Geburt im Familienkreis
Die Geburt als Familien-Event
Hand aufs Herz: Können Sie sich vorstellen, dass Ihr älteres Kind bei der Geburt seines Schwesterchens oder Brüderchens dabei ist? Sieht, wie Sie leiden, schwitzen, schreien? Bei kaum einem Thema rund ums Gebären sind die Meinungen und Urteile so blitzschnell gefällt wie bei diesem. Für die meisten hat die Idee etwas Befremdliches, sie löst Kopfschütteln aus, manche finden sie degoutant oder sogar krank. Auch die Kommentare in Internet-Diskussionsforen lassen keinen Zweifel über die provokative Kraft einer Geburt im Familienkreis: «Die Geburt ist eine blutige, schmerzhafte Angelegenheit, bei der selbst gestandene Männer reihenweise umkippen. Was bitteschön hat ein Kind dabei zu suchen?» Oder: «Ich will nicht, dass mein Kind mich so leiden sieht, ich hätte Angst, dass es das Erlebnis nicht verkraftet und traumatisiert wird.» Und: «Eine sehr schlechte Idee, das Jugendamt sollte besser keinen Wind davon bekommen.»
Leanne und Thomas Holenstein aus Hombrechtikon ZH haben das Unerhörte gewagt. Joshua und Sasha waren bei der Geburt von Tyler hautnah dabei. Joshua war zweieinhalb, Sasha knapp eineinhalb Jahre alt. Es war eine Hausgeburt geplant, die dritte bei Holensteins. Die Grossmutter hätte die Buben zu sich genommen, doch den Eltern war wichtig, dass sie zu Hause blieben. «Wir befürchteten, dass sie eifersüchtig auf das Geschwister reagieren könnten, wenn wir sie fortgeben würden», sagt Leanne Holenstein (34).
Eine Hausgeburt kehrt alles um: Die Mutter geht zum Gebären nicht weg, die Hebamme kommt zu ihr. Dafür müssen die Geschwister ausser Haus, damit die Mama ungestört Wehen veratmen, stöhnen und pressen kann. «Nicht unbedingt», findet die freiberufliche Hebamme Barbara Schwärzler: «Unbestritten ein Vorteil der Hausgeburt ist: Die Kinder müssen nicht zur Oma gefahren werden, wenn es wie so oft mitten in der Nacht los geht, sie können einfach weiterschlafen.»
Alle drei schrien zusammen
Als Tyler sich ankündigt, ist alles andere als Schlafenszeit. Leanne Holenstein kommt gerade von der Schwangerschaftskontrolle bei Barbara Schwärzler zurück, kurz vor 14 Uhr. Das heftige Ziehen im Kreuz, das sie plötzlich verspürt, kann nur eines bedeuten: Wehen. «Bis die Hebamme und mein Mann da waren, drückte mir Joshua bei jeder Wehe eifrig seine kleinen Händchen auf mein Kreuz», erzählt die Mutter. Um 16 Uhr trifft Paula ein, eine Freundin, die Joshua und Sasha betreuen wird. Leanne geht jetzt in den oberen Stock, wo Barbara Schwärzler das Gebärbecken gefüllt hat. Auch die Jungs, vom Rauschen des Wassers angezogen, sind bereits da – und bald schon mit im Wasser. «Für einmal waren sie überhaupt nicht wild, sondern richtig liebevoll», erinnert sich Leanne.
Es ist kurz vor sechs, als die erste Presswehe kommt. Leanne bittet Paula, die Kinder herauszunehmen. Die beiden protestieren und beginnen im Treppenhaus zu weinen. «Bei der nächsten Presswehe schrien wir alle drei zusammen, da sagte ich, ‹holt sie wieder rein. Wenn ich weiss, dass sie weinen, kann ich mich nicht konzentrieren›. » Nun geht alles sehr schnell. Noch eine Presswehe und Tyler ist da. «Es war eine Traumgeburt. Für alle», sagt Leanne im Nachhinein. Ihr Mann Thomas pflichtet ihr bei.
