Glaube in Familien
Brauchen Kinder Religion?
Viele Eltern glauben nicht an Gott oder sind zumindest unsicher in religiösen Fragen. Aber was ist mit den Kindern? Haben sie ein Recht auf Religion? Und wie können Eltern etwas vermitteln, das sie selber bezweifeln?
Was ist Gott?», fragte der Vierjährige einst. Und brachte seine Eltern damit ganz schön ins Schwitzen. «Wie kommt er darauf?», überlegte sein Vater, der schon lange keine Kirche mehr von innen gesehen hatte. «Was antworte ich bloss?», grübelte die Mutter, die ihr Kind bewusst frei von Religion erziehen wollte.
Andrea Kindler würde dem Kleinen wohl sagen: «Gott ist die Kraft, die alles gemacht hat – die Blumen auf der Wiese zum Beispiel.» Die 57-Jährige ist Pfarrerin der Kirchgemeinde Heiliggeist in Bern und davon überzeugt: Kinder haben einen direkten Zugang zur Natur, zum Göttlichen. So wisse der Nachwuchs intuitiv: Ich habe die Blumen nicht gemacht, Mama und Papa auch nicht, also muss jemand anderes dafür verantwortlich sein. «Man braucht Kindern oft gar nicht so viel zu erklären», findet die Pfarrerin, «sie suchen sich die Antworten häufig selbst.»
Religionen und Glaube für Kinder einfach erklärt
♦ Die wichtigsten Infos zu den fünf Weltreligionen für Kinder ab acht Jahren: Karlo Meyer, Barbara Janocha: «Wie ist das mit den Religionen?», Gabriel in der Thienemann-Esslinger Verlag (2018)
♦ 55 Kinderfragen zu Gott und der Welt: Meike Lauter-Pohl: «Isst der Liebe Gott auch gerne Schokolade?», Gütersloher Verlagshaus (2021)
♦ für Kinder zur Weltreligion Christentum: SRF, Sendung «Clip und klar!», via ➺ srf.ch, Suchbegriff «Weltreligion Christentum erklärt» (8.4.20).
Auch zu Islam und Judentum gibt es ein «Clip und klar!»-Video.
♦ Die spirituelle Dimension im Leben mit Kindern entdecken und gestalten – ein Angebot von Schweizer Landeskirchen: ➺ farbenspiel.family
Christliche Werte im Alltag
Nun glauben jedoch viele Eltern nicht an Gott oder sind zumindest unsicher in religiösen Fragen. Was machen diese? «Fast alle glauben an etwas Grösseres, das sich nicht vom Menschen instrumentalisieren lässt», sagt Andrea Kindler. «Sie nennen das vielleicht nicht Religion oder Glaube – aber dafür Schicksal.» Und beim Gedanken an die Despoten dieser Welt fügt sie an: «Gäbe es nicht noch was Höheres, wäre dies deprimierend.» Gleichzeitig sorge diese Haltung für Bescheidenheit – denn so ist der Mensch nicht Mass aller Dinge. Generell gehe es aber gar nicht so sehr darum, Kindern explizit religiöses Wissen zu vermitteln. Schliesslich orientierten sich die meisten Eltern – ob bewusst oder unbewusst – im Umgang mit ihren Kindern ohnehin an christlichen Werten: einem friedlichen Zusammenleben, Gerechtigkeit, Achtung vor der Natur.
Gleichzeitig gehören die Grundzüge der Weltreligionen zur Allgemeinbildung. Ohne sie wären grosse Bereiche von Kunst und Kultur nur schwer zu verstehen. «Kulturelles Kapital» nennen dies Soziologen, wobei Grundwissen über Religion damit genauso gemeint ist wie Shakespeare-Texte oder Beatles-Songs.
Während Religion und Glaube allerdings etwas sehr Abstraktes sind, haben Kinder oft ganz handfeste Fragen. Wie antworten Eltern etwa, wenn der Nachwuchs wissen will: «Hat Gott eine Mama?» Die Pfarrerin lacht und sagt: «Vermutlich würde ich sagen: Das habe ich mich auch schon gefragt.» Ganz kleinen Kindern würde sie schlicht «Ja» antworten. Einfach, um zu signalisieren: Niemand ist allein.
Manchmal fehlen Antworten
Gerade bei schwierigen Kinderfragen, wenn das Unfassbare geschieht, die Gotte stirbt, die mitten im Leben stand, ein Elternteil oder das Nachbarskind – wenn also auch Erwachsene überfordert sind und keine Antwort haben, suchen selbst Eltern, die sich dem Glauben nicht verbunden fühlen, oft nach Antworten in der Religion.
