Die Sinne – Geschmack
Eine Frage des Geschmacks
Rosenkohl oder Erdbeereis? Liesse man Kinder wählen, sähe er alt aus, der Kohl. Doch genau das hat die Natur so vorgesehen. Mögen auch Ernährungswissenschaftler, Eltern und Zahnärzte Vitamin- und Nährstoffgehalt, Ballaststoffe und Mineralien für das bittere Gemüse, im Gegensatz zum süssen Eis, ins Feld führen – die Evolution hat die besseren Argumente. Und die sprechen für «süss». Denn in Zeiten, als der Mensch seine Nahrung noch in der Natur sammeln und jagen statt im Supermarkt kaufen musste, war der Geschmackssinn lebensrettend. Die Differenzierung in süss, salzig, sauer, bitter, umami (würzig, fleischig) markierte nicht die Grenze zwischen «mmh» und «bäh», sondern zwischen Leben und Tod. «Giftig und gefährlich» oder «essbar und gesund» sondierte die Zunge, kein Chemielabor.
- Süsses ist in der Natur selten giftig und zeigt reife, energiereiche Kost an.
- Salzig sind Nahrungsmittel, die wertvolle Mineralien und das für den Wasserhaushalt notwendige Salz enthalten.
- Umami, fleischig, schmeckt eiweissreiche Kost.
- Sauer ist Unreifes.
- Und bitter warnt: Achtung, giftig!
Zahlreiche Pflanzen schützen sich mit Bitterstoffen vor Fressfeinden. Kindliche Abneigung gegen Rosenkohl und Spargel, Brokkoli und Kaffee ist also angeborenes Erbe der Ur-Zeit und differenziert sich erst mit den Jahren aus. Scharf und fettig werden streng genommen nicht zu den Geschmäckern gezählt, da Fett (einzelne Wissenschaftler sehen das anders) lediglich als Geschmacksträger angesehen wird. Scharfes wiederum aktiviert nicht die Geschmacksknospen, sondern das Schmerzzentrum im Hirn. Warum Menschen dennoch gerne Chili, Pfeffer und Wasabi-Nüsschen mögen, liegt am körpereigenen Selbstbetrug. Um dem Schmerz entgegenzusteuern, werden Endorphine ausgeschüttet, die Wohlbefinden erzeugen. Eine Art «runners high», das Jogger-Hochgefühl, auf der Zunge.
Ein Schluck Umgebung
Doch wann und wie entsteht eigentlich Geschmack? In der 7. bis 8. Schwangerschaftswoche bilden sich die ersten Geschmackszellen, ab der 12. SSW schluckt das Ungeborene und trinkt ein bisschen von seiner Umgebung, ein bis zwei Wochen später sind entwickelte Geschmacksknospen vorhanden. Erste Eindrücke wie das Fruchtwasser schmeckt, werden an das Gehirn geleitet. Zwischen der 26. und 28. Woche zeigt die Mimik des Fötus, wie lecker er den aktuellen Fruchtwassergeschmack findet. Im 5. bis 7. Schwangerschaftsmonat existiert die höchste Anzahl an Geschmacksknospen und zwar nicht nur auf der Zunge, sondern auch in Wangen, Rachenraum und Gaumen. Je nach Zusammensetzung des Fruchtwassers trinkt sein Badegast mehr oder weniger. Erste Präferenzen und «Lieblingsessen» haben sich entwickelt. Doch trotz ausgeprägter Vorlieben und Abneigungen beim Essen, trotz Diskrepanzen zwischen denjenigen, die Austern als lukullischen Höhenflug empfinden und denjenigen, denen es schon beim Gedanken an das fischige Geschwibbel den Magen hebt, ist der Geschmackssinn der am schlechteste entwickelte Sinn des Menschen. Funktioniert er doch ausschliesslich dann tadellos, wenn Geruchssinn (nicht umsonst heisst «schmöcke» im Schweizerdeutschen gleichermassen «riechen» und «schmecken») und Tastsinn mitspielen. Wer je mit einer verstopften Nase gegessen hat, weiss, dass es zwischen Wurst und Wattepad kaum einen Unterschied gibt.
Wissenschaftler um Thomas Hummel der Universität Dresden haben das mit einem Versuch bestätigt. Probanden, die mit verbundenen Augen eine leicht zuckrige Lösung tranken, empfanden das Getränk als deutlich angenehmer und süsser, sobald es von Erdbeerduft begleitet war. Doch auch der Tastsinn bestimmt mit, wie gerne wir etwas essen. Chips, die nicht knusprig, sondern matschig sind, fliegen in den Müll, Pudding, der hart statt weich ist, ereilt das gleiche Schicksal. Zu recht. Sogar der Sehsinn spielt beim Schmecken eine Rolle: «Selbst Sommeliers kommen in Schwierigkeiten, wenn ihnen die optischen Informationen fehlen», schreibt GEO, «bei einem Blindtest verwechseln sie mitunter sogar Rot- und Weissweine.»
Wie Geschmack entsteht
Was ist schuld daran, ob jemand zum Feinschmecker oder zum Tischbanausen wird? Da spielen mehrere Faktoren eine Rolle: 1. Die Anlage: Angeboren ist, ob jemand zu den Normal-, Super- oder Nichtschmeckern gehört. Superschmecker empfinden beispielsweise Bitterstoffe hundertfach intensiver. Als Kinder sind die Superschmecker beim Essen oft besonders mäkelig, als Erwachsene dagegen in Gourmettempeln zu finden. 2. Vorgeburtliche Prägung: Studien des Europäischen Zentrums für Geschmackswissenschaften in Dijon beweisen: Was Mama in der Schwangerschaft gegessen hat, prägt die Vorlieben des Babys. Hatte etwa die Mutter während der Schwangerschaft häufig Anis gegessen oder Karottensaft getrunken, bevorzugten die Säuglinge den gleichen Geschmack. Auch die Abneigung gegen Knoblauch fiel geringer aus, wenn die Mutter eine Zuneigung zu der Knolle hatte. 3. «Was der Bauer nicht kennt, isst er nicht»: Neophobie nennen Wissenschaftler diese Einstellung. Mag sie auch auf den ersten Blick engstirnig und für Eltern nervig erscheinen, ist sie doch eine kluge Vorsichtsmassnahme. Neophobie, die Angst vor neuen Nahrungsmitteln, erreicht bei Kindern zwischen anderthalb und fünf ihren Höhepunkt. Genau zu der Zeit also, wenn Kinder erstmals selbstständig werden und sich auf eigene Faust von ihren Bezugspersonen entfernen. Die Angst, Unbekanntes zu essen, kann in diesem Alter lebensrettend sein.
«Ich han das nöd gern»
Doch was tun, damit das Kind nicht im «Spaghetti ohne Sauce»-Stadium stecken bleibt?
- Relaxen: Mangelerscheinungen sind bei uns enorm selten, kaum ein Kind bekommt zu wenig Vitamine und Mineralstoffe.
- Vorleben: Studien an Rhesusäffchen zeigen: Kleine Affen probieren nur dann neue Lebensmittel, wenn auch ihre Mitäffchen essen. Bei Menschenkindern greift der gleiche Effekt, allerdings differenzierter. Kinder probieren dann etwas Neues, wenn positiv besetzte Personen das unbekannte Lebensmittel gleichfalls essen.
- Stimmung: Nicht zu unterschätzen ist die Atmosphäre, in der gegessen wird. Ein Lebensmittel wird besonders dann als lecker empfunden, wenn das Drumherum angenehm ist: prima Stimmung, prima Essen. Schokolade und Kuchen, die bei Feiern und besonderen Gelegenheiten auf den Tisch kommen, stehen schon allein von daher auf der Plus-Seite. Umkehrschluss: Streitgespräche bei Tisch oder Süssigkeiten als Belohnung verbieten sich daher.
- Gewöhnung: Zunächst abgelehnte Lebensmittel immer wieder anbieten. «Mere exposure effect» nennen Wissenschaftler die positive Begleiterscheinung der durch die jeweilige Gesellschaft geprägten Gewöhnung. Etwas, das öfter gegessen wird, schmeckt auf die Dauer besser. Je nach Kultur: Robbenspeck, Flughund oder eben Rosenkohl.