Transsib
Eine Welt nur für uns zwei
Tag 0: Der Plan oder wir müssen los
Ich muss weg. Weg vom schlechten Gewissen – der Hetze. Der Angst, nicht alles richtig zu machen. Levi nicht gerecht zu werden. Meinem Freund Markus. Und meinem Job, den Freunden, den Hobbys. Bloss weg hier. Schnell. Das hat immer geholfen. Bewegung. Abstand. Durchatmen. Neuordnen. Aber geht das auch mit Baby? Ich hoffe, die 10 000 Kilometer Transsib von Petersburg nach Peking und die fünf Stationen, an denen wir aussteigen, sind lang genug. Und ich hoffe, mit einem Plan, mit Gelassenheit zurückzukommen. Und dass die Reise Spass macht. Gut tut. Mir. Und Levi. Denn Markus darf uns nur besuchen. In der Mongolei. Die Vorräte an Windeln und Hippgläschen auffüllen. Der Rest – Transsib, Baikal und China – ist ein Mutter-Sohn-Ding! Sorry.
Tag 13: Abenteuer Transsib-Toilette
In den Zugtoiletten ist kein Platz für mich und Levi im Maxi-Cosi! Als Levi wach ist, probiere ich es ohne. Nehme meinen Seesack mit rein und setze Levi drauf. Es wackelt. Er schaut schockiert. Dann belustigt. Und will losklettern. Über der Toilette hockend versuche ich, ihn mit meinen Knien auf dem Sack zu balancieren. Sehr riskante Strategie. Also beim nächsten Mal warten, bis er schläft? Und dann? Abteil offen lassen? Mit Levi drin, der Kamera, Geld, dem Laptop? Aber mit ihm drin kann ich nicht abschliessen? Was, wenn er aufwacht und von der Schlafbank kugelt?
Tag 15: Aus der Zeit gefallen
Permanent höre und fühle ich es. Das Rattern. Es ist immer da. Mittlerweile vertraut. Fast meditativ. Geborgenheit suggerierend. Da es meinen Körper pausenlos vibrieren lässt und meine Sinne beschäftigt, kann sich in mir eine beruhigende Stille ausbreiten. Die Zeit in der Transsib ist irgendwie Auszeit von allem. Vom normalen Leben, Lebensrhythmus. Von Sprache und gewohnter Kommunikation. Ich bin den ganzen Zug abgegangen. Kein Tourist – was cool ist. Irgendwie. Zeichensprache, lächeln und der GoogleÜbersetzer machen Kommunikaition trotzdem möglich. Oder auch nicht. Bei Ritas Oma hat es funktioniert: Keine Sorge, die Punkte in Levis Gesicht sind Mückenstiche, keine Masern, tippe ich ins iPhone. Erleichtert lässt sie Rita wieder mit Levi spielen. Bei der Kellnerin im Zugrestaurant klappt es nicht 100-prozentig. Statt Levis Essen aufzuwärmen, schüttet sie kaltes Wasser über den Hippglasinhalt. Aber wir wollten eh gerade gehen.
Tag 17: Von Duftmarken zum Zugkoller
Heute wache ich um 4 Uhr morgens auf. Moskauer Zeit. Die wird nämlich unabhängig von der Zeitzone, in der wir uns befinden, im Zug angezeigt. Und auf den Bahnsteigen auch. Es gibt Züge, die fahren gestern los, erklärt Olga, als ich mir heisses Wasser hole. Der Tag ist vor Ort schon vorbei, aber in Moskau halt noch nicht. Ich bekam keine Luft mehr, als ich aufwachte. Alles fühlte sich eng an in mir. Draussen rattern seit drei Tagen ausschliesslich Birken an uns vorbei. Raus, konnte ich nur denken. Und: Luft, Fenster auf! Aber das geht nicht. Auf dem Weg zum Samovar roch ich es. Auf dem Gang, aus den offen stehenden Abteiltüren. Aber eigentlich war klar, dass acht Garküchen in einem Waggon – ausser mir versorgt sich keiner im Restaurant, sondern sie köcheln selbst aus mitgebrachten Vorräten aller Art – bei nicht zu öffnenden Fenstern eine Duftmarke setzen. Zugkoller zweiten Grades, mindestens!
