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Gib der Tante KEIN Küsschen!
zvg
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Ich weiss nicht genau, mit wie vielen Menschen ich diese Erfahrung teile, oder wie gross die Anzahl der Eltern ist, die ihre Kinder heute noch zu Zuneigungsbekundungen auffordern. Ich jedenfalls bin in der DDR so aufgewachsen. Das ist mir selten präsent, aber wenn ich wie neulich die entsprechenden Sätze irgendwo höre, kommt schlagartig alles zurück.
«Gib der Tante ein Küsschen!»
«Verabschiede dich von dem Onkel!»
Für mich sind solche Sätze gleich mehrfach furchtbar. Furchtbar, weil meine eigenen Eltern im Glauben, dass gehöre sich eben so und sei höflich gegenüber Erwachsenen, mich zu dieser Art Intimität mit anderen Menschen zwingen wollen. Furchtbarer noch, weil diese Anderen genau die gleiche Floskeln verwenden und für sich beanspruchen können, um mich gefügig zu machen. Also von sich selbst in der dritten Person sprechen, eine Forderung aufstellen und sich darauf verlassen, dass ich im Beisein und unter den Augen meiner Eltern gefügig bin. Und später darauf zählen, dass diese Machtdemonstration auch ohne Anwesenheit der Erziehungsberechtigten funktioniert. Am furchtbarsten aber, weil sich (zumindest erinnere ich das so bei mir und meinen Freunden) jeder und jede Erwachsene in dieses Verwandtschaftsverhältnis setzen konnte. Irgendwelche Bekannten meiner Eltern waren auf einmal «der Onkel» und «die Tante» und versuchten mir damit deutlich zu machen, dass ich ihnen etwas schuldig bin. Ein Handschlag, ein Küsschen, eine Umarmung. Das Halten eines Mantels, das Bringen eines Gegenstandes oder schlicht und ergreifend das Befolgen ihrer eigenen, willkürlichen Regeln.
Ich weiss, dass meine Eltern das nicht böse meinten. Die meisten anderen Eltern wahrscheinlich auch nicht. Ich weiss aber auch, wie übergriffig ich das schon immer fand und viele andere sicher auch. Wie mulmig mir bei dem Gedanken daran wird, wie einfach es ist, durch solche institutionalisierten Grenzüberschreitungen Ansprüche auf Kinder erheben und Macht über sie ausüben zu können.
Wahrscheinlich bin ich auch deshalb heute darin so konsequent, meine Kinder diesbezüglich zu nichts zu zwingen. Da kann die Verwandtschaft noch so enttäuscht tun. Die Grundregel lautet, dass niemand meine Kinder anfasst, wenn sie das nicht wollen. Und ja: Das gilt selbstverständlich auch für mich.
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Nils Pickert (1979), geboren in Ostberlin, nach dem Mauerfall mit einer waschechten Kreuzbergerin angebändelt. Gegenwärtig 4 Kinder: Emma (12), Emil (10), Theo (2½) und Maja (bald 1). Arbeitet als freier Journalist für diverse Medien und als Weltverbesserer bei dem Verein Pinkstinks, der sich unter anderem gegen Sexismus in der Werbung engagiert. Wurde von der «Weltwoche» mal als «maximal emanzipierter Mann» beleidigt, findet aber, dass ihm der Titel steht. Bloggt für «wir eltern» über Alltag mit Kindern, gleichberechtigtes Familienleben, neue Väter, Elternbeziehungen, Erziehungswahnsinn. Alle Blogg-Beiträge von Nils Pickert finden Sie hier.