Für Gisela Burri, Hausgeburtshebamme seit 30 Jahren, ist eine solche Geburt keine Seltenheit, aber immer etwas Spezielles. «Es sind die allerschönsten Erlebnisse in meinem wunderschönen Beruf.» Im Geburtshaus Zürcher Oberland, wo Burri ebenfalls arbeitet, kommt eine Geburt mit Geschwistern ein bis drei Mal vor pro Jahr. Unvorstellbar für das Personal im Spital: «Kinder gehören unter der Geburt nicht in ein Gebärzimmer. Es macht ihnen in der Regel Angst, wenn sie sehen, wie die Mutter leidet oder schreit», sagt Dr. Patric Beer, Chefarzt im Spital Bülach. Nur sehr selten komme es vor, dass ein älteres Kind in den Gebärsaal komme. Keine Erfahrung damit hat man im Inselspital Bern. «In meinen sechs Jahren in der Frauenklinik habe ich das nie erlebt», sagt die leitende Hebamme Jolanda Rentsch, «auch in meinen gesamten 22 Hebammen-Jahren in anderen Spitälern nicht.»
In ihrem gewohnten Umfeld ist eine Geburt für Kinder keine Überforderung, ist die Hebamme Barbara Schwärzler überzeugt. Ein paar Regeln, klar, müssen eingehalten werden: Die Hebamme muss damit einverstanden sein, und auch das Kind und die Mutter müssen es wollen – Freiwilligkeit ist Voraussetzung. Das Kind muss das Gebärzimmer jederzeit verlassen können, eine vertraute Bezugsperson steht ihm zur Verfügung. Viel mehr nicht. Die Kinder würden selbst «dosieren», wie nah sie am Geschehen sein wollten, sagt Barbara Schwärzler: «Sie wissen sehr genau, was sie sehen wollen und vertragen können. Wird es ihnen zu viel, gehen sie raus.» Doch was, wenn das Schlimmste eintrifft, wenn das Neugeborene oder die Mutter mit der Ambulanz ins Spital müssen, das Baby tot auf die Welt kommt? Eine Totgeburt zu Hause hat Barbara Schwärzler noch nie erlebt, Spitaleinweisungen schon. «Wird das Kind umsichtig betreut, wird es dadurch nicht traumatisiert. Es lernt im Gegenteil, dass Leiden und Tod zum Leben gehören.» Vor 70, 80 Jahren, als die Mehrheit der Frauen zum Gebären auch bei uns noch nicht ins Spital gingen, war die Anwesenheit von Geschwistern bei der Geburt Alltag. So wie das in anderen Kulturen, beispielsweise bei traditionell lebenden Mongolen, auch heute noch normal ist.
Das alles hat sich auch Bettina Zimmermann (43) überlegt, immer wieder. «Leichtfertig habe ich nicht entschieden, doch ich merkte, dass die Ängste nicht überhand nehmen durften, ich wollte mit ihnen fertig werden. » Die 43-Jährige hatte ihr erstes Kind Tizia im Spital geboren, das zweite zu Hause und nun stand die Entscheidung für das dritte an. «Beim zweiten war ich total cool, hatte absolut keine Angst gehabt», erzählt sie. «Ich verliess mich auf die Hebammenaussage, dass Kinder selbst regulieren können, was sie vertragen.» Für Tizia, damals achteinhalb, war klar, dass sie bei der Geburt dabei sein wollte. Die Eltern und die Hebamme hatten ihr erklärt, wie ein Kind geboren wird und sie fand es spannend, das mitzuerleben.
Tizia, die rechte Hand der Hebamme
Doch wie die Geburt verläuft, weiss im Voraus niemand. Bettina Zimmermann hatte drei Stunden lang heftigste Wehen. «Ich schrie mir das ganze Leiden der eher schwierigen Schwangerschaft aus dem Leib», erinnert sie sich. Tizia half der Hebamme wo sie konnte, brachte Lavendelkompressen, warmes Wasser und wollte der Mama die Hand halten. «Jetzt nicht, sonst verquetsche ich sie dir», stöhnte Bettina Zimmermann. Ein bisschen Angst habe sie schon gehabt, sagt die heute 15-jährige Tizia, «es ist nicht angenehm, wenn die Mutter so leidet und schreit.» Doch dann war Vivan da, gesund und «mega herzig», so Tizia, und alle glücklich.
Fünfeinhalb Jahre später die dritte Geburt. «Tizia wollte unbedingt wieder dabei sein», erzählt Bettina Zimmermann. Um sie habe sie sich keine Sorgen gemacht. «Bei Vivan allerdings war ich mir nicht sicher, wie er es ertragen würde, mich leiden zu sehen.» Auch sie selbst fragte sich, ob es ihr nicht zu eng sein würde in der 4-Zimmer-Wohnung, mit so vielen Zuschauern.
