
Ruben Wyttenbach
Babyfenster
Die Pflegefamilie nach der Babyklappe
25 Neugeborene wurden bis Ende 2020 in der Schweiz in ein Babyfenster gelegt. In Pflegefamilien finden sie ihr erstes Zuhause. Maria und Lorenz Schmid haben zwei dieser Babys aufgenommen.
Ein Klick ins Inhaltsverzeichnis führt direkt auf ein spannendes Unterthema im Text:
- Ein Neugeborenes im Babyfenster
- Schwieriger Start ins Leben
- Geheimhaltung um Rummel zu vermeiden
- Ein Geschwisterchen auf Zeit
- Adoptiveltern sind ausgewählt
- Das Baby zieht zu den Adoptiveltern
- Weiter in Kontakt mit dem Baby
- Appell an die leiblichen Mütter
Ein düster-kalter Nachmittag in einem Dorf, irgendwo in der Schweiz. Hier leben Maria und Lorenz Schmid*. Sie ist Sozialpädagogin, 37 Jahre alt, er ist 38 und Physiker. Drei eigene Kinder haben die Schmids, zwischen sieben und elf Jahren. Und ein vierjähriges Pflegekind. An diesem tristen Nachmittag erzählen
Maria und Lorenz Schmid von jener Zeit, als sie zwei Babys bei sich zur Pflege aufgenommen hatten. Das war in den Jahren 2014 und 2017. Beide Kinder waren zuvor in ein Babyfenster gelegt worden. Ein kleiner, wuscheliger Hund liegt auf dem Wohnzimmerteppich und schläft.
«Den Hund haben wir geholt, nachdem wir das zweite Baby den Adoptiveltern übergeben hatten», erzählt Maria Schmid. «Wir wünschten uns für unsere Kinder jemanden, der bei uns bleibt und sie über die Abschiede hinwegtrösten kann.»
Ein Neugeborenes im Babyfenster
Es war ein Montagmorgen im August 2014. Eine Mitarbeiterin von Familynetwork ruft an, einer Institution der Stiftung Kinderheim Brugg (AG), die unter anderem im Bereich Pflegekinderwesen tätig ist. «Wir hatten dort vor einiger Zeit ein Dossier eingereicht und uns als Pflegeeltern angemeldet», sagt Maria Schmid. Doch was jetzt kam, damit hatten sie nicht gerechnet.
Ein Neugeborenes sei in der Nacht zum Sonntag in eine Babyklappe gelegt worden. Ob die Familie das Kind für etwa sechs Monate in Pflege nehmen wolle, bis das weitere Verfahren abgewickelt sei und es an Adoptiveltern übergeben werden könne. «Wir waren überrumpelt, hatten eher an ein Kind gedacht, das wir über längere Zeit in Pflege nehmen könnten», erzählt Lorenz Schmid. Doch dann, nach kurzem Überlegen, sagten sie zu. Drei Tage später sollten sie das Kind im Spital abholen. Es war eine Riesenaufregung und Vorfreude. Sie waren nicht mehr auf ein Baby eingestellt. Alles musste erst hergerichtet werden. Für das neue Familienmitglied auf Zeit.
Schwieriger Start ins Leben
Die Gefühle, als sie das Mädchen zum ersten Mal sahen, beschreiben sie als eine Mischung aus Betroffenheit und Freude. «Sie war so winzig und herzig.» Als die Kleine im Babyfenster aufgefunden worden war, sei sie hübsch gekleidet gewesen, gut versorgt und gesund. «Es war sehr berührend, wie liebevoll sich die Hebammen um das Baby gekümmert haben», erzählen sie. Alle verabschiedeten sich persönlich von dem Mädchen, gaben Geschenke mit auf den Weg. Darunter ein Foto-Buch mit Bildern der ersten Lebenstage, mit schönen Wünschen.
Das Baby hatte einen schwierigen Start ins Leben. Aber es wurde aufgefangen in einer Atmosphäre mit Liebe, Wohlwollen und Wärme. Später wird man dem Mädchen sagen können: «Du wurdest von Anfang an geliebt.» Ein tröstlicher Gedanke, finden die Pflegeeltern.