Tag 18: Olga forever! Sie schmeisst den Waggon
Ich bin ein echter Olga-Fan. Levi auch. Sie schmeisst den Waggon. Ist Waggonschaffnerin. Zapft mir heisses Wasser, staubsaugt alles durch, putzt die Sanitäranlagen. Sie wechselt mehrmals täglich die Uniform: zum Putzen, zum Waggonabgehen, zum Vor-dem-Zug-Stehen, wenn wir irgendwo halten. 25 Minuten sagt sie zu mir, als ich in Omsk mit Levi aus dem Zug hüpfe. Sie hat Spass daran, ihr fast vergessenes Schuldeutsch an mir zu üben. Ich lache sie an. Danke! Trotzdem hat sie uns genau im Blick auf dem Bahnsteig. Wenn sie merkt, dass ich es merke, lächelt sie und schaut weg. Kurz.
Tag 23: Duschen wird überbewertet
Die letzten Tage im Zug haben wir nach Moskauer Zeit gelebt. Sieben Zeitzonen? Gott bewahre. Und jetzt stehen wir da. Besser: sitzen. Im Strandkorb am Baikalsee. Einer imposanten Mischung aus der Wildnis Kanadas und dem gemütlichen Gardasee: Riesengross, eiskalt, 1500 Meter tief, glasklar, voller blauweisser Fischkutter und Fischräuchereien am Ufer. Mit der Morgenmüdigkeit noch in den Knochen, ungefrühstückt. Und da merke ich, dass sie mir fehlt. Die Erleichterung, die Vorfreude – auf die Dusche. Nach Tagen der provisorischen Körperpflege auf Basis von Feuchttüchern in der Transsib. Alle haben mich vor der Abreise mit schlecht verstecktem Ekel gefragt, wie ich das denn im Zug aushalten wolle. Ich hingegen liebe es eigentlich, wenn bei Abenteuerreisen langsam die Kleidung, dann Haare und ganz zum Schluss auch die Haut Patina bekommen. Urlaubsgebrauchsspuren. Cowboyfeeling. Das ist mein Auf-dem-Sofa-sitzen-Gefühl. Doch jetzt dusche ich mir genüsslich den Schmutz des Zuges vom Körper. Nicht aber das Gefühl von Transsib. In mir rattert es weiter!
Tag 27: Wie nach dem ersten Glas Wein
Ich fühle mich als Laienschauspielermutter. Das gebe ich auch offen gegenüber Levi zu. Ich kenne kaum Vorbilder hinsichtlich einer für mich passenden Mutterrolle. Klar gibt es tolle Bücher. Und es gibt viele tolle Eltern. Ich hingegen finde es toll, wie intensiv ich die Zeit mit Levi gestalte. Ich will ihn nicht abwickeln. Oder organisieren. Vielleicht noch nicht? Diese Einstellung ist eine echte Herausforderung. Und nichts, wirklich nichts gegen Menschen, die pragmatischer und energieschonender vorgehen. Ich bin halt nur anders. Und weil ich merke, dass diese durch Levi erzwungene Art der Langsamkeit und Reduktion meiner Seele extrem gut bekommt, habe ich mir vorgenommen, auch künftig genussvoll an die Beziehung zu Levi rangehen. Mit dem Gefühl wie nach dem ersten Glas Wein: mit einer beschwingten, beflügelnden Leichtigkeit.