Die Geburt begann mitten in der Nacht. Gegen vier Uhr wurden die Kinder durch das Hin- und Her in der Wohnung wach. «Ich war total überrascht, weil man Bettina gar nicht hörte», erzählt Tizia. Die 15 Jahre Yoga-Praxis hätten sich wohl bezahlt gemacht, meint Bettina Zimmermann: «Statt zu schreien konnte ich dieses Mal die Wehen gut veratmen.» Auch Vivan erinnert sich: «Ich bin immer wieder güggsle gegangen. Aber nur kurz, weil ich Angst bekam.» Eine Freundin sei da gewesen, die hätte ihm Geschichten erzählt, es sei schon sehr speziell gewesen. «Am nächsten Morgen ging ich mit Tizia Gipfeli poschte und habe allen Nachbarn erzählt, dass Endo auf die Welt gekommen ist.» Der Erstklässler strahlt stolz übers ganze Gesicht.
Unwahrscheinlich schön sei es gewesen, zu Hause bleiben zu können, im eigenen Reich, mit allen Familienmitgliedern, sagt Bettina Zimmermann. Und: «Es lohnt, sich von Institutionen, Meinungen und Vorurteilen zu emanzipieren, herauszufinden, was man selbst will. Eine solche Geburt gibt eine unglaubliche Power.»
Interview mit Jlona Costan-Dorigon, Kinder- und Jugendpsychologin FSP
wir eltern: Dürfen Kinder aus kinderpsychologischer Sicht bei einer Geburt dabei sein?
Jlona Costan-Dorigon: Ich rate nicht generell davon ab, aber eine gewisse Vorsicht und Voraussicht ist angebracht. Das Kind muss aus freiem Willen dabei sein und es muss von einer engen Bezugsperson betreut werden, mit der es jederzeit den Raum verlassen kann. Zudem haben ihm die Eltern erklärt, wie eine Geburt in etwa abläuft und welche Instrumente gebraucht werden. Entwicklungspsychologisch ist für ein Kleinkind ein Ereignis wie eine Geburt schwierig zu verstehen. Kinder ab dem Schulalter können die Situation besser einordnen.
Besteht die Gefahr, dass das Kind traumatisiert wird, wenn es miterlebt, wie die Mutter schreit, stöhnt und leidet?
Es ist möglich, muss aber nicht sein. Unter Umständen übernimmt es gewisse Symptome und reagiert zu einem anderen Zeitpunkt plötzlich mit Bauchweh oder Schmerzen. Ein stimmiges Umfeld schmälert das Risiko einer Traumatisierung. Wichtig ist, dass das Kind auch die Freude miterlebt, wenn das Baby da ist und in den Armen der Mutter liegt.
Wieso findet die Mehrheit von uns es derart abwegig, dass ältere Geschwister bei einer Geburt dabei sind?
Das ist kulturell bedingt. Anders als in anderen Kulturen ist bei uns die Geburt eine Sache der Gebärenden, der Hebamme, des Arztes und heute auch noch des Vaters. Sie ist etwas sehr Intimes. Dass Geschwister dabei sind, ist selten und uns deshalb fremd. Wir möchten die Kinder davor schützen, Leiden, Schmerz und Blut zu sehen.
Ist das klug?
Es ist die Aufgabe der Eltern, die Kinder fern zu halten von traumatischen Situationen. Für die Kinder ist es jedoch auch eine Entwicklungsaufgabe, mit Leid umgehen zu lernen. Auch sie verletzen sich oder sind mal traurig. Kinder lernen von den Eltern, wie man mit Leid und Schmerzen umgeht.
Könnte es sein, dass das ältere Kind das Baby ablehnt, wenn es mitbekommt, wie sehr die Mama leidet bei der Geburt?
Es kann nach jeder Geburt vorkommen, dass das ältere Geschwister das Neugeborene ablehnt. Häufiger ist sicher, dass sich das ältere Kind ausgegrenzt fühlt, wenn die Mutter nach mehreren Tagen Abwesenheit mit einem Baby nach Hause kommt, das überdies fast ihre ganze Aufmerksamkeit braucht. Das führt oft zu Ablehnung. Für den Aufbau der Beziehung kann es gar förderlich sein, wenn das ältere Kind dabei sein darf, wenn das Baby willkommen geheissen wird. Das kann eine Verbindung schaffen.