Kunst
Es bleibt in der Familie
Dienstag, 25.10. 2011, 10.17 Uhr, Brooklyn: Es ist ein Junge. Er heisst Ajax, ist 53 Zentimeter gross und wiegt etwas mehr als vier Kilo. Die Geburt ist relativ schnell verlaufen. Kind und Mutter sind wohlauf. Typische SMS-Sätze, wie sie von frisch gebackenen Eltern gerne verschickt werden. Doch diese Zeilen stammen aus einer Pressemitteilung der New Yorker Kunstgalerie Microscope Gallery – dem Geburtsort von Klein-Ajax. Die Mutter, Marni Kotak, inszenierte die Niederkunft als Live- Performance. Damit wollte sie die Geburt als «wunderbares Kunstwerk» gewertet sehen. Zuvor hatte die 36-jährige Künstlerin bereits einen grossen Teil ihrer Schwangerschaft in der Galerie verbracht. Schliesslich musste die Performance –Titel: «The Birth of Baby X» – gut vorbereitet sein: Es wurde ein wohnliches Zimmer eingerichtet, Tapeten mit Fischmotiven aufgezogen und eine Geburtswanne aufgestellt. Die Galeriebesucher konnten mit Marni Kotak jederzeit über ihr Ungeborenes, über ihre Ängste und Hoffnungen sprechen. Wer wollte, konnte sich mittels Kontaktformular über das Einsetzen der Wehen informieren lassen. Bei der Geburt selber waren dann, laut Aussagen der Galerie, rund zwanzig Personen zugegen. Inklusive Kindsvater Jason und einer Hebamme.
Als die Mutter nach der Geburt eine Banane verschlang und das Neugeborene in Papas Armen lag, wurde im World Wide Web bereits hitzig diskutiert. Die Kommentare in den Foren reichten «Vom totalen Zerfall der Sitten», über «ein Tabubruch sondergleichen» bis hin zur «Gratulation für den Mut der Mutter.» Kunsthistoriker Philip Ursprung von der ETH Zürich bewertet den Akt mit der Gelassenheit eines Experten: «Dass Künstler zuweilen an moralischen und ethischen Grenzen rütteln, ist durchaus legitim und gehört zum Spiel.» Damit sei allerdings nicht bewertet, ob es sich um eine besonders gelungene oder schlechte Performance handle. «Tendenziell neu ist allerdings das Zur-Verfügung- Stellen des eigenen Lebens innerhalb eines Kunstprojekts – der Geburtsakt von Marni Kotak veranschaulicht das in radikaler Form.» Die Zelebrierung des vermeintlich Alltäglichen liegt allen künstlerischen Arbeiten von Kotak zugrunde – sie inszenierte ihre eigene Entjungferung wie die Beerdigung ihres Grossvaters. Ihr nächstes Projekt: »Raising of Baby X» – ein Langzeitprojekt, in dem Essgewohnheiten, Erziehungsmassnahmen und Entwicklungsschritte von Sohnemann Ajax genau dokumentiert werden – Mamas Tagebuch als Kunstinszenierung also.
Die verlorene Tochter
Auch die Fotografin Elaine O´Neil führte Tagebuch. Während fünf Jahren machte sie täglich Porträts von sich und ihrer Tochter Julia. «In Vorbereitung auf die bevorstehende Phase im Leben von Julia – sie war damals 10 Jahre alt – dem Beginn der Adoleszenz, las ich viel über diesen Zeitabschnitt und fand unter anderem folgende Beschreibung für den Prozess des Erwachsenwerdens: Verlust der Stimme, Verlust von Identität und Verlust von Bindung.» Wie würde sich all dies auf ihr eigenes Leben auswirken? In welcher Heftigkeit würde Julia diese Lebensphase ereilen? Und: Würde sich diese Neuorientierung optisch einfangen lassen? Es war ein Versuch wert. So richtete Elaine O´Neil in ihrem Wohnzimmer ein Fotostudio ein. Posiert wurde immer morgens vor der Schule. Das Fenster zum Garten diente als Kulisse. Julia und ihre Mutter diskutierten jedes Mal aus, wie sie sich hinstellen sollten. Mal Rücken an Rücken gelehnt, mal mit forderndem Blick zur Kamera, mal lagen sich die beiden in den Armen. Zu Julias 16. Geburtstag, nach 1800 aufgenommenen Bildern, endete das Projekt der US-Fotografin. «In diesen fünf Jahren, als meine Tochter sich in eine junge Frau verwandelt hat, musste auch ich mich neu positionieren – meine Identität zurückfordern, ausserhalb meines Daseins als Mutter.»