Tag 28: Abschiedsschmerz und Vorurteile
Levi schläft in der Kapitänskajüte, ich stehe an der Reling. Der Seegang ist wild, zwei Meter hohe Wellen, und der Wind bietet eine hinreichende Erklärung für die Tränen. Ich weine. Es war unglaublich schön. Mit Natascha, der promovierten Chemikerin. Und Nadia, der als Koch arbeitenden Archäologin. Meine Gastgeber in Bolshoi Koti. Einem nur per Boot oder kraxeligem Küstenwanderweg erreichbaren Ort aus 40 Holzhäusern – und -hütten am Ufer des Baikal. In den 50er-Jahren stecken geblieben. Überall roch es nach holzbefeuertem Ofen, nach Borschtsch, körperlicher Arbeit. Und Heimat. Umgeben von gewaltigen birken- und lärchenbewachsenen Bergen, eingerahmt von sandiger Steilküste, nur direkt vor dem Ort eine flache Bucht. Und jetzt steht Alicer, Nadias nutzloser Mann, neben mir. Besonderes Kennzeichen: Er schläft am liebsten in der Küche, wenn alle anderen um ihn herumwerkeln. Ansonsten schweigt er. «Ich arbeite in Tokyo», erklärt er nun erstaunlich lebendig. «Aha», sage ich desinteressiert. «Ich habe in drei Monaten dort japanisch sprechen und lesen gelernt.» «Ahaaaa!?!», diesmal interessierter. «Ich spreche Russisch, Arabisch und Japanisch», erzählt er und dass er aus Usbekistan stammt, aus Taschkent. Seine etwas dunklere Haut und seine pechschwarzen Haare, hinten zu einem Pferdeschwanz gebunden, sind auf einmal Symbol einer spektakulären Herkunft und weniger sibirjakischer Nachlässigkeit.
Mann, Mann, Mann, dieses voreilige Schlüsse ziehen. Uncool.
Tag 31: Grenzübertritt Russland –Mongolei
Wieder im Zug. Vorbei am einsamen Südufer des Baikal und an schneebedeckten felsigen Bergketten. Die Luft ist milchig und mischt sich mit dem grünen See zu einem Gefühl von Sehnsucht und Melancholie. Grenzkontrolle. Eine strenge uniformierte Dame mit Schiffchenhut und Aktentasche marschiert durch unseren Waggon. Gefolgt von zwei jüngeren, militärisch gekleideten Männern mit Schäferhunden. Raustreten aus dem Abteil, nicht reden, ernst schauen. Jedes Abteil wird durchsucht. Auch die Teppiche im Gang umgedreht. Levi gluckst dazu. Der Stimmungswechsel lässt ihn komplett unbeeindruckt. Wir sind fast als Letzte an der Reihe. Als die Beamtin Levi sieht, brechen die harten Gesichtszüge auf, die Mundwinkel hüpfen nach oben, eine sanfte Melodie russischer Worte entkommt aus ihrem Mund. Unsere Kontrolle ist binnen 20 Sekunden erledigt. Manchmal macht Levi auch einiges leichter auf unserer abenteuerlichen Reise.
Tag 38: Intuitives Autofahren
Wir müssen vor Dunkelheit im Camp sein. Im Dunkeln ist es nicht zu finden. Der Fahrer braucht die Hügel zur Orientierung, das leuchtet ein. Nach 1,5 Stunden Fahrt durch mongolische Steppe – sanft geschwungene erst grasige, dann sandige Hügel, gekrönt von dramatischen weissen Wolken vor strahlendblauem Himmel – kommen mir Zweifel. Nicht nur, weil alle Hügel gleich aussehen in meinen Augen. Sondern auch, weil der Fahrer mehrmals die Autospur abrupt verlässt, über wegloses, holpriges Gelände braust, um irgendwann wieder auf einer aus dem Nichts auftauchenden Autospur einzufädeln. Strassen gibt es hier nicht. Nicht mal Schotterpisten. Das Maximum an Zivilisation ist die eine oder andere Jurte. Nach 2,5 Stunden rumpeliger Fahrt wird Levi unruhig. Kann ich nachvollziehen. «Kommen dem Fahrer die Hügel hier bekannt vor?», frage ich. «Die Mongolen finden die Wege, indem sie in sich hineinhören », erklärt Nara, unsere Übersetzerin. Und lacht. «Intuitives Autofahren.» Drei Minuten später stehen wir vor unserem Jurtencamp im Nature Reserve Ikh Nart. Der Fahrer wischt sich den Schweiss von der Stirn.
Tag 42: Yak-Karren- Trekking
Levi macht grosse Augen, als er das riesige zottelige Yak sieht. Mir wird auch mulmig. Mindestens so gross wie drei Kühe, mit 50 Zentimeter langen Hörnern. Ein Gesicht wie aus der Urzeit entsprungen. Irgendwann sitzen wir auf dem Karren hinter dem Yak, lassen uns die mongolische Herbstsonne in die Gesichter scheinen und zockeln über weglose Wiesen und Hügel. Bienen, Fliegen und Mücken surren um uns herum, und hie und da lässt der Yak geräusch- und geruchsvoll einen eindrücklichen Haufen fallen.
Levi nuckelt Milch, ich Wasser. Wir versuchen, im Takt der Schlaglöcher mitzuruckeln, als wir auf einmal vor einem reissenden, breiten Fluss stehen. Ohne Zögern hält der Fahrer darauf zu. Die Hand, mit der ich mich am Karrenrand festhalte, taucht ins eiskalte Wasser, mit der anderen Hand umklammere ich Levi. Mein Po wird nass. Der Karren schwimmt wie ein Amphibienfahrzeug. Mehr neben als hinter dem Yak. Aber ich wage nicht, den Kapitän zu stören und nach einer Schwimmweste zu fragen – für Levi. Nein, nein, nein, ich will es nicht, dieses Rabenmuttergefühl. Nach zehn Minuten und einer gefühlten Ewigkeit ist alles vorbei.
Levis Kopf liegt in meinem Schoss. Die Faszination, so langsam reisend eine in dem Moment kaum merkliche Veränderung der Landschaft zu beobachten und nach vier Stunden doch an einem völlig anderen Ort zu sein, hält uns alle in ihrem Bann. Eigentlich reisen wir ja langsam wegen Levi – aber diese Langsamkeit ist mittlerweilen für uns keine Einschränkung mehr, sondern Genuss. Oder vielmehr Luxus.
Tag 50: Chinesische Mauer und spanische Tapas
Wir nehmen den klapprig grünen Gondellift, der uns in 17 Minuten die 150 Höhenmeter zum Startpunkt auf der Mauer ruckelt. Der Guide, der uns unbedingt begleiten will, ist gegen Bezahlung von 100 Juan schnell abgewimmelt – die wenigen Menschen, mit denen wir Jingshalin heute teilen, sind nach dem ersten steilen Aufstieg von 200 Stufen auch verschwunden – und so haben wir bei unserer ersten Pause nach 90 Minuten diesen Wahnsinn aus grauem Stein für uns alleine. Ein chinesischer Mann wird erst durch den Besuch der Mauer zum richtigen Mann, hat Mao proklamiert. Und so pilgern Millionen Chinesen fast täglich zur Mauer, insbesondere in der Gegend um Badaling. Hier zwischen Jingshalin und Simatai ist davon zum Glück nichts zu merken. Abends zurück in Peking, feiern wir bei einer Flasche italienischen Rotwein im auf spanische Tapas spezialisierten Restaurant Sureno. Während Levi im Maxi-Cosi friedlich schlummert, fragt uns das junge chinesische Paar am Nebentisch, ob das Leben sich durch ein Baby eigentlich stark verändert.
Tag 62: Die Suche dauert an
Wieder in München. Glücklich, müde, stolz. Gestärkt. Und voller Fragen. Vor allem: Ob die Menschen zu Hause unser Leben, unsere Gefühle genauso prägen können wie die Menschen unterwegs?
Mehr Infos zu Julia Malchow, Jahrgang 1971, ihrem Sohn Levi und ihrer Reise unter: www.reise-mama-baby-transsib.blogspot.ch/