Geschlechtsentwicklung
Das dritte Geschlecht
«Hauptsache, es ist gesund.» Dieser tausend Mal gehörte Satz erhielt bei Franziskas* Geburt vor 13 Jahren eine ganz neue Dimension. Denn das Kind war gesund. Grösse, Gewicht, alle Tests zufriedenstellend. Doch konnten weder die Hebamme noch der Gynäkologe, ja nicht einmal der Kinderarzt vor 13 Jahren mit Sicherheit sagen, ob das Baby ein Mädchen oder doch ein Junge war. «Die Hebamme untersuchte das Neugeborene und sagte zu mir: ‹Ich weiss nicht, was es ist›. Bei einer Geburt rechnet eine Schwangere mit vielem. Damit aber nicht.»
«Niemand schien die Situation im Griff zu haben», erzählt Karin Plattner, Präsidentin des Vereins «Selbsthilfe Intersexualität», heute und das Staunen darüber ist nach all den Jahren immer noch gross. Wo man Sorgenfalten erwartet, strahlt einem eine fröhliche, ja glückliche Mutter an, die betont, dass sie kein Mitleid möchte. «Wofür auch? Die Menschen sollen wissen, dass es nicht nur Mädchen und Buben gibt. Es gibt noch ganz viel dazwischen.»
Hermaphrodite, Zwitter, sexuelle Ambiguität, Intersexualität, Variation der sexuellen Entwicklung: Wörter sind viele bekannt, das Phänomen indessen wenig: DSD (Disorder of Sex Development, siehe Interview), besser bekannt unter dem irreführenden Begriff der Intersexualität. Laut der Interessenorganisation «Accord Alliance» taucht das lange tabuisierte Phänomen bei mindestens einer von tausend Geburten auf. Doch selbst die Wissenschaft ist oft ratlos.
Jürg Streuli
Fragt man Eltern von zwischengeschlechtlichen Kindern nach Experten, haben sie nur ein müdes Lächeln übrig. So auch Silvia Bianchi*. Eine neugierige, lebensfreudige Mutter, die bereits während ihrer Schwangerschaft wissen wollte, ob sie ein Mädchen oder einen Jungen erwartet. Insgesamt vier Ärzte bestätigten ihr mittels Ultraschall, es werde ein Junge. Nach «gemütlichen neun Monaten» brachte sie ihr Baby im Wasser zur Welt. «Jöh, ein Mädchen!», freute sich die Gynäkologin. «Ich hätte mich natürlich auch darüber gefreut, trotzdem war ich mehr als überrascht. Gut, dass man nach einer Geburt leicht benommen ist, der Schock ist dann kleiner», meint die Mutter des heute 6-jährigen Luca. Denn auf ihre erstaunte Reaktion hin änderte die Ärztin sogleich ihre Meinung und bestätigte der frisch gebackenen Mutter, es sei doch ein Junge.
Sicher war sie sich aber nicht, denn trotz zahlreicher Visiten sogenannter Experten konnte auch Tage nach der Geburt niemand sagen, was dieses Kind nun war. «Sehen denn alle Jungen da unten so aus?» Silvia Bianchis Frage war berechtigt. Die Genitalien des Babys sahen aus wie a) eine geschwollene Vagina mit grosser Klitoris oder b) ein etwas klein geratener, im Hodensack eingebetteter, krummer Penis.
Bekannte und Freunde riefen an und fragten: «Und, was ist es?» «Ich wusste es nicht, das war nicht einfach», erinnert sich auch Karin Plattner. Nicht nur unser Schweizer Zivilstands-System zwingt uns dazu, einen Menschen in eine binäre Schublade zu pressen, auch das allgemeine Bewusstsein. So sehr sich die Gesellschaft an diverse Lebensarten gewöhnt hat – Homosexualität ist heute kein Tabu mehr, Transsexualität schockiert immer weniger – so wenig weiss man über das «Zwischengeschlecht». Das liegt unter anderem daran, dass bis in die 90er- Jahre systematisch Geschlechtsoperationen und hormonelle Behandlungen an Kindern durchgeführt wurden. Dies auch, wenn kein Gesundheitsrisiko bestand.