Geheimhaltung um Rummel zu vermeiden
An diesem Tag im August 2014 brachten sie das Baby nach Hause. Ihre Kinder warteten gespannt und freuten sich. «Wir wussten, wir können das. Das gab uns eine schöne Ruhe», erzählt Maria Schmid. Die erste Nacht aber sei schon seltsam gewesen. Oben im Zimmer schlief ein Baby, doch da war noch nichts Verbindendes, Vertrautes. Was braucht es? Wann trinkt es? Kommt es damit zurecht, dass es wo anders ist? Sie wussten nichts von ihm.
Auch die ersten Abende mit dem Kind im Arm auf dem Sofa haben Maria Schmid emotional sehr berührt. «Es hatte niemanden, ausser irgendwelchen Menschen in einem Büro, die über seine Zukunft entscheiden werden. Das war schon ein spezielles Gefühl.» Die Tage vergingen, das Mädchen wurde fester Bestandteil der Familie. «Sie war sehr ruhig und freundlich und weinte wenig», erinnert
sich Maria Schmid und bestätigt damit das «Phänomen der Babyklappen-Babys», die alle auffällig ruhig und zufrieden sind. So, als wenn sie wüssten, dass sie besonders brav sein müssen, weil sie sonst niemanden haben auf der Welt.
Ausser ihren Eltern durfte das Ehepaar niemandem von der Vorgeschichte des Kindes erzählen. Vor allem, um einen allfälligen Medienrummel zu vermeiden. Ihre eigenen Kinder seien beim ersten Baby noch zu jung gewesen, um es zu verstehen.
Ein Geschwisterchen auf Zeit
Die Fragen kamen erst 2017, mit dem zweiten Babyklappen-Kind. «Sehr schön
war, dass es für unsere Kinder keine Frage war, für die Babys zu sorgen», sagt Lorenz Schmid. Obwohl sie wussten, dass es nicht lange bleiben wird, dass ein Abschied unvermeidbar ist. «Es hat ja keine Mami», haben die Kinder gesagt. Es seien wichtige Werte, die sie ihren Kindern vermitteln können. Sich um andere zu kümmern, die nicht so viel Glück haben. «Viel praktischer kann man das nicht lernen.»
Die beiden Babyklappen-Kinder waren für die Schmids wie eigene Babys. «Man freut sich genauso über das erste Lächeln, die schönen, kleinen Eigenheiten und Fortschritte», so Maria Schmid. Es gab keine bewusste Entscheidung, sich emotional zurückzuhalten. Eher etwas Leises, Unbewusstes, so, damit man die Trennung dann auch schafft.
Adoptiveltern sind ausgewählt
Denn jeder Tag der vergeht, ist gleichzeitig ein Tag näher beim Abschied. Nach rund fünf Monaten kam dann auch die Nachricht: Die Adoptiveltern waren ausgewählt.
«Bevor sie das erste Mal vor der Tür stehen, ist man schon nervös», erzählt Lorenz Schmid. Was, wenn sie nicht sympathisch sind? Das wäre schwierig gewesen. Die Befürchtung bestätigte sich nicht. Bei beiden Babys besuchten die Adoptiveltern ihr zukünftiges Kind über einen Monat regelmässig, übernachteten auch ein paar Mal bei der Familie Schmid. Um das Elternsein zu üben.
«Die Babys waren ihnen gegenüber neugierig und offen, in diesem Alter fremdeln sie noch nicht so sehr», so Maria Schmid. Die Adoptiveltern konnten sich langsam an ihr Kind herantasten. Es seien schöne, sanfte Prozesse gewesen. Mit intimen Momenten und tiefen Emotionen. «Für uns war es sehr schön, die Paare, die lange sehnlichst auf ein Kind gehofft hatten, beim Familie-Werden zu begleiten», erzählt Maria Schmid. Und es hat auch ihnen selbst geholfen, die Babys loslassen zu können.
Das Baby zieht zu den Adoptiveltern
Die Übergabe an die Adoptiveltern war bei beiden Kindern sehr speziell. Schmerz vermischt mit der Freude, dass die Kinder jetzt richtige Eltern haben. Der Tag wurde von den Adoptiveltern liebevoll gestaltet. Nicht zuletzt, damit den Kindern der Familie Schmid nicht nur Trauriges, sondern auch Schönes in Erinnerung bleibt. Zum Beispiel das gemeinsame Pflanzen eines Baumes im Garten, oder das
Angeln am See.
Aber ja, der Moment des Abschieds war hart. Es sind viele Tränen geflossen. Bei allen.
Weiter in Kontakt mit dem Baby
«Grundsätzlich sind wir in diesem Prozess bedeutungslos. Es gibt keine Verpflichtung, den Kontakt zu uns weiter bestehen zu lassen», sagt
Lorenz Schmid. Damit haben sie rechnen müssen. Und das wäre schwierig gewesen. Aber, noch heute stehen sie in regelmässigem Kontakt mit den beiden Familien. Sie waren bei Taufritualen dabei, an Geburtstagsfeiern. Familie Schmid bekommt immer wieder Fotos zugeschickt, vom ersten Zahn, den ersten Schritten, dem ersten Spielgruppentag. «Wir sind Freunde geworden. Es wurde uns nichts genommen, wir haben dazu gewonnen.»
Die leiblichen Mütter sind im Alltag der Kinder zwar nicht anwesend aber präsent. Etwa bei der Taufe des einen Kindes, an der die Adoptivmutter einen emotionalen Brief an die Mutter vorgelesen hat. Heute sind die beiden drei und sechs Jahre alt, sie wissen von ihrer Geschichte. «Es wird nie einen Tag X geben, an dem den Kindern alles erzählt wird. Sie wachsen einfach damit auf, und das ist sehr wichtig», so Lorenz Schmid.
Appell an die leiblichen Mütter
Die Schmids haben grossen Respekt vor den leiblichen Müttern. «Es war sicher keine leichtfertige Entscheidung, die Kinder zur Welt zu bringen, im Wissen, sich trennen und den Schmerz ertragen zu müssen. Ein Leben lang.» Adoptiv- wie Pflegeeltern seien diesen Frauen dankbar, dass sie den Babys das Leben geschenkt haben.
Ihr Appell an die Mütter: «Meldet euch! Wir wünschen sehr, dass sie sich irgendwann überwinden, den Schritt doch noch zu machen.» Das wäre eine schöne Möglichkeit, einander doch noch kennen lernen zu dürfen. Von den Adoptiveltern «ihrer» Babys wissen sie jedenfalls, dass sie für eine Kontaktaufnahme offen wären. Und noch etwas möchte das Ehepaar Schmid den beiden Müttern sagen: «Euren Kindern geht es gut.»
Namen zum Schutz des Pflegekindes geändert.
Babyfenster: Kontakt der leiblichen Eltern zum Kind auch nach Jahren möglich
Seit 2001 gibt es in der Schweiz Babyfenster. Bis Ende 2020 wurden in den mittlerweile acht Babyfenstern 25 Kinder hineingelegt, das letzte am 16.11.2020 in Basel.
Leibliche Mütter (und Väter) können sich jederzeit bei den zuständigen Behörden melden. Selbst, wenn bereits mehrere Jahre vergangen sind. Zuständig ist jeweils die Gemeinde, in der das Kind in ein Babyfenster gelegt wurde. Eine Meldung bei den Behörden hat für die Mutter und/oder den Vater keine strafrechtlichen Konsequenzen.
Die leiblichen Eltern haben das Recht auf das Kind nach einer Frist von 12 Monaten nach Abgabe an die Adoptiveltern verwirkt. Die Adoption des Kindes ist danach rechtsgültig. Die Adoptiveltern müssen mit dem Kontakt ihres minderjährigen Adoptivkindes zu den leiblichen Eltern einverstanden sein. Die Vermittlung erfolgt über die Behörden. Mit 18 Jahren kann ein Kind selbst mögliche Schritte unternehmen.
Als Quereinsteigerin in den Journalismus schreibt Anita Zulauf erst für die «Berner Zeitung», die Migrationszeitung «Mix», nun bei «wir eltern» und als freie Journalistin bei dem Kulturmagazin «Ernst». Sie mag Porträts und Reportagen über Menschen-Leben und Themen zu Gesellschaft und Politik. Als Mutter von vier Kindern hat sie lernen müssen, dass nichts perfekt, aber vieles möglich ist.