Landhebamme
Der rote Baby-Express
Engel überall: In Luzia Brands Wohnung und in ihrer lichtdurchfluteten Hebammenpraxis, die ihr Mann ans Gehöft im Chratztobel in den lieblichen Hügeln Libingens angebaut hat, sitzen sie überall. Und begleiten Luzia Brand auf Schritt und Tritt. «Ich schenke jedem Kind im Wochenbett ein Engelsmedaillon», sagt sie. Und lacht aus voller Brust: «Himmel nomol! Davon kann man nicht genug haben!»
Auch den kleinen Leandro, der vor zwei Monaten zur Welt gekommen ist, begleitet ein Engel. Luzia Brand ist zu Besuch bei Mutter Heidi und Vater Chläus. Mit ihrem roten Jeep kurvt sie zur Wochenbettbetreuung an einem im hohen Gras weidenden Reh vorbei ins Moslinger Gebirge zum abgelegenen Hof. Die Leute auf der Strasse erkennen die rothaarige Hebamme mit weiblich runden Formen, dem Schalk im Gesicht und den Kajal umrundeten strahlend blauen Augen von weitem, winken ihr freudig zu und sie ebenso freudig zurück. In der Stube der Lenzlingers trifft sie nach dem Mittag auf eine rundum zufriedene Familie. Mutter und Sohn auf dem Sofa sitzend, der Vater auf dem Sprung zur Arbeit auf der Lehne, seine beiden Liebsten umarmend. Und Luzia Brand, die sich zu ihnen hingesellt, erkundigt sich nach dem Trink- und Schlafverhalten des Kleinen, und lobt: «Er sieht gut aus, wirklich!» Die Mutter freuts: «Uns gehts auch gut!» Worauf Luzia Brand jubelt: «So ein hübscher Burschi!» Nach einigen Kontrollen, Tipps und guten Worten saust sie schon wieder weiter.
Dass hier eine mit Leib und Seele Hebamme ist, ist sonnenklar. Wer weiss, ob nicht schon mit ihrer Taufe der Grundstein zum Beruf und zur Berufung gelegt worden ist. Luzia heisst lateinisch das Licht. Welch besseren Namen könnte eine Hebamme haben, die im Laufe ihres Lebens über 6000 Kindern geholfen hat, das Licht der Welt zu erblicken. Zu jeder Tages- und Nachtzeit war sie auf die Höfe gesaust, im eisigsten Wintersturm und bei hochsommerlichem Heuwetter. Immer mit ihrem roten Suzuki-Jeep durch die Toggenburger Hügel hinauf und hinunter; nach elf Jahren hatte das Auto 232 000 Kilometer unter den Rädern.
«Ein Leben lang unterwegs zum Leben», heisst denn auch das Buch, das Ralph Brühwiler just zum Siebzigsten Luzia Brands geschrieben hat. «Sie hat rote Haare und einen roten Jeep. Sie kennt jedes Strässlein, jeden abgelegenen Bauernhof im Toggenburg», steht auf dem Umschlag des 2013 erschienenen Buchs. Und dass sie schon von Kindsbeinen mit dabei gewesen sei, als ihre Mutter als Dorfhebamme von Libingen die Wöchnerinnen besuchte. Wenn es sein musste mit Skiern durch den dicken Schnee.
Sie klärte die Kameraden auf
«Ich will mal ganz viele Kinder haben», habe sie als Mädchen gesagt. Ihr Wunsch ist in Erfüllung gegangen. Wenn auch ein wenig anders als gedacht. Aber sie ahnte schon früh: «Das Leben auf die Welt begleiten, ist das Schönste, was man tun kann.» Den Hebammenkoffer ihrer Mutter Maria-Anna betrachtete sie als Heiligtum. Genauso wie das geheimnisvolle Hebammenbuch, das sie unbeobachtet immer wieder zur Hand nahm und bald «hinderschi und fürschi» kannte. Im Dorf beobachtete sie die Bäuche der Frauen und tippte anhand des Umfangs, wann das Kind zur Welt kommen würde. In der Schule klärte sie ihre Kameraden auf. Der Junge, der meinte, die Babys würden im Hebammenkoffer auf die Höfe gebracht, war baff, als Luzia sagte: «Darin würden sie ja ersticken!» Und dem Drittklässler erklärte, woher die Kinder wirklich kamen. «Der Mensch ging selbst in der Sekundarschule noch nur vom Kopf bis zum Bauchnabel und fertig!», sagt sie und lacht. Was darunter sei, ginge uns nichts an, fand die Ordensfrau der katholischen Mädchenschule Bütschwil. Worauf Luzia ihrer Banknachbarin zuraunte: «Wenn die wüsste, was ich weiss!»
