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Beckenboden
Das Trampolin ist der Endgegner
Niesen, Lachen, Treppensteigen - nach einer Geburt kann das für Mütter ganz schön heikel werden. Der Beckenboden macht nicht mehr mit, die Blase ist nicht mehr ganz dicht. Viele Frauen kennen es, darüber gesprochen wird noch zu wenig.
Es war knapp ein Jahr nach der zweiten Geburt, als ich das erste Mal vergnügt auf einem Trampolin rumhüpfte. Und reichlich spät bemerkte, dass sich zwischen meinen Beinen auf den Jeans ein riesiger dunkler Fleck abzeichnete. Ich hatte mir in die Hose gemacht! Schamrot kletterte ich vom Trampolin, wickelte meinen Pullover um die Hüfte und sauste zum Klo, um das Desaster mit WC-Papier irgendwie zu trocknen.
Das Kopfkino dieser Peinlichkeit verfolgte mich noch lange. Obwohl: Meine Erfahrung lag durchaus im Normbereich, wie ich später erfahre. Eine, die seit Jahren Frauen mit Beckenbodenproblemen berät und behandelt, ist Annette Kuhn. Die Leiterin des Zentrums Urogynäkologie am Inselspital Bern winkt mir jetzt per Zoom zu, auf der Nase eine grosse, schwarze Rundbrille. Die Ärztin beruhigt: «Eine leichte Harninkontinenz ist bei den meisten Frauen nach der Geburt normal – zumal Trampolinspringen den Beckenboden maximal belastet.» Dass nach einer vaginalen Geburt beim Niesen, Husten, Lachen oder Heben von Gewicht unwillkürlich ein paar Tropfen Urin abgehen, kenne nahezu jede Mutter. Rund zwölf Monate nach der Geburt ist bei 90 Prozent der Frauen aber meistens fast alles wie vorher. Im alltäglichen Sprachgebrauch nennen wir es «Blasenschwäche», medizinisch aber handelt es sich um eine Beckenboden- und Schliessmuskelschwäche. Schon während der Schwangerschaft machen Hormone das Gewebe dehnbarer, sodass Frauen bereits im ersten Trimester etwas Urin verlieren können, und erst recht im letzten Drittel der Schwangerschaft, wenn das Kind schon stark auf den Beckenboden und die Blase drückt. Auch während des Stillens beeinflussen Hormone das Gewebe.
Wie so oft bei spät oder schlecht erforschten Leiden handelt es sich auch bei Inkontinenz um eine «Frauenkrankheit». Laut der europäischen Studie «Breaking the Silence» stellen Frauen 85 Prozent der Betroffenen. Grund: Schwangerschaften und Geburten schwächen die Beckenbodenmuskulatur, die so ihre Stützfunktion nicht mehr erfüllen kann. Ein Jahr lang lässt sich mit einer leichten Blasenschwäche irgendwie leben. Rund 10 Prozent der Frauen aber sind schwer und länger beeinträchtigt. Bei ihnen schädigte die Geburt das Nerven-, Muskel- und Bindegewebe derart stark, dass sie auslaufen, ohne sich dagegen wehren zu können.
Die Engländerin Luce Brett erwischte die Inkontinenz nach ihrer ersten Geburt kalt. In ihrem auf Deutsch übersetzten Buch «Ich bin nicht ganz dicht» verarbeitet sie die traumatische Lebensphase und schreibt zum Auftakt: «Ich verliess die Neugeborenenstation im Alter von 30 Jahren mit einer Reihe von Inkontinenzproblemen, die sich in den darauffolgenden zehn Jahren zu einem epischen Drama auswachsen sollten.» Nach der ausführlichen Schilderung dieser Dekade weiss die Leserin: Die Ankündigung war eine Untertreibung. Luce Brett beschreibt ihren Leidensweg so schonungslos offen, unterlegt mit viel Selbstironie und gut recherchierten Fakten, dass klar wird: Frauen, die von schwerer Harn- und sogar Stuhlinkontinenz nach einer Geburt betroffen sind, gehen durch die Hölle.
Diese Websites bieten fundierte Informationen zu Inkontinenz
♦ Schweizerische Gesellschaft für Blasenschwäche ➺ inkontinex.ch
♦ Deutsche Kontinenz Gesellschaft ➺ kontinenz-gesellschaft.de
♦ Für Erfahrungsaustausch und Infos: Inkontinenz Selbsthilfe e.V. ➺ inkontinenz-selbsthilfe.com
Dunkle Kleidung
Auch bei der Fachärztin Annette Kuhn sitzen fast täglich Frauen in der Sprechstunde, die rund um die Uhr dicke Monatsbinden tragen und sich nur mit dunkler Kleidung unter die Leute wagen. Die Angst, übel zu riechen, zwingt sie zudem, stets Wechselkleider und ein Vorrat an Einlagen im Gepäck mitzutragen.
Einen Massstab, ab welcher Menge von Urin in der Unterhose es sich um Inkontinenz handelt, gibt es nicht – auch, weil es eine sehr individuelle Geschichte ist. Es gibt Frauen, die sind bestürzt, weil sie einmal pro Woche beim Tennisspielen zwei Tropfen verlieren. Andere empfinden auch einen
mehrfachen Wechsel von dicken Binden pro Tag nicht als störend. «Wenn Inkontinenz sich aber täglich in den Kopf schleicht und man das Gefühl hat, vieles nicht mehr tun zu können, dann ist es Zeit, mit einer Fachperson zu sprechen.»
Wenn die Frauen bei Annette Kuhn für eine Beratung anklopfen, hört sie im Verlauf der Behandlung häufig: «Wäre ich doch früher gekommen!» Gerade Mütter sind manchmal so beschäftigt mit dem Baby, dass sie vergessen, die Zeichen ihres Körpers wahrzunehmen, geschweige denn, sich um sich selber zu kümmern. Schon gar nicht, wenn es um eingenässte Slips geht. Denn wenige Themen sind so schambehaftet wie Blasenschwäche. Schon als kleine Kinder lernen wir, die Ausscheidungen unter Kontrolle zu bringen – wie demütigend, wenn wir es als Erwachsene scheinbar wieder verlernen.
Bei leichter Blasenschwäche
♦ Schwere Lasten wie das Hochheben eines älteren Geschwisters oder Einkaufstaschen vermeiden
♦ Auf Sportarten verzichten, die Bauch und Becken stark beanspruchen
♦ Rückbildungsworkout und sehr sanftes Beckenbodentraining
♦ Gesund ernähren, scharfe und saure Speisen vermeiden
♦ Ausreichend trinken, mindestens 2 Liter pro Tag
♦ Aktiv sein, um das Gewicht unter Kontrolle zu halten
Physiotherapie und Pessare
Ein schweres Blasenproblem belastet auch die Partnerschaft, insbesondere das Sexleben. Viele Frauen trauen sich aus Scham nicht einmal, mit ihrem Partner darüber zu reden. Stattdessen vermeiden sie körperliche Nähe, weil sie Angst haben, im Bett Harn zu verlieren und schlecht zu riechen. So ist die Abwärtsspirale programmiert. Was doppelt schade ist, denn Sex trainiert den Beckenboden und würde die Inkontinenz allenfalls lindern.
Schwer tun sich betroffene Mütter auch mit der Frage nach weiteren Schwangerschaften. Die Fachärztin rät ihnen keineswegs einfach davon ab: Die grösste Beckenbodenveränderung geschehe sowieso mit der ersten Vaginalgeburt, sagt Annette Kuhn und spitzt zu: «Bezüglich Inkontinenzproblemen darf man so viele Kinder haben, wie man möchte – nur das erste nicht!» Allerdings sei es bei massiver Problematik unerlässlich, schon vor und während einer nächsten Schwangerschaft intensiv Beckenbodenübungen und Physiotherapie zu machen.
Wer auch zwölf Monate nach der Geburt noch bei jedem Treppensteigen oder Lacher Urin verliert, sollte aktiv werden. Eine chronische Beckenbodenschwäche verschwindet nicht einfach so. Die gute Nachricht aber ist: Blasenschwäche ist behandelbar!
Nach einer umfassenden Abklärung mit körperlicher Untersuchung und Ultraschall folgt die Diagnose. Danach werden zunächst die nicht operativen Behandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft, zu welchen Physiotherapie mit intensivem Beckenbodentraining und Pessare gehören. Die auch «Gebärmutterzapfen» genannten Hilfsmittel aus Silikon oder Schaumstoff können selber eingeführt werden und bei Gebärmutter- und Blasensenkung helfen, ungewollten Harnverlust zu verhindern.
Für Annette Kuhn ist bei schwerwiegenden Inkontinenzproblemen das operative Einsetzen von Kunststoffschlingen erste Wahl. Diese unterstützen die Beckenbodenmuskulatur und helfen der Harnröhre, dem Druck der vollen Harnblase zu widerstehen. Erfolgsrate: 80–90 Prozent. Die Schlingen können statt aus Kunststoff auch aus körpereigenem Gewebe hergestellt werden. Einen kleinen Vorbehalt allerdings hat Annette Kuhn dabei: «Das körpereigene Gewebe hat zuvor ja gezeigt, dass es nicht genug hält – ansonsten gäbe es die Blasenschwäche nicht.»

zvg
Buchtipp
➺ «Ich bin nicht ganz dicht - eine Frau spricht Klartext und bricht das Tabu Inkontinenz», Luce Brett, VAK Verlags GmbH, ab Fr. 24.20
Umstrittene vaginale Netze
Eine minimalinvasive Therapie ist die sogenannte Unterspritzung. Dabei wird mit einer feinen Nadel ein Gelimplantat ringförmig unter die Schleimhaut gespritzt. Diese verdickt sich dadurch wie aufgespritzte Lippen, die Harnröhre wird enger und besser abgedichtet.
Wegen Komplikationen äusserst umstritten sind bei Gebärmutter-, Blasen- oder Darmsenkungen sogenannte vaginale Netze. Diese operativ eingesetzten Implantate wurden im angelsächsischen Raum verboten, weil die Netze aus Kunststoff teilweise brüchig wurden oder mit den Organen verwuchsen und Schmerzen, Entzündungen und Blutungen auslösten. In der Schweiz sind die vaginalen Netze zwar noch erlaubt, sie werden aber nur sehr zurückhaltend eingesetzt.
Aber selbst wenn die eine oder andere medizinische Methode das Inkontinenzproblem entschärft - für schwer betroffene Frauen bleibt das Beckenbodentraining ein lebenslanges Projekt.
Mir gehts mit meiner kleinen Blasenschwäche heute bestens. Und nachdem ich von Annette Kuhn erfahren habe, dass man beim Trampolinspringen selbst bei Beckenbodenschwäche nichts kaputtmachen kann, hüpfe ich - nachdem ich zuvor auf dem Klo war und eine Minibinde eingelegt habe - wieder munter drauflos.