So wie bei der Familie Bianchi. Sie landeten schliesslich bei einem Kinderchirurgen, der ihnen zu einer Verlängerung der Harnröhre und Begradigung des Penis riet, damit Luca später auch Geschlechtsverkehr haben könne. Weder äusserlich noch innerlich konnten bei ihm weibliche Geschlechtsmerkmale festgestellt werden. Der Arzt war überzeugt, dass Luca ein «richtiger» Junge sei. «Richtig» ist beim Thema Intersexualität ein sehr individueller Begriff. Um hilflosen Eltern eine schnelle Lösung zu präsentieren, ist eine Operation der Normalfall – und zwar eine zum Mädchen. «It’s easier to make a hole, than a pole» (Es ist einfacher, ein Loch zu machen als einen Mast), so die Devise, mit der jedem dieser Kinder ein gesellschaftlich akzeptiertes Geschlechtsteil mittels plastischer Chirurgie geformt wurde.
Eine Operation wurde auch Karin Plattner für ihr Kind empfohlen. «Die Ärzte erklärten mir, dass sie aus dem Genital keinen Buben machen konnten. Der Penisaufbau sei viel schwieriger als eine künstliche Vagina zu formen.» In den letzten Jahren hat sich diesbezüglich aber einiges getan: Betroffene sprachen so lange in Bern vor, bis ein parlamentarischer Vorstoss die Ethikkommission dazu bewegte, letzten Herbst neue Empfehlungen zu erlassen. Entscheidungen über irreversible, geschlechtsbestimmende Eingriffe sollen in Zukunft allein medizinischen Gesichtspunkten folgen. Vorlieben, Äusserlichkeiten oder gesellschaftliche Gründe dürfen keine Rolle mehr spielen.
Darauf angesprochen, ob sich Luca anders verhalte als Buben in seinem Alter, versichern seine Eltern: Die Phase, in der der Kindergärtner Röcke anziehen, sich die Haare wachsen lassen wollte oder Papa ihm rosa T-Shirts kaufen musste, sei vorerst vorbei. «Sie schien uns auch nicht extremer als bei vielen anderen Buben. Heute sind Auschotos und Superhelden in.» Luca ist noch zu klein, als dass irgend jemand im Umfeld bemerkt hätte, dass er etwas anders ist als die meisten Kinder. Diese Etappe steht der Familie Bianchi noch bevor. Karin Plattner hat sie hingegen schon lange hinter sich. «Um mich zur Operation zu überreden, warnten uns die Ärzte vor Problemen. Was würde unser Kind in der Schule, im Schwimm- und Turnunterricht machen, welches WC würde es benutzen?», erinnert sie sich. «Ausserdem rieten sie mir, es niemandem zu sagen; das würde das soziale Aus für meine Familie bedeuten, das Kind würde mit Sicherheit gemobbt werden.» Unter diesem Druck gaben Plattners nach, vereinbarten einen Operationstermin und gaben ihrem Kind den Namen Franziska*. Doch Karin war sich nicht sicher, ob es richtig war, das Geschlecht des Kindes auf diese Art «künstlich» zu bestimmen. Auch, weil Tests einen XY-Chromosomensatz gefunden hatten, Franziska also eigentlich ein Junge war.
Heute weiss man, dass diese Operationen sehr negative Auswirkungen haben können – auch wenn derzeit keine Studie beweist, dass daran nicht vielleicht das Schweigen und die Lügengeschichten drumherum es sind, die den Menschen letztlich so zu schaffen machen. In den meisten Fällen gibt es ausserdem keine medizinischen Gründe für eine Geschlechtsoperation.
Auch die Ärzte konnten Karin Plattner damals keine nennen. «Bloss gesellschaftliche Bedenken.» Das überzeugte sie nicht. Sie sagte den OP-Termin ab, nahm ihr Baby mit nach Hause und stellte sich darauf ein, der Welt zu verkünden, dass ihr Kind anders sei. Nicht nur ihrem Umfeld, auch Franziska selber musste sie erklären, was sie speziell macht. «Du hast das Glück, dass du selber wählen darfst, was du lieber sein möchtest.» Weder Lehrer noch Freunde reagierten je negativ auf Franziskas Intersexualität, im Gegenteil. «Damit ein Kind gemobbt wird, braucht es nicht intersexuell zu sein. Andere sind dick oder tragen eine Brille oder haben exzentrische Eltern.» Die heutige 13-Jährige hat keine Probleme, Freunde zu finden, sie ist ein aufgeschlossener Teenager. Franziska weiss, dass sie keine Kinder haben wird. Vielleicht wird das zum Thema, wenn es darum geht, einen Partner zu finden. Doch auch hier: Andere haben auch Probleme. «Diesen Weg muss sie gehen. Das kann ihr niemand abnehmen.» Karin Plattner klingt wie eine vernünftige Mutter, die ihr Kind ziehen lassen wird, wenn der Zeitpunkt gekommen ist. Und glücklich, Franziska so angenommen zu haben, wie sie ist.
