Super-Carer
Generation Sandwich: sie kümmern sich um alte Eltern und kleine Kinder
Die eigenen Eltern kommen nicht mehr allein klar, die Kinder noch nicht. Wer sich um beide Seiten kümmern muss, weiss: Stress gibts auch in Grossbuchstaben.
Das Winken zum Abschied war jedes Mal schlimm. Für mich. Meine Mutter dagegen hielt sich tapfer. Lächelte, blinzelte Tränen weg: «Gute Fahrt, Mäuschen, und grüss mir das Kind.» Ihr Leben ging zu Ende, das meiner Tochter gerade erst los. Und dazwischen: ich. Wochenende, das bedeutete mehrmals im Monat 700 Kilometer auf der Autobahn Richtung Oma, 700 Kilometer zurück, manchmal mit Kind auf der Rückbank, manchmal ohne. Hastig outgesourct zu einer Freundin. Stress pur. Obwohl – Stress ... Meiner Schwester gegenüber habe ich mich mal lieber nicht getraut, meinen Stress überhaupt zu erwähnen. Schliesslich war sie es, die vor Ort war. Immer ansprechbar. Immer zuständig. Für zwei Kinder, einen Job, eine alte Mutter. Für Telefonate wie «Ihre Mutter ist gestürzt, Sie müssen sofort ins Spital kommen», für eilig gepackte Krankenhausköfferchen, für Einkäufe inklusive Sonderwünsche – denn schliesslich geht nur diese eine spezielle Sorte Saft –, fürs Giessen der jetzt verwaisten Topfpflanzen, für Arztgespräche, Formulare, Anträge, mehr Anträge. Fürs Wäsche mitwaschen, Trösten, Fahnden nach der Lesebrille, die dummerweise nicht im Köfferchen ist, fürs Sausen zu Apotheke, Bank und zu Seniorenwohnheimbesichtigungen ... Und das alles während der Dienstzeiten, bitteschön. Dazu Reitturnier von Kind A, Geburtstag von Kind B, Haushalt, Beruf.
Vor allem Frauen kümmern sich um Kinder und Eltern
Ja, Stress gibt es auch in Grossbuchstaben. 220 000 bis 260 000 Menschen werden in der Schweiz im Alter von ihren Familienangehörigen gepflegt. Von den über 80-Jährigen leben 80 Prozent daheim. Das ist schön – doch oft nur möglich, wenn ihre Söhne und Töchter tüchtig mithelfen. Ehrlicherweise: meist die Töchter, denn Care-Arbeit ist noch immer weiblich. In 3 von 4 Fällen gilt das auch in Bezug auf die Unterstützung der älteren Generation. Und: Jede zweite Frau zwischen 40 und 59 Jahren kümmert sich, nach einer Erhebung des deutschen Allensbach-Institutes, zeitgleich sowohl um die eigenen Eltern als auch um die Kinder.
Der Druck kommt von allen Seiten gleichzeitig
«Generation Sandwich» werden die Betroffenen schon mal genannt. Wobei man sagen muss: «Sandwich» ist ein krasser Euphemismus. Schliesslich sind bei einem Sandwich Wurst oder Käse nur zwischen ZWEI Scheiben eingeklemmt. Eine oben, eine unten. Die meisten der Sandwich-Frauen dagegen sind von allen Seiten unter Druck: zu alten Eltern und jungen Kindern kommen noch Beruf, Haushalt, Partnerschaft ... In den Schwitzkasten genommen zu werden, ist gemütlich dagegen und von kürzerer Dauer. Allein der Gedanke «Wie bringe ich nur alles unter einen Hut?» ist oft über Jahre hinaus müssig. So grosse Hüte gibt es genauso wenig wie Tage zum Aufblasen. Irgendetwas wird zu kurz kommen. Und das sind die Frauen selbst. Wenn, laut österreichischen Untersuchungen, jede zweite Person, die ein betagtes Elternteil pflegt, mit Burn-out-Symptomen zu kämpfen hat, wie sieht dann wohl erst die Rate bei betreuenden Müttern aus? Dazu gibt es keine Zahlen.
Marlene Waller*
Die Welt schnurrt zusammen
«Burn-out? Erschöpfung?» Marlene Waller* (50) aus dem Kanton Uri lacht ein leicht gepresstes Lachen. «Ich habe nun wirklich keine Zeit gehabt, in mich reinzuhören und darüber nachzudenken, wie ich mich wohl so fühle. Ich musste ja funktionieren», zwischen Kindern, zwei herzkranken Elternteilen, Beruf, Mann und Haushalt. «Erholung», «Selbstfürsorge», «Partnermomente», «MeTime» ... Das sind Vokabeln, die in dieser Phase klingen wie aus einem Wörterbuch in fremder Sprache. In schlechten Momenten klingen sie wie Hohn.
«Trotzdem mache ich das gerne», versichert Marlene Waller, «auch die Kinder mögen es, mitzukommen und mit den Grosseltern zu spielen. Die innigen Momente möchte ich nicht missen.» Diese Zeit, wenn die Welt da draussen zusammenschnurrt und alles, was sonst furchtbar wichtig erscheint, nichtig wird, hat auch etwas Schönes. Sie relativiert vermeintlich riesige Probleme wie versemmelte Franz-Arbeiten des Jüngsten, vergessene Hochzeitstage oder blöde Kunden im Job und intensiviert die kleinen Momente: Diese Minuten, wenn man der Mutter die Haare bürstet oder gemeinsam über alte Fotos lacht, auf die man bei der Wohnungsauflösung stösst. Das ist schön.
Sich bloss nicht beklagen
Zudem wollen betreuende Angehörige um Himmels willen nicht falsch verstanden werden. Bloss nicht, dass es sich anhört, als seien die Eltern eine Last, hätte man selbst nicht ausreichend Zeit für die Kinder oder käme das Engagement im Beruf zu kurz. Deshalb möchten die meisten, die hier ihre Geschichte erzählen, anonym bleiben. Wer will schliesslich, dass Chef:innen lesen, wie gestresst man ist? Die Lehrer:innen der Kinder erfahren, dass diese ab und an schlicht vor dem Fernseher geparkt werden, weil gerade bei Oma wieder Land unter ist? Auch die Leute im Dorf geht es nichts an, dass die Eltern jetzt tüddelig werden. Das ist zu privat. Das möchte keiner und sorgt dafür, dass sich die Betroffenen sehr allein fühlen. Über die Suche nach einer geeigneten Kita kann man reden, aber über die Suche nach einem Pflegeheim? Übers Sauberwerden der Kinder tauscht man Tipps, aber übers «Unsauberwerden» der Eltern? Schwierig. 33 Prozent der Betreuenden finden, laut österreichischer Studien, das ganze Thema sei ein grosses Tabu.
Dschungel aus Anträgen
Für Patrick Hofer ist es keines mehr. Der 48-jährige zweifache Vater aus Zürich ist Mitbegründer von «Swiss Carers». Die Organisation hat zum Ziel, den «Carern», den Helfenden, ihrerseits zu helfen, eine Schneise durch den Dschungel aus Anträgen, aus seriösen und unseriösen Unterstützungsangeboten, zustehenden Geldern und auch den Rechten am Arbeitsplatz zu hacken. Ausschlaggebend dafür, seinen Ursprungsjob als Unternehmensberater hinzuschmeissen und stattdessen die Organisation zu gründen, war die grosse Frage: «Wie schaffen das bloss andere?» Ihm selbst war gerade ein lukrativer Auftrag geplatzt, weil er notfallmässig zu seinem gestürzten Grosi nach Luzern sausen musste. Seine beiden Jungs damals: zwei und vier. Seine Frau ebenfalls berufstätig, die eigenen Eltern verstorben. Und jetzt plötzlich das mit der Grossmutter. Tja, wie schaffen das andere?
Die meisten reduzieren ihr bezahltes Arbeitspensum
Nicht besonders gut schaffen die das, wenn man sich die Schweizer Studie «Age Care Suisse Latine» ansieht. Auch wenn sich schweizweit inzwischen «Carer» von der Spitex anstellen lassen können und manche Kantone wie etwa Glarus, Graubünden, Luzern und beide Basel ihnen «Anerkennungsbeträge» von bis zu 900 Franken monatlich auszahlen, sieht die Situation trotzdem meist so aus: 18 Prozent der weiblichen pflegenden Angehörigen reduzieren ihr Arbeitspensum, 16 Prozent geben ihren Job ganz auf, 5 Prozent von ihnen lassen sich vorzeitig pensionieren – mit entsprechenden Einbussen bei der eigenen Altersvorsorge. Von den männlichen Pflegenden nahmen 20 Prozent berufliche Einschränkungen in Kauf. Wie Patrick Hofer. «Ich bereue das nicht», betont er. «Es war auch lustig, wenn meine Jungs mit der Uroma Duplotürme gebaut haben oder sie auf ihrem Rollator mitfahren durften.» Und noch heute, sieben Jahre später, erzählt er, profitierten seine Buben von dieser Zeit. Ihr Umgang mit alten Menschen sei auffallend unbefangen, empathisch und sanft. «Für meine beiden ist es selbstverständlich, alten Menschen die Tür aufzuhalten oder sie spontan beim Weg über die Strasse an die Hand zu nehmen. Das macht mich stolz. Sie haben Wichtiges fürs Leben gelernt.»
Patrick Hofer
Grosi will das nicht
Doch damals habe ihm vor allem der Kopf geschwirrt. Wie organisiert man von jetzt auf gleich das Leben eines anderen Menschen? Sollen wir ein Heim suchen? Nein, wir suchen kein Heim, weil Oma das nicht will. Welche ambulanten Pflegedienste gibt es? Waaas, die kosten bei einer Rundum-die-Uhr-Betreuung bis zu 30 000 Franken monatlich? Ja, wer kann denn das bezahlen? Könnte vielleicht eine Studentin beim Grosi schlafen? Oder ich? Und sprechen wir mit unseren Kindern über Grosis Situation, darüber, dass sie jetzt auch ein bisschen wird wie ein Kind, nur eines mit Vergangenheit? Keine Antwort ist leicht zu finden. Ausser auf die letzte Frage, denn da heisst die Antwort klar: ja. Altersgerecht natürlich.
Meine Tochter hat das immer – okay, meist – gut verstanden. Hat erstaunlich wenig auf den langen Autofahrten gequengelt, sich in Krankenzimmern braver benommen als üblich und die Oma aufgeheitert, so gut sie konnte. Dass Menschen Hilfe benötigen, ist für Kinder das Normalste der Welt. Wo auf dem Weg zum Erwachsenwerden geht das verloren? Zu welchem Zeitpunkt verliert Leid seine Lobby? Und wieso macht sich irgendwann die fatale Überzeugung in unseren Köpfen breit, dass Care-Arbeit reine Privatsache ist, «Gedöns», über das man besser schweigt?
Im Jahr 2050 jedenfalls haben unsere Kinder in vielen Fällen selbst Kinder. Hierzulande werden dann 1,2 Millionen Menschen unterstützungsbedürftig sein: wir.