Das Thema Familie wird wellenartig in verschiedenen Kunstepochen angespült: In der Antike wurde die kaiserliche Familie als göttliche Menschenbilder dargestellt. Zu Zeiten des Biedermeier war das gemalte Familienporträt das Musthave schlechthin, ein Repräsentationsobjekt, das auf den gehobenen Stand einer Familie hinwies. Und die Impressionisten – wie Renoir – richteten ihren Blick auf den Alltag und ganz unaufgeregte, gesellschaftliche Anlässe: Ein Familienpicknick im Park, spielende Kinder oder ein familiärer Sonntagsspaziergang. Was treibt aber die Kunstschaffenden der Neuzeit an, das Thema Familie wieder vermehrt ins Zentrum zu rücken? Kunsthistoriker Philip Ursprung sieht eine mögliche These im Zerfall des traditionellen Bilds von Familie: «Wenn etwas im realen Leben im Verschwinden begriffen ist – wie etwa die Kernfamilie als solche – dann stehen die Chancen gut, dass sich dieses Thema in der Kunst niederschlägt.» Denn im Dunstkreis von Patchwork- und Regenbogenfamilien, von Scheidungs- und Kuckuckskindern tauchten natürlich die wichtigsten menschlichen Fragen auf: Wer bin ich? Wo gehöre ich hin? Wo komme ich her?
Plakative Antworten darauf findet man auf Fotografien aus vergangener Zeit. Auf Porträtfotografien aus der Kindheit, hübsch angeordnet ins Familienalbum geklebt. Die argentinische Fotografin Irina Werning nimmt diese alten Porträts als Vorlage, um die darauf abgebildeten Personen auf exakt die gleiche Art und Weise erneut zu inszenieren. Oft liegen Jahre oder gar Jahrzehnte zwischen den Aufnahmen. Eine wundersame Reise zurück in die Zukunft.
Reise in die Vergangenheit
Beim Schweizer Künstler Mats Staub gab der Fund eines alten Lesesessels auf dem Estrich seiner verstorbenen Grossmutter den Anstoss für eine Reise in die Vergangenheit: «Ich versuchte mich daran zu erinnern, was ich über das Leben meiner Grosseltern eigentlich weiss. Was taten sie in jungen Jahren? Was wurde am Esstisch über sie erzählt, ausser den immer gleichen Anekdoten? Ich musste mir eingestehen, dass ich nur wenig über sie wusste und fragte mich, wie das wohl bei anderen Leuten ist.» Und so kam es zum Langzeitprojekt «Meine Grosseltern – Erinnerungsbüro». In einer ersten Testphase wurden Freunde und Bekannte zu ihren Grosseltern befragt, Platz nahmen sie dabei auf Grossmutters Lesesessel. Mats Staub hatte bei diesen Gesprächen eine beglückende Erkenntnis: «Es war fantastisch zu sehen, wie Erinnerung funktioniert.»
Die meisten begannen mit Sätzen wie «Eigentlich weiss ich gar nicht viel von meinen Grosseltern», schliesslich hatten manche seit Jahren nicht mehr über ihre Vorfahren nachgedacht. Mit der Zeit jedoch reihte sich Fragment an Fragment, Anekdote an Anekdote, bis schliesslich ein stimmiges Porträt entstand. «Ein Porträt, bei dem sich Wahrheit mit Projektion vermischt.» Seit Beginn des Projekts 2008 nahmen zwischen Genf und Hamburg 275 Personen verschiedenen Alters auf Grossmütterchens Staubsessel Platz, um sich zu erinnern. Sie sprachen über Tod, Liebe und den Krieg. Mit ihren Erinnerungen wurden sie zum Bestandteil eines Kunstprojektes, das ihnen selbst Aufschluss gab über ihre eigene Herkunft. Und obwohl Mats Staub das G-Wort gar nicht mehr hören mag, weil es zu oft verwendet wird, sagt er es trotzdem: «Globalisierung». In diesem schellen Leben, in dem so vieles möglich scheint, aber nur wenig Verbindliches bleibt, werde die Herkunftsfrage plötzlich wieder wichtig – und die Kunst zum Transportmittel dieser Identitätssuche.