Das Toggenburg der 30er- bis 50er-Jahre war prüde und katholisch, Marienstatuen mit dem Jesuskind im Arm und Wegkreuze stehen noch heute Segen verheissend an Weggabelungen. Jedes Dorf hatte praktisch seine Hebamme. Und Schutz von oben konnten die Gebärenden gebrauchen, befand sich die Medizin doch auf einem ganz anderen Stand als heute. Viele wussten bei Hausgeburten: «Entweder schaffe ich es, oder ich verblute.» Es starben damals auch mehr Säuglinge, vor allem Frühgeborene. Wer überleben wollte, musste stark sein.
In den 70er-Jahren nahm die Zahl der Hausgeburten im Toggenburg markant ab. Vor allem die jüngeren Frauen gingen nun ins Spital zum Gebären. Und mit dem Rückgang der Hausgeburten verschwanden auch die Dorfhebammen. «Heute sind Hausgeburten auf dem Land sehr selten», beobachtet Luzia Brand. In der Stadt, wo spitalmedizinische Versorgung schneller erreichbar sei, vielleicht noch etwas häufiger. Auch ihre letzte Hausgeburt liegt schon einige Jahre zurück. Ihre vorletzte war eine ganz besondere: Im September 2007 entband sie das zweite Kind ihrer Tochter Gabriela.
Mit Verstand, Herz und Hand
Die übrigens in die Fussstapfen von Luzy-Mama und Maria-Anna-Grossmama getreten ist und heute selber als Hebamme arbeitet – in ihrer Hebammenpraxis Toggenburg sowie im Spital Uznach. «Von meiner Mutter habe ich vor allem gelernt, mit Verstand, Herz und Hand zu arbeiten und auf das Bauchgefühl zu achten», so die jüngste Hebamme in der Familie.
Drei Generationen im selben Beruf: 1936 wurde Anna-Maria nach einem Lehrjahr diplomiert, im Oktober 1963 Luzia nach zwei und im August 2000 Gabriela Brand nach drei Ausbildungsjahren.
Davon zeugen auch die Diplome im Hebammenmuseum «Hebamme im Wandel der Zeit», das Luzia Brand 2012 in der alten Rösslischür im Zentrum Libingens eröffnet hat (siehe Box). Und heute dauert die Hebammenausbildung schon vier Jahre. Wer weiss, welchen Beruf die Kinder Gabrielas dereinst erlernen werden.
So arbeiteten Hebammen
Im schweizweit wohl einzigen Hebammenmuseum unterm Dach der alten Rösslischeune in Libingen wird Regionalund Medizingeschichte greifbar. Und sichtbar, wie sich der Hebammenberuf im Lauf der letzten Jahrzehnte gewandelt hat. Die meisten Exponate stammen aus dem Familienbesitz Luzia Brands. Darunter ihr kostbarstes Stück, der Hebammenkoffer ihrer Mutter Anna, aber auch Instrumente wie eine Weihwasserspritze, Hörrohre, Schröpfgläser und Akupunkturnadeln, Beckenzirkel, Zangen und Scheren, Fotos, Schriftstücke und Bücher wie das «Lese-Buch für das Frauenzimmer über die Hebammenkunst» aus dem Jahr 1874 oder «Das goldene Frauenbuch. Die Frau als Hausärztin» aus dem Jahr 1905. Das Museum ist von Frühling bis Herbst jeden zweiten Sonntagnachmittag im Monat geöffnet . Und nach telefonischer Vereinbarung: Tel. 071 983 21 78.
Bei Luzia Brand gings jedenfalls hoch zu und her nach ihrer Ausbildung. In der Frauenklinik St. Gallen half sie als blutjunge Hebamme in der ersten Nacht gleich sieben gesunden Buben auf die Welt. Im zweiten Lehrjahr hat sie hundert Geburten begleiten dürfen. Praxis pur. Und in den Ferien sowie in der Freizeit begleitete sie weiterhin ihre Mutter. Wo sie auch erstmals bei einer Hausgeburt dabei sein durfte. «Es war eine wunderbare Geburt, sehr ruhig», erinnert sie sich. «Die Arbeit einer Landhebamme unterscheidet sich schon von der einer Hebamme in der Klinik. Als Landhebamme ist man ganz auf sich allein gestellt. Wie zwischen Himmel und Erde.»
Zwischen 1964 und 1968 ging sie auf Wanderschaft und arbeitete in verschiedenen Spitälern und Kliniken. Da schwangere Frauen damals noch lange zuwarteten, bis sie ins Spital gingen, entband sie auch viele Frauen zuhause.
Oder unterwegs. Wie damals, als sie bei der Nachtwache im Spital um Mitternacht zu einer Gebärenden auf einen abgelegenen Bauernhof gerufen wurde. Mit Blaulicht brauste das Ambulanzauto mit der Schwangeren und der Hebamme talwärts der Linthebene entgegen, als die Frau plötzlich sagte: «Ich muss pressen, das Kindlein will kommen! » Luzia Brand hiess den Ambulanzfahrer sofort anhalten, mitten im Wald. Und schon schrie das Neugeborene kräftig in die Nacht heraus.
Die Soldaten, die in der Nähe Manöver hatten, eilten herbei, glaubten erst an eine Panne. Doch als Luzia Brand ihnen das Neugeborene mit der Klemme an der Nabelschnur entgegenhielt, strahlte ein junger Soldat: «Das ist ja wie Weihnachten!»
Pensionierung auf Raten
Luzia Brand ist voll solcher Anekdoten und Geschichten. Und noch heute mit Leib und Seele Hebamme. Darum wirkte sie auch nach der Schliessung der Geburtsabteilung im Wattwiler Spital 2006 weiter. Was für sie damals eine mittlere Katastrophe war. «Ich war traurig, wütend und hab nur noch geweint.» Schon während ihrer Anstellung am Wattwiler Spital war sie während Jahren die einzige freischaffende Landhebamme im Toggenburg. Sie betreute Mütter im Wochenbett, beriet Mütter und Väter in verschiedenen Dörfern, gab Kurse für Geburtsvorbereitung und Rückbildungsgymnastik.
Und seit 2007 ist sie in Pension auf Raten. «Ich bin sehr glücklich, weiterhin Frauen und ihre Kindlein betreuen zu dürfen», sagt Luzia Brand. «Ich muss mein Leben lang mit Kindern zu tun haben und sie riechen. Sie riechen so gut – nach neuem Leben!» So begleitet sie zwar nur noch in Notfällen Hausgeburten, betreut aber weiterhin Frauen im Wochenbett. Und macht Mütterberatung in ihrer Praxis, dem «Hebamme Huus». Wie an diesem Nachmittag, als in ihrem Praxisraum die Bauersfrauen mit ihren Kleinen im Sennenchutteli und Chüeli im Ohr eintreffen. Und Luzia Brand sie beim Hereinkommen singend begrüsst: «Ihr Kinderlein, kommet ... Ah, ihr seid schon da!»
Die Hebamme legt einen Säugling nach dem anderen auf die Waage, misst die Grösse der Kleinen, prüft sie auf Herz und Nieren beziehungsweise Entwicklungsfortschritt und fragt ihre Mütter, wie es geht mit der Ernährung und allem.
Nackt, wie Gott sie schuf, sehen die Babys fast so aus wie die porzellanenen Engel und Putten ringsherum, die auf sie herunterschauen.