«Bei den existenziellen Fragen der Menschheit – Wo kommen wir her? Wo gehen wir hin? Warum musste meine Schwester sterben? – wissen wir letztendlich nicht mehr als Kinder», sagt Pfarrerin Kindler. Religionen hingegen beschäftigten sich mit allen essenziellen Themen im Leben, deshalb sei es naheliegend, hier nach Antworten zu suchen. Allerdings gebe es teilweise einfach keine, «und das dürfen Mutter und Vater ihrem Kind auch so sagen: Ich weiss es nicht.» Wichtig sei, gleichzeitig zu signalisieren, dass es nicht schlimm ist, diese Fragen zu haben und zu stellen.
Doch wie stark sollen Eltern steuern, was Kinder glauben? Ist es ok, den Nachwuchs taufen zu lassen, selbst wenn Mutter und Vater sonst nie in die Kirche gehen? Ja, findet Kindler, schliesslich sei gerade nach etwas so Emotionalem wie einer Geburt das Bedürfnis gross, seine Dankbarkeit zu zeigen und ein Fest zu feiern. Dasselbe gelte auch für andere Übergänge im Leben wie etwa Hochzeiten oder Todesfälle, für die sich in allen Kulturen Rituale finden.
Viele Eltern, die mit Religion sonst nicht so viel am Hut haben, entscheiden sich aber noch aus einem weiteren Grund für die Taufe. Denn diese symbolisiert nicht nur «Das Kind ist willkommen», sondern auch «Wir – die Paten und Verwandten – wollen es begleiten, und etwas Höheres unterstützt uns dabei». «Was eine sehr schöne Zusage ist», sagt Andrea Kindler.
Die beeindruckendsten Taufen, findet die Pfarrerin, sind allerdings die von Jugendlichen – «weil sie es wirklich wollen und es eine bewusste Entscheidung ist». Von den als reformiert gemeldeten Kindern in ihrer Gemeinde besuchen etwa 50 Prozent den kirchlichen Unterricht, schätzt sie. Rund die Hälfte von ihnen entscheidet sich erst in der neunten Klasse für die Taufe. Bei Säuglingen und Kindern hingegen treffen die Eltern diese Entscheidung. Ob der Nachwuchs auch später bei diesem Bekenntnis bleibt, liegt dann nicht mehr in ihren Händen.
Welcher Platz bekommt der Glaube im Familienalltag?
Drei Familien haben für sich selbst unterschiedliche Antworten gefunden und erzählen hier im O-Ton von ihren Erfahrungen.
Familie 1: Die Grosseltern sorgen für Bezug zu unterschiedlichen religiösen Wurzeln
Mira (42) und Stephan (46), zwei Kinder (11 und 7 Jahre)
«Unsere Kinder wachsen bewusst ohne konkrete religiöse Bezüge auf. Das hat zum einen damit zu tun, dass für Stephan und mich Religion keine grosse Rolle spielt, zum anderen liegt es auch an der etwas komplizierten Ausgangslage. Ich stamme theoretisch aus einem muslimischen Elternhaus. Praktisch jedoch habe ich davon nicht viel mitbekommen. Ramadan, Opferfest und Co. waren in meiner Kindheit kein Thema. Im Gegenteil: Meine Eltern stammen aus der Türkei und wollten unbedingt, dass sich ihre Kinder hier integrieren. So haben wir wie die Nachbarn Weihnachten gefeiert – ohne dass sich mir als Kind der tiefere Sinn dahinter erschlossen hätte.
Mit dem Islam habe ich mich erst als junge Frau beschäftigt, aus wissenschaftlicher Neugier sozusagen. Mein Mann Stephan wuchs zwar in einem katholischen Elternhaus auf, doch Glaube und Religion spielen für ihn schon lange keine Rolle mehr. Als unsere Älteste auf die Welt kam, war für uns deshalb klar, dass wir sie nicht in irgendeiner religiösen Richtung erziehen wollen. Lustigerweise sind es nun die Grosseltern auf beiden Seiten, die sich darum bemühen, dass unsere Kinder etwas von ihren religiösen Wurzeln mitbekommen – auf eine Weise, die für Stephan und mich ok ist.
So feiert ausgerechnet meine Mutter mit ihren Enkeln das Zuckerfest – was sie mit ihren eigenen Kindern nie gemacht hat. Und Stephans Eltern liegt viel daran, ihren Enkeln zu vermitteln, was tatsächlich hinter Weihnachten steckt. Das finde ich gut, solche Dinge sollen, nein müssen, Kinder wissen. Gerade auch im Hinblick auf die vielen fremden Kulturen, aus denen ihre Gspänli stammen. Da sollte ihnen zumindest klar sein, wo ihre eigenen Wurzeln liegen. Den Religionsunterricht besuchen unsere Kinder allerdings nicht, das wäre uns zu viel Einflussnahme. Später, wenn sie alt genug sind und Interesse zeigen, können sie sich immer noch entscheiden, eine bestimmte Richtung einzuschlagen.»
Familie 2: Die Taufe als Entscheidungsgrundlage
Sonja (40) und Frank (42), zwei Kinder (5 und 3 Jahre)
«Unsere Tochter und unser Sohn sind getauft. Obwohl wir Eltern heute eigentlich nicht mehr viel mit Kirche anfangen können. Frank und ich stammen zwar beide aus christlichen Familien, in denen der Glaube auch sehr gelebt wurde, aber für uns hat er mit den Jahren an Bedeutung verloren. Heute findet man uns, ehrlich gesagt, nur selten in der Kirche – zu Weihnachten zum Beispiel, weil das halt irgendwie dazu gehört. Vor zehn Jahren hätte ich noch gesagt: «Falls ich mal ein Kind habe, werde ich es sicher nicht taufen lassen, ich will es da nicht beeinflussen.»
Heute denke ich: Die christliche Religion ist nun mal Teil unserer Kultur. Und solange wir Weihnachten und Ostern feiern und nicht wollen, dass der Nachwuchs diese beiden Feste bloss als «Ich bekomme Geschenke»-Tage verbucht, finde ich es nur konsequent, ihn auch taufen zu lassen. Selbst wenn wir Eltern nicht hundertprozentig dahinterstehen, so ist es doch ein Teil von uns. Durch die Taufe haben unsere Kinder die Chance, sich zugehörig zu fühlen, eine Ahnung davon zu bekommen, was es noch alles gibt.
Ausserdem sehe ich es auch als Entscheidungsgrundlage, um sich später zu überlegen, ob sie dabeibleiben wollen oder nicht. Denn wie soll sich ein Jugendlicher oder junger Erwachsener entscheiden, ob Religion und Glaube für ihn Sinn machen, wenn er oder sie gar nicht weiss, wie diese praktiziert werden? Kinder wachsen ja ohnehin nicht in einem völlig einflussfreien Raum auf. Wertfreie Erziehung oder Neutralität im menschlichen Umgang gibt es meiner Meinung nach nicht; irgendwas vermitteln Eltern immer.
Wir entscheiden schliesslich, ob wir das Kind früh fördern oder nicht. Wir wählen den Kindergarten, bestimmen Impfungen, entscheiden, ob wir als Familie umziehen, wie lange der Teenager in den Ausgang darf. Kurz: Eltern beeinflussen ihr Kind. Vermitteln sie ihm allerdings, selbstständig zu denken, ist es egal, ob sie ihm von Gott erzählen oder nicht. Das Kind wird es später für sich dann einordnen.»
Familie 3: Der Glaube gehört zum Leben
Nicole (32) und Beni Keller (34), 3 Kinder (5 und 3 Jahre und 5 Monate)
«Als Mitglieder der Freien Christengemeinde (FCG) Aarau gehört der Glaube für unsere Familie zum Leben: Wir beten zusammen, gehen regelmässig in den Gottesdienst und unser Ältester besucht dort den Sonntagskindergarten. Ich selbst wurde in die FCG Aarau hineingeboren, auch Beni habe ich dort kennengelernt. Unsere Kinder sehen also täglich, wie mein Mann und ich unseren Glauben leben. Später sollen sie sich selbst entscheiden, ob sie diesen Weg weitergehen wollen.
Schon meine Eltern haben dies so gehandhabt. Es gab zwar Momente, da dachte ich: «Gott, gibt’s dich wirklich? Zeig dich mal!» Aber so mit 13, als ich in der Schule gemobbt wurde, hatte ich ein paar Erlebnisse, wo ich spürte: Jesus ist bei mir! Anders konnte ich mir meine Stärke in manchen Situationen nicht erklären. Solche Erfahrungen wünsche ich auch meinen Kindern.
Manchmal gibt es auch Zeiten, in denen ich mich Gott nicht so nah fühle, weil andere Dinge zentraler sind. Trotzdem weiss ich: Er ist da. Genau das möchten wir auch den Kindern vermitteln. Ängstigen sie sich nachts, sagen wir ihnen: «Gott ist bei dir» oder «Engel stehen um dein Bett und beschützen dich»; und hat sich eines verletzt, beten wir zusammen, dass Gott den Schmerz wegnimmt. Aber natürlich erleