Genitale Fehlbildungen
Da unten stimmt was nicht
Eltern können oft gar nicht aufhören, von ihrem Wonneproppen zu schwärmen. Jeder Entwicklungsschritt wird öffentlich bejubelt: das erste Lächeln, der erste Zahn, der erste Schritt. Doch was, wenn das Kind einen Makel hat? Dann werden die Stimmen leiser. Und wenn die Störung das Geschlecht betrifft? Dann wird es oft ganz still. Manchmal fehlen Mama und Papa im wahrsten Sinne die richtigen Worte. Sie stocken beim Kinderarzt verlegen, wenn er fragt, was dem Baby denn fehle. Irgendwas stimmt nicht da unten, heisst es dann beschämt, als ob sie selber Schuld daran wären.
Doktor Petrign Trödury kennt die Nöte von betroffenen Eltern. Nach über dreissig Jahren Praxiserfahrung hat er einen sechsten Sinn für das heikle Thema genitale Fehlbildung entwickelt. Sie sind alles andere als selten. Trotzdem werden sie tabuisiert. «Unsere Gesellschaft gibt sich gern freizügig und aufgeklärt, aber das eigene Geschlecht und erst recht das des Kindes ist weiterhin tief mit Scham besetzt», sagt der Arzt. Er ist überzeugt, dass öffentliche Aufklärung dringend notwenig ist. Denn gerade bei kleinen Kindern ist es wichtig, Störungen und Fehlbildungen rechzeitig zu erkennen und gegebenenfalls zu behandeln. «Viele Eltern junger Söhne wissen zum Beispiel gar nicht, dass sich die Vorhaut bei kleinen Jungs nicht zurückziehen lässt. Sie glauben, das Kind leide an der Phimose und müsse dringend operiert werden. Dabei löst sich die Vorhaut von der Eichel in den meisten Fällen innerhalb der ersten Jahre von alleine», sagt Trödury.
Bis zu 15 Prozent der Babys kommen mit einer mehr oder weniger starken Fehlbildung zur Welt. Die meisten fallen noch im Krankenhaus bei der Abschlussuntersuchung auf. Bei den Mädchen wird die Genitalregion auf äusserliche Auffälligkeiten untersucht. «Wichtig ist es, zu diesem Zeitpunkt zu prüfen, ob eine Vaginalöffnung vorhanden ist», erklärt Sibil Tschudin, Konsiliarärztin für Kindergynäkologie an der Universitätskinderklinik beider Basel die gängige Praxis. «Eine weiterführende gynäkologische Untersuchung ist nur notwendig, wenn Beschwerden auftreten», so die Ärztin. Bei kleinen Mädchen sind es die Variationen des Jungfernhäutchens, die Eltern Kummer bereiten. Doch, abgesehen von der seltenen Hymenalatresie, bei der die Scheide von der Membran komplett verschlossen ist, besteht meist kein akuter Handlungsbedarf. Auch wenn Schamlippen durch unterschiedliche Grösse auffallen, geben Ärzte Entwarnung. Wie bei multiplen Brustwarzen handelt es sich um eine optische Variation ohne Krankheitswert.
Die gute Nachricht für die Eltern lautet also: Behandlungsbedürftige Fehlbildungen am weiblichen Geschlecht sind eher selten. Lediglich etwa eines von 500 Mädchen ist betroffen. Bei den Jungs sind Fehlbildungen häufiger. Die Ärzte kontrollieren, ob der Penis normal gebaut ist und tasten, ob beide Hoden an ihrem Platz liegen», erläutert Frau Professor Dr. Rita Gobet, Leiterin der kinderurologischen Abteilung des Universitätskinderspitals Zürich. Bei etwa 15 Prozent der männlichen Babys sind die Hoden nicht dort, wo sie hingehören. Ein Grund zur Sorge besteht jedoch erst, wenn sie am Ende des ersten Lebensjahres nicht im Hodensack liegen. Denn: Unbehandelter Hodenhochstand ist die häufigste Ursache für spätere Fruchtbarkeitsstörungen sowie der einzig gesicherte Grund für bösartige Hodentumore.
Auch zwischen den ärztlichen Vorsorgeuntersuchungen sollten Eltern ihre Babys immer im Auge behalten. Beim Wickeln oder Baden ist stets auf Rötungen, Schwellungen oder sonstige Auffälligkeiten im Intimbereich zu achten. «Alleinstehende Mütter von kleinen Buben haben es besonders schwer. Sie haben häufig keinen männlichen Ansprechpartner, mit dem sie sich bei Unsicherheiten austauschen können», berichtet Frau Professor Gobet. Und führt fort: «Eltern fehlt zudem die Vergleichsbasis zu anderen Gleichaltrigen, um zu entscheiden, ob der Penis, die Hodenlage oder das Aussehen der Scheide innerhalb der Norm sind.» Im Internet findet sich zwar eine Fülle an Informationen, sie sind jedoch oft ungefiltert und unqualifiziert. So bleiben viele Eltern auf der Suche nach Antworten verwirrt zurück. Frau Professor Gobet empfiehlt daher: «Wenn Mütter oder Väter unsicher sind, ob mit dem Kind etwas nicht stimmt, sollten sie sich umgehend an den Kinderarzt wenden.»
