Frühchen
Ein kleiner Schubs für die Atmung
Die beiden Striche im Sichtfeld des Teststäbchens sind unmissverständlich: Die Frau, die den 40. Geburtstag bereits hinter sich hat, ist wieder schwanger. Welche Freude! Weil die Geburten der beiden älteren Kinder die Mutter jeweils in Lebensgefahr gebracht haben, wendet sich das Paar diesmal an die Spezialisten des Universitätsspitals. Die erste Ultraschall-Untersuchung bringt eine Überraschung: Es sind Zwillinge, die in der Gebärmutter heranreifen. «Rumms! Da kam die ganze Wucht», notiert der Vater, Thomas Griess, später in einem persönlichen Bericht. Er meint damit nicht nur die «exponentiell wachsende Kinderschar», sondern auch das zusätzliche Risiko, das mit der Zwillingsschwangerschaft verbunden ist. Das Paar fasst Mut, dass die Natur es gut mit ihnen meine, trotz der Risiken.
Alles läuft rund – bis zur 29. Woche: Bei der Kontrolle im Spital offenbart der Ultraschall einen deutlich verkürzten Gebärmutterhals, 2,5 Zentimeter. Es droht eine Frühgeburt. Die Empfehlung des Chefgynäkologen ist «eindeutig und nachdrücklich», wie Thomas Griess festhält: Einweisung der Schwangeren ins Spital noch in derselben Woche, stationärer Aufenthalt, Lungenreifungsinduktion. Die Lungenreife der Zwillinge soll medikamentös beschleunigt werden, damit sie, sollten sie tatsächlich vorzeitig zur Welt kommen, die besseren Startchancen haben.
Lungenbläschen kollabieren
Was hat es auf sich mit dieser Massnahme? «wir eltern» hat den Bericht von Thomas Griess zum Anlass genommen, das Thema etwas auszukundschaften. Fakt ist: In der 29. Schwangerschaftswoche ist die Entwicklung der Lungen noch längst nicht abgeschlossen. Ab der 27. Woche bilden sich die ersten Vorstufen der Lungenbläschen, ab der 28. Woche beginnt die Lunge mit der Produktion von Surfactant. Diese Substanz bewirkt, dass sich die Lungenbläschen entfalten und am Gasaustausch teilnehmen können: Sauerstoff beim Ein-, Kohlendioxid beim Ausatmen. Kommt ein Kind zu früh zur Welt, produziert seine unreife Lunge zu wenig Surfactant. Die Lungenbläschen kollabieren, Sauerstoffmangel und Atemnot sind die Folgen. Das Frühgeborene muss womöglich intubiert und künstlich beatmet werden.
Eine Lungenreifungsinduktion vor der Geburt kann diese Komplikation bei einem Frühchen wesentlich lindern oder sogar verhindern. Dabei bekommt die Schwangere im Abstand von 24 Stunden je eine Spritze mit 12 Milligramm Betamethason in den Gesässmuskel. «Intramuskulär deshalb, weil man vermeiden will, dass die hochdosierte Substanz zu rasch in den Kreislauf gelangt», erklärt Daniel Surbek, Chefarzt Geburtshilfe und Co-Direktor der Frauenklinik am Inselspital Bern. Betamethason ist ein synthetisches Glucocorticoid aus der Gruppe der Steroidhormone, ähnlich wie Cortison, das in seiner natürlichen Form Cortisol in der Nebennierenrinde gebildet wird. Die Steroide bewirken beim Ungeborenen, dass die Produktion von Surfactant angekurbelt wird. Etwa 48 Stunden nach der zweiten Spritze hat das Medikament seine Wirkung entfaltet.
Experiment mit Schafen
Es war ein Neuseeländer, der Gynäkologe Graham Liggins, der die Bedeutung von Steroiden für die Lungenreifung von Frühchen in den 1960er-Jahren entdeckte. Liggins experimentierte zunächst mit Schafen: Er wollte herausfinden, warum vorzeitig geborene Lämmer häufig starben, wenn sie von Hunden gestört wurden, und vermutete, dass es mit ihrer Stressantwort beziehungsweise mit der Ausschüttung des Hormons Cortisol zu tun haben könnte. Bei seinen Versuchen stellte Liggins per Zufall noch etwas anderes fest: Wenn die frühgeborenen Lämmer pränatal mit Corticosteroiden behandelt worden waren, dann entfalteten sich ihre Lungen nach der Geburt quasi normal. «Ich erinnere mich», schrieb er Jahre nach seiner Entdeckung an einen befreundeten Wissenschafter, «wie eines Morgens ein Lamm in seinem Stall bei seiner Mutter lag, ein Tier, das als Fötus Spritzen mit Cortisol bekommen hatte. Zu meiner Überraschung atmete es, ziemlich schwach zwar, aber es war am Leben und atmete. Das sollte eigentlich nicht sein. Es war so extrem unreif, dass seine Lungen wie Leberzellen hätten sein müssen: ausserstande, sich mit Luft zu füllen. Das fand ich sehr überraschend.» 1972 erprobte Liggins den Effekt erstmals an Frauen – mit Erfolg.
«Den Nutzen der Lungenreifungsinduktion haben zahlreiche Studien schon vor vielen Jahren belegt; die Vorteile für frühgeborene Kinder sind unbestritten», sagt Thomas Berger, Chefarzt Neonatologie am Luzerner Kantonsspital. Entsprechend behandelte Frühchen haben nicht nur weniger Probleme mit der Atmung, auch andere Organe sind robuster: Die Kinder haben ein geringeres Risiko, eine Hirnblutung zu erleiden oder am Magen-Darm-Trakt zu erkranken. Insgesamt lassen sich die Überlebenschancen mit dieser Therapie verdoppeln. «80 bis 90 Prozent aller Frühgeburten profitieren davon», sagt Thomas Berger.
Auch Jean-Claude Fauchère, Leitender Arzt der Klinik für Neonatologie am Universitätsspital Zürich, streicht heraus, wie wichtig die Lungenreifungsinduktion für Frühchen sei, damit man sie von Anfang an schonend unterstützen kann. Seit 1991, als eine grosse Übersichtsstudie die letzten Zweifel ausräumte, gilt die Therapie als Standard. Jean-Claude Fauchère: «Während in den 80er- und in den 90er-Jahren Frühgeborene noch relativ oft und lange beatmet werden mussten, kommen heute auch sehr unreife Babys ohne mechanische Beatmung aus», erzählt er. Ihnen genügt oft eine sanftere Atem-Unterstützung mit dem sogenannten CPAP – einer kleinen Maske, über welche die Babys etwas zusätzlichen Druck und Sauerstoff bekommen. Jean-Claude Fauchère betont, dass die Lungenreifungsinduktion trotz aller Vorteile mit Bedacht eingesetzt werde. Sei eine Wiederholung nötig, dann warte man damit mehrere Wochen, weil zu häufige Wiederholungen dem Ungeborenen sogar schaden könnten.
Dagegen entschieden
Zurück zum Bericht von Thomas Griess und der drohenden Frühgeburt der Zwillinge in der 29. Woche: Wie hat das Paar auf die Empfehlung des Chefgynäkologen reagiert? Sie fahren erst einmal nach Hause, um den Schreck zu verdauen und nachzudenken. Sie erkundigen sich im Bekanntenkreis nach Müttern und Vätern, die in einer ähnlichen Situation gewesen sind, und erfahren, dass die Therapie zwar medizinisch unumstritten, aber für die werdende Mutter mit Stress verbunden ist. Mit Hitzegefühl im Kopf, vorübergehend höherem Blutdruck und einer Unruhe in der Gebärmutter, die oft mit Wehenhemmern behandelt wird. Dazu die Sorgen um die Schwangerschaft, welche die Frau im Spital allein tragen muss. Der Chefarzt hat die Prophylaxe zwar nachdrücklich empfohlen; aber als Thomas Griess nachfragt, ob diese zu diesem Zeitpunkt absolut notwendig sei, lautet die Antwort «Nein».
Die Eltern folgen ihrem Instinkt und entscheiden sich gegen die Lungenreifung. Sie kommen bei allem Respekt für die Schulmedizin zum Schluss, dass für sie der natürliche Verlauf der Schwangerschaft wichtiger ist als medizinische Routine. Ihre eigenverantwortliche Haltung sollte sie nicht enttäuschen: Die Zwillinge kommen nach 36 Wochen plus 1 Tag als Spontangeburten zur Welt. Das ist immer noch zu früh, doch es geht ihnen gut.