Langeweile
Einfach Rumschildkröteln
42 Stunden wöchentlich könnte man in der Hängematte liegen, sagen Statistiker. Freizeit jedenfalls gibts in rauen Mengen. Die 5-Tage-Woche ist selbstverständlich, niemand muss noch das Essen langwierig erjagen, Wäsche wäscht die Maschine und mit den meisten Autos ist man eher an seinem Ziel angelangt, als man es zu Pferd gewesen wäre.
Zeit müsste im Überfluss da sein.
Müsste.
Ist sie aber nicht. Zumindest nicht bei meiner Tochter und mir. Wir sind durchgetaktet, dass diese Cäsium-Atomuhr, die die Zeit bis auf die 15. Stelle hinterm Komma anzeigt, eine echte Hilfe wäre. Wir haben ein Non-Stop-Programm: Tanztraining und Klarinettenunterricht, Arbeit und Schule, Kino, Brunch, Facebook, Meerschweine misten, Muskeln aufbauen ...
Wir sind wie das gehetzte Kaninchen aus Alice im Wunderland, bei uns muss es schnell gehen. Und wir liegen damit voll im Trend. Viele klassische Musikstücke werden heutzutage doppelt so flott gespielt wie noch bei ihrer Uraufführung. Der häufigste zu Silvester gefasste Vorsatz heisst, laut Meinungsforschungsinstitut Allensbach, «weniger Stress», 20 Prozent der Kinder, so Hirnforscher Martin Korte, leiden an stressbedingten Erkrankungen. Zwischen 1945 und 1995 hat sich die Sprechgeschwindigkeit um 50 Prozent erhöht und länger als 3 Minuten bleibt ohnehin niemand mehr konzentriert bei einer einzigen Sache, hat die Wissenschaftlerin Gloria Mark von der University of California herausgefunden. Offenbar geht es in Millionen von Köpfen zu wie in einem Flipperkasten: klingeln hier, blinken da, Freispiel!, klackern, leuchten, zack, Kugel weg.
Und weil das auf die Dauer nervt und auch das genölte «Was machen wir heute?» meiner Tochter, gehen wir zwei jetzt auf Entzug: Am Samstag machen wir nix. Gar nix. Nur «rumschildkröteln», wie der Schauspieler Gerhard Polt das sinnlose Abhängen nennt. Kurz: Wir werden uns – langweilen.
«Voll bescheuerte Idee», findet meine 12-Jährige. Wir werden sehen.
Samstag, 10 Uhr
Aufwachen. Ewigkeiten nicht so lang geschlafen. Fühlt sich gut an. Um die Zeit sind wir sonst samstags schon beim Sport oder in der Stadt, um zu kleine Jeans und zu alte Frühlingskleider zu ersetzen.
«Und ich darf heute wirklich nix machen?», erkundigt sich die 12-Jährige. Nö, nichts. «Auch kein Französisch?» Wenn ich das fröhliche Pfeifen richtig deute, verliert die Aussicht auf einen langweiligen Tag gerade an Schrecken.
Chillen statt Futur composé – wie cool ist das denn?
Chillen statt Lernen? Lernen DURCH Chillen, so sehen Hirnforscher das. «Ohne Fleiss kein Preis» gehört aus ihrer Warte ergänzt durch «ohne Faulheit auch keiner».
«Ein stets zu volles Tagesprogramm lässt den Stresshormonspiegel im Blut steigen; im Gehirn sorgt das dafür, dass die Gedächtnisleistung reduziert wird», erklärt Professor Martin Korte, Hirnforscher an der Technischen Universität Braunschweig. Evolutionstechnisch durchaus sinnvoll. Wer vor einem Säbelzahntiger steht, sollte rennen statt denken. Und Schlaf, chillen in Vollendung, diene, so Korte, längst nicht nur der Erholung, sondern der «Konsolidierung von Informationen». Nachts wird – wie bei den Heinzelmännchen – aufgeräumt: Wichtiges wird von Unwichtigem getrennt, Erlebnisse werden verarbeitet und gefestigt. Während man selbst untätig rumliegt, arbeiten bestimmte Hirnregionen auf Hochtouren. Werden tagsüber Probleme vor allem nach bewährten Mustern gelöst, hüpfen nachts die Gedanken abseits von den ausgetretenen Wegen. Die intuitiven Netzwerke der Grosshirnrinde pfeifen auf Schema F. Nichtstun macht kreativ. Dimitrij Mendelejew soll über Nacht das Periodensystem der Elemente erfunden haben, Friedrich Kekule die Ringstruktur des Benzols.
Und wir zwei haben gerade erst angefangen mit dem Abhängen ...
13 Uhr
Brunch beendet. Meerschweine gefüttert. Lustloses Herumstrolchen der 12-Jährigen: «Darf ich kurz mal am Computer ...?» «Nein.» «Alexandra eben die SMS schicken ...?» «Nein.» Heute wird sich gelangweilt. Allein. Kontaktlos. Das kann ja nicht gesund sein, was die kanadische Soziologin Rhonda McEwen herausgefunden hat, dass nämlich Jugendliche vor lauter allgegenwärtigem Geplapper auf diversen elektronischen Kanälen, ohne Panik zu empfinden, gar nicht mehr mit sich allein sein können. Meine Tochter kann. Hat zu können.
«Du bist gemein! Omi war früher bestimmt nie so zu dir!» Knall. Kinderzimmertür zu.
Hm. Wie war das eigentlich bei mir früher? Extra Langeweile-Weekends gabs sicher nicht. Erwachsene gingen aber auch noch nicht zum Schweigen ins Kloster, Meditieren, dachte man, taten nur Inder und wir Kinder haben uns höchst selbstverständlich gelangweilt. Wunderbar gelangweilt.
Da war dieses Wochenende im Münsterland – eine Gegend in etwa so spannend wie die Lehmregion Usbekistans – und als einziges Kind weit und breit nur der beknackte Sven von nebenan. Aber der hatte ein Schnitzmesser. Deshalb haben wir erst ein wenig deren Zaun beschnitzt, er später noch seine Hand und so wurde der Tag noch recht interessant. Oder die Sonntagsbesuche bei der Grosstante. Kein Kind, kein Tier, kein Spielplatz. Aber in ihrem Schlafzimmer gab es einen schnörkeligen Frisiertisch mit einem Parfümzerstäuber, und plötzlich war ich in der Fantasie ein vornehmes Fräulein in einem Schloss, das sich zum Ball fertig macht. Oder später, da gab es die mit Freunden vergammelten Tage im Park. Ohne irgendwas zu tun. Ab und an haben uns die Jungs in die Seite gepiekt, dann haben wir gekichert. Und manchmal haben wir versucht, Zigaretten mit nur einer Hand zu drehen ... Latein konnte man ja noch morgens im Schulbus abschreiben.
«Die Pubertät ist für Langeweile besonders anfällig», schreibt die Ostschweizer Psychologin Maria T. Kern in ihrer 668 Seiten dicken, bilderlosen Dissertation zum Thema «Langeweile». Langeweile, so Kern, entstünde vor allem in Phasen, in denen es ein Ungleichgewicht zwischen Wollen und Können gebe.
So würden Teenies etwa recht gerne in den Ferien bis in die frühen Morgenstunden durch die Diskotheken ziehen. Meist können sie das jedoch nicht, weil ihre Eltern das nicht erlauben und stattdessen einen Spaziergang durch Wald und Flur ansetzen; es entsteht – Langeweile pur.
Genau! Spaziergang, das ist es: der Langeweile-Gau. Das machen wir.
16 Uhr
Spaziergang von Mutter und Tochter.
Erstaunlicherweise mosert das Kind weniger als erwartet, sondern hakt sich unter. «Das haben wir aber voll lange nicht mehr gemacht, Mami!» Ich bin beschämt. Warum eigentlich nicht? Wir laufen am Bach entlang. Schweigend. «Und sonst?», frag ich nach zehn Minuten. Doch statt des üblichen genervten «guhuuut, Mutter» höre ich auf einmal von diesen Mädchen, die manchmal blöde Sachen sagen und von diesem einen Jungen, der «irgendwie ganz süss aussieht». Und dann wird es ganz rot, mein Kind, und sieht auch süss aus. «Seit wann findest du den gut?» «Seit drei Monaten.» Warum weiss ich davon nichts? Warum haben wir so selten solche Gespräche? Warum gibts oft nur dieses Stakkato von «Uffzgi gemacht?» hier und «Was gibts zu essen?» da? Das muss sich ändern. Offenbar brauchen wir zwei häufiger Zeit, um «unser Gehirn in sich selbst spazieren gehen zu lassen», wie Ulrich Schnabel in seinem Buch «Musse» schreibt. Spazieren gehen ist in vielerlei Hinsicht prima.
17.30 Uhr
Ich lese die Zeitung. Aus dem Kinderzimmer klingt Gemurmel. An der Tür hängt jetzt das Schild «Boutique Butterfly». «Mama, kommst du bei mir Kleider kaufen? » Bloss jetzt nicht zögern. Wie oft werde ich wohl noch mit meiner 12-Jährigen spielen? Wie oft kommt sie noch spontan auf diese schrägen Kindergedanken? Knapp bemessene Zeit.
19 Uhr
Dauert der Tag noch lang? Nimmt ja kein Ende! Kein Telefon, kein Fernsehen, kein Sport ... Das bin ich nicht gewohnt! Unter meinen Haaren fängt es an zu kribbeln. Wenn ich schnell mal eben ins Internet ginge ... «Mama, du bist doch nicht am Compi?» Mist, woher kennt sie mich so gut?
5,5 Stunden verbringen Jugendliche pro Tag mit digitalen Medien. Ich mehr. Ich bin älter. Ich bin Journalistin. Ich darf das! Ich brauch das! Was, wenn jetzt etwas passiert in der Welt und ich kriege es nicht mit? Kein Wunder, dass die «Acedia», die Langeweile, noch bei Thomas von Aquin als eine der sieben Todsünden galt. Kann ich verstehen, ist wirklich tödlich. Benjamin dagegen lobte die Langeweile als «Traumvogel, der das Ei der Erfahrung ausbrütet», und Nietzsche nannte sie «die Windstille der Seele, die jeder lustigen Fahrt vorausgeht». Die können mich mal mit ihren Traumvögeln und Windstillen. Ich werde jetzt kurz mein Handy ... «Mama, sollen wir was kochen?» Gefahr gebannt.
21.15 Uhr
Gegessen, geplaudert, das Kind ist bettfertig. Ohne DvD vorher, nur mit Gutenachtkuss nachher. Ich gehe aus dem Zimmer.
«Was machen wir morgen?», schreit sie. «Futur composé», schreie ich.
Wir lachen.
Ein ganz schön langweiliger Tag.
Ein ganz schöner langweiliger Tag.