man keine Partnerschaft gebrauchen, die mehr Be- als Entlastung ist – das jedenfalls kann man sagen», sagt sie schliesslich. «Was man braucht», ergänzt sie, während sie Elena die schwere Wasserkaraffe entwindet, Victors Wave-Board flugs verräumt und den von eigenhändig gepflückten Äpfeln selbst gebackenen Kuchen verteilt.
«Was man braucht ist ein Mann, der bereit ist, die Realität zu sehen.» Ihr Mann war das nicht. Obwohl zweieinhalb Jahre lang nicht klar war, was mit Elena los war, warum sie so viel langsamer war als andere Kinder, warum sie nie auf Duziduzis in den Kinderwagen reagierte und warum sie mit zweieinhalb schlagartig aufhörte zu sprechen. Mit drei Jahren jedenfalls hatten sie die klare Diagnose: «autistische Züge». Elenas Vater wollte das nicht hören, fand sein Töchterchen nicht nur süss, sondern auch auf besondere Art intelligent und nicht behindert, vielleicht irgendwie eigen, das schon, aber doch normal. Bitte. Bis heute sieht er das hartnäckig so. Susanne Ramseier schaukelt in ihrem Schaukelstuhl. «Klar kann ich das verstehen. Aber irgendwann hab ich zu ihm gesagt: Hallo, sieh doch her! Unsere Tochter ist nicht normal, sie ist nicht wie andere in dem Alter. Sie spricht nicht, sie spielt nicht wie andere, sie ist behindert. Sieh hin.» Liebevoll zieht sie ihrem Töchterchen die Rollerblades an. Nicht, dass Elena damit fahren möchte, das nicht, aber ein bisschen auf der Bank sitzen und mit den Füssen hin und her zu rollen, findet sie schön. Ihre Mutter muss sich nichts vormachen, um ihr Kind wunderbar zu finden. Sicher, die Diagnose habe sie ebenfalls kalt erwischt, denn auf einmal konnte man alle Hoffnungen von «das wächst sich raus», «das ist ihre Art» kübeln. Trotzdem war der Befund auch erleichternd, denn endlich fiel das Gegrübel weg, ob sie irgendwas falsch gemacht hatte, ob es eine spezielle Ursache, vielleicht einen Schock, für das Verstummen gegeben habe.
Der grösste Stressfaktor ist die Ungewissheit
Mit dem Gefühl der Erleichterung nach einem Befund, egal, wie auch immer er ausfällt, ist Susanne Ramseier nicht allein. Denn, so Psychologen, der grösste Stressfaktor für Menschen ist die Ungewissheit. Und laut Würzburger Studie fühlen sich Eltern eines behinderten Kindes signifikant weniger gestresst, wenn sie eine eindeutige Diagnose haben. Zwar sind 50 bis 80 Prozent aller Erkrankungen nicht zweifelsfrei in eine Schublade zu stecken, aber wenn sich irgendeine Schublade findet zum hineinschlüpfen, tut es gut, hineinzuschlüpfen.
Dann hat das Unbekannte, was so Angst macht, einen Namen, der Druck in der Brust einen Grund, und man stellt fest, dass man nicht so allein ist wie befürchtet, sondern dass da noch andere Eltern in einer ähnlichen Situation sind; Menschen, die beim Anblick des Kindes nicht zurückschrecken und in Mitleid ausbrechen, sondern Ratschläge haben oder Gummistiefel in Grösse 29, eine Therapeuten-Adresse oder ein Auto, in das ein Rollstuhl passt.
Was ist, wenn ein Leben nur Quälerei ist?
Ja, Probleme lassen sich lösen. Menschen schaffen viel. Aber was, wenn man sich das alles nicht zutraut? Von sich selber weiss, dass man nicht zu den bewundernswert «Toughen» gehört. Nicht zu den Optimisten, zu denen, die alles wuppen, und das mit links. Was, wenn man das Gefühl hat, die Behinderung, die das Kind haben wird, würde sein kleines Leben zu einer grossen Qual machen, es selbst zum Aussenseiter, Gespött, zum Schadensfall in einer Leistungsgesellschaft? Was dann?
Barbara B. aus Buchs rührt in ihrer Kaffeetasse. Sie stand nach der Diagnose «Turner»-Syndrom vor dieser blickdichten Wand von Fragen. Niemals würde ihr Mädchen, dem das zweite x-Chromosom fehlte, eigene Kinder haben, stets kleinwüchsig sein, ein krankes Herz haben und wahrscheinlich noch die Nierenerkrankung von ihr, der Mutter, erben. Das hiesse Operationen, Dialyse, Schmerzen, Randständigkeit... Barbara B. hat sich für eine Abtreibung entschieden. «Ich weiss, dass ich mir damit angemasst habe, über das Leben meiner Tochter zu entscheiden», sagt die Primarlehrerin. «Aber vom Bauch her wusste ich, dass es besser ist, das Kind nicht zu bekommen. Ich wollte der Kleinen Quälerei ersparen.»
Fünf Jahre ist die Abtreibung jetzt her und noch immer laufen der 32-Jährigen Tränen übers Gesicht, wenn sie von dieser Zeit zwischen Diagnose und Abbruch erzählt. Sich gegen ein Kind zu entscheiden, das man schon liebt und weil man es liebt – diese Wunde verheilt schlecht. Manchmal schaut sie ihr Töchterchen Alissa (3) an und überlegt, wie deren Leben wohl aussähe mit einer schwerkranken Schwester. Genauso unbeschwert und glücklich? Oder würde sie neben dem behinderten Geschwisterchen mit all seinen besonderen Bedürfnissen völlig verblassen? Hätte der Papa dann immer noch Zeit, der beste Papa der Welt zu sein? Oder wäre er völlig aufgerieben zwischen Job, Familie, behindertem Kind, Partnerschaft? Falls es die dann noch gäbe … Barbara B.s Gedanken sind weder düster noch pessimistisch, sondern realistisch.
Die Trennungsrate bei Paaren mit einem – wie es in England heisst – «child with special needs» liegt um einiges höher als die «normale» Scheidungsrate. Exakte Daten dazu gibt es nicht. Doch viele Ehen knicken unter der Extra-Dosis an Belastung ein. Brechen unter Zeitdruck, Geldsorgen, dauernder Angst und fehlenden Atempausen einfach zusammen, weil Menschen eben nicht immer Helden sind.
Eine Umfrage der deutschen Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung ergab, dass sich über die Hälfte der Schwangeren mit solchen Überlegungen herumplagt. Ein Drittel sagt – genau aus diesen Gründen – sie könnten eine Behinderung ihres Kindes nicht akzeptieren.
Wir alle gehen auf dünnem Eis
Diese Ängste und Sorgen können Iren und Christian Sarwa nur zu gut verstehen. Auch sie haben die Frage: «Fruchtwasserpunktion ja oder nein?», diskutiert. Schliesslich weiss niemand im Voraus, ob er stark genug ist, ein Kind mit speziellen Bedürfnissen grosszuziehen. Doch für die damals 37-jährige Frau war glasklar: Abbruch wegen eines Down-Kindes? Auf keinen Fall. «Also haben wir auf die Punktion verzichtet, uns auf die üblichen Tests geeinigt und auch darauf, das Risiko zu tragen. Gemeinsam.» Acht Monate ist ihr Töchterchen Calista jetzt alt. Trotz des unauffälligen Bluttests und Nackenfaltenmessungen, trotz Ultraschall und einer völlig unkomplizierten Schwangerschaft kam sie mit Trisomie 21 auf die Welt. Und mit einem schweren Herzfehler. Plötzlich hiess es: Intensivstation, Medikamente, anstehende Operation … «Die Diagnose ‹Down-Syndrom› war komplett in den Hintergrund gerückt. Im Fokus stand die Angst, die wir um Calistas Gesundheit hatten», erinnert sich Christian Sarwa.
In den Hintergrund rückt auch so manches andere. «Durch unser Mädchen habe ich viel gelernt: Dass wir alle auf dünnem Eis gehen. Dass jedes Mitglied der Familie jederzeit einbrechen kann, dass das Leben für jeden Schwierigkeiten bereit hält. Und vor allem habe ich etwas über mich gelernt.» Christian Sarwa lacht. «Ich komme mit Situationen klar, die ich mir vorher nie zugetraut hätte. Ich weiss heute, dass wir gemeinsam mit allem, egal, was passiert, zurechtkommen werden. Das gibt Kraft und macht wahnsinnig zuversichtlich.» Zuversicht, die Calista spürt. Vergnügt lutscht sie an Mamas himmelblauem Kaschmirschal. Ja und? Nebensächlichkeiten regen hier niemanden auf. Calista hat Spass. Und das ist gar nicht nebensächlich.
Iren Häcki Sarwa (38) ist Kunsthistorikerin und Mutter von drei tollen Mädchen. Für sie ist jedes ihrer Kinder, jeder Mensch, etwas besonderes, Calista vielleicht nur ein wenig besonderer.
«Mit dem Verstand weiss ich natürlich, dass Calista Trisomie 21 hat. Doch wenn ich sie mit dem Herzen betrachte, was ich als Mutter ja meistens tue, sehe ich keine Behinderung. Kinder machen eben Freude UND Sorgen. Das ist bei der Kleinen nicht anders. Eigentlich ist sie sogar aussergewöhnlich fröhlich. Neulich hat eine Freundin von meiner Vierjährigen gefunden: ‹Ich möchte auch so eine Calista haben.› Da haben wir gelacht und gesagt: ‹Unsere geben wir aber ganz bestimmt nicht her.› Sicher, nach der Diagnose musste ich mich auch erst mal von dem Bild des perfekten Kindes in meinem Kopf verabschieden. Aber vielleicht ist es generell gut, sich von festen Vorstellungen, wie ein Kind sein sollte, zu verabschieden. Heute bin ich absolut zuversichtlich, dass sie später mal sehr selbstständig werden kann. Viele Ängste rund um Down-Kinder stammen doch noch aus längst vergangenen Zeiten. Heute haben diese Kinder viele Möglichkeiten. Calista schafft das.»