Scham und Isolation
Wird der Verdacht auf Fehlbildung durch die Diagnose bestätigt, stellt das für Eltern eine enorme psychische Belastung dar. Trauer, Sorge und Angst führen zu einem Gefühlschaos; die Frage, wie sie mit der Nachricht im Familien- und Bekanntenkreis umgehen, für Stress. «Es ist die Angst vor Spott, Beschämung und Stigmatisierung», so Agnes Panagl, Psychologin am Medizinischen Universitätscampus Wien, «die Eltern davon abhält, über die Fehlbildung zu reden.» Schweigen scheint noch immer der einfachere Weg. Tabuisierung ist die Folge. Das bestätigt auch Prof. Dr. Ahmed Hadidi, Leiter der Kinderchirurgie an der Emma Klinik in Hessen. Sein Gebiet ist die Hypospadie, eine der Krankheiten, über die nur hinter vorgehaltener Hand gesprochen wird. Und das, obwohl diese Fehlbildung der Harnröhre mit einem Vorkommen von 1:125 zu den häufigsten angeborenen Fehlbildungen des äusseren männlichen Genitales gehört. «Wenn Eltern hören, dass ihr Sohn eine Hypospadie hat, dann wird die Fehlbildung korrigiert und es wird nicht mehr darüber gesprochen.» Im Glauben, ihr Kind zu schützen, verheimlichen Eltern die Operation nicht nur vor der Aussenwelt, sondern auch vor dem Kind selbst. «So hoffen sie, dem Jungen auf dem Weg zu seiner Sexualität das Bewusstsein zu ersparen, sein Penis sei nicht normal», erklärt Professor Hadidi die Strategie der Eltern.
Vor allem Mütter quälen oft Schuldgefühle, weil sie ein Kind mit einer angeborenen Krankheit oder Fehlbildung geboren haben. «Auch wenn diese Vorwürfe rational nicht begründbar sind», sagt Psychologin Panagl, «erweisen sich Schuld- und Versagensgefühle der Mütter als hartnäckig und resistent gegen Information und Aufklärung der Ärzte.» Fehlt hier der Rückhalt aus dem Familien- oder Freundeskreis, droht ihr Leid zu wachsen. Und am Ende steht die Isolation. Die Alternative heisst: Konfrontation. Eine offene Auseinandersetzung mit der Fehlbildung beeinflusst massgeblich das Selbstbild des Kindes. Das offene Gespräch der Eltern schafft zudem ein Forum in der Gesellschaft, das weiteren Betroffenen Mut macht, für Aufklärung sorgt und Akzeptanz fördert.
Doch was sollen Eltern tun, wenn das Kind mit Tränen in den Augen erzählt, dass es in der Schule ausgelacht wird? «Dem Kind beistehen», rät die Psychologin, «seine Nöte und Gefühle ernst nehmen, seinen Selbstwert stützen und mit ihm Strategien gegen das Gehänseltwerden üben.» Klar ist: Der Weg aus der Desinformation und Isolation hilft nicht nur, ein Tabu zu brechen, es dient vorab dem Wohl des Kindes.
Genitale Fehlbildungen
KNABEN
- Die Hypospadie ist eine Fehlbildung der Harnröhre und tritt meist in Verbindung mit einer Krümmung des Gliedes auf. Abhängig vom Schweregrad ist die Öffnung der Harnröhre nicht an der Spitze der Eichel, sondern körpernäher auf der Penisunterseite. Das ideale Alter für eine Operation ist zwischen dem 1. und 2. Lebensjahr.
- Mehr als 90 Prozent aller Jungen kommen mit einer Vorhautverengung, der Phimose, zur Welt. In der Regel löst sich die Vorhaut bis zum vierten Lebensjahr von der Eichel. Kommt es allerdings zu chronischen Entzündungen oder wird das Wasserlassen zum Problem, sollte das Kind ärztlich behandelt werden. Übrigens: Kleine Jungs, die ihren Penis entdecken und ihn durch das Befingern dehnen, tragen dazu bei, dass sich die Phimose löst.
- Hodenhochstand besteht bei etwa 15 Prozent der termingemäss geborenen männlichen Babys. Ist der Hoden bis zum Ende des ersten Lebensjahres nicht überwiegend im Hodensack, sollte eine Behandlung beginnen.
MÄDCHEN
- Meist überdecken die äusseren Schamlippen die inneren. Für die Grösse der Labien gibt es aber keine Normvorgaben. Besorgte Eltern sollten bei Labienassymetrie bedenken, dass sich die Schamlippen in der Pubertät wieder verändern.
- Die Form des Jungfernhäutchens ist überaus variantenreich. Schon sehr kleine Öffnungen reichen, um Schleim und später auch Regelblutungen durchzulassen. Ist das Hymen durchgängig geschlossen, sollte die Membran spätestens vor dem Einsetzen der ersten Regelblutung geöffnet werden.
- Rund 5 Prozent der Babys kommen mit zusätzlichen Brustwarzen zur Welt. Die meisten Fälle der Polythelie bleiben unerkannt oder werden als Muttermal wahrgenommen. Fälschlicherweise wird oft angenommen, dass Polythelie nur Mädchen betrifft. Medizinischer Handlungsbedarf besteht bei beiden Geschlechtern nicht.