Für Luca ist seine Intersexualität noch kein Thema, dafür ist er schlicht noch zu klein. Ob sich in der Pubertät hormonell etwas verändern wird, konnten Bianchis bis heute nicht in Erfahrung bringen. Auf die Frage, ob er vielleicht einmal sagen wird, «eigentlich bin ich ein Mädchen», bekam Silvia Bianchi als Antwort: «Machen Sie sich keine Sorgen, dass er schwul wird. Sie werden ihn ja nicht so erziehen.» Die gesellschaftlichen Schubladen scheinen noch lange nicht geschlossen.
**Name der Redaktion bekannt*
Interview
«Man spricht darüber, das ist das Wichtigste.»
Der Kinder- und Jugendmediziner Jürg Streuli zu Fehlern bei der Schubladisierung des biologischen Geschlechts.
Beobachter
Arbeitet als Assistenzarzt in der Kinder- und Jugendmedizin und schliesst momentan sein Doktorat in Biomedizinischer Ethik ab. Er untersucht seit vier Jahren den medizinischen Umgang mit Intersexualität und die Frage, was Kindeswohl im klinischen Alltag bedeutet, ob und wie Kinder in schwierige Entscheidungen bezüglich ihrer Gesundheit einbezogen werden können.
«wir eltern»: Herr Streuli, was genau ist ein intersexueller Mensch?
Jürg Streuli: Intersexualität ist eigentlich keine Diagnose, sondern eher eine Worthülse. Wir alle passen mehr oder weniger gut in gesellschaftlich anerkannte Kategorien; eine der bedeutendsten ist das Geschlecht. Bestehen Schwierigkeiten, einen Menschen aus biologischer Sicht in die männliche oder in die weibliche Schublade zu stecken, spricht man von Intersexualität. Nicht zu verwechseln ist Intersexualität mit Transsexualität, wo die biologischen Merkmale vollständig in die männliche oder weibliche Schublade passen, der betroffene Mensch sich jedoch dem anderen Geschlecht zugehörig fühlt. Bei Intersexualität hingegen liegt eine Variation des biologischen Geschlechts vor, wobei ich mit der Definition vorsichtig wäre.
Wieso?
Alle Menschen weisen beim genaueren Hinsehen zahlreiche Variationen in den Genen und in ihrer Entwicklung auf, die Ausprägungen sind aber oft fliessend. Es ist daher sehr schwierig, eine genaue Grenze zwischen «normal» und «nicht normal» ziehen zu wollen. Zweitens ist eine Variation der Geschlechtsentwicklung immer nur in wenigen von insgesamt Abertausenden von Merkmalen eines Menschen sichtbar. Drittens ist der deutsche Begriff «Intersexualität» fehlleitend, da er von Sexualität spricht, ohne diese primär zu meinen. Intersexualität handelt von Körpern, unter Umständen auch von Krankheit und nicht in erster Linie von Sexualität oder sexueller Orientierung. Deshalb spricht man seit ein paar Jahren in der Fachwelt von «DSD», einer Abkürzung für das englische «Differences» beziehungsweise «Disorders of Sex Development », zu Deutsch Variationen oder Störungen der Geschlechtsentwicklung.
Wie kommt es dazu, dass ein Mensch mit DSD geboren wird?
So viel wir heute wissen, handelt es sich um Variationen in unseren Genen, die entweder zufällig entstehen oder über die Generationen weitergegeben werden. Man beginnt diese aber erst zu verstehen. Je mehr wir über die Komplexität unserer Entwicklung erfahren, umso weniger wissen wir, was Geschlecht denn eigentlich ist.
Was wird heute getan, um Menschen mit DSD zu helfen, eine Identität zu finden?
Man spricht darüber, das ist das Wichtigste. Unterscheidet sich ein Kind von seinem Umfeld, herrscht Erklärungsbedarf. Früher versuchte man diesen Erklärungsbedarf möglichst klein zu halten, indem man das Genital des Kindes einem spezifischen Geschlecht anpasste. Heute versuchen wir nicht mehr primär das Kind zu ändern, sondern ihm und seinen Eltern das nötige Selbstvertrauen und Wissen auf den Weg zu geben, um zwischen seinem Selbstverständnis und seiner Aussenwelt eine Brücke zu bauen. Nötig ist dazu aber auch ein Grundmass an Respekt vor Variationen. Berichte wie in «wir eltern» spielen dazu eine wichtige Rolle in der Aufklärung der Gesellschaft. Ausserdem fordern die aktuellen Empfehlungen der Nationalen Ethikkommission eine Beschränkung der operativen Eingriffe auf jene, die medizinisch wirklich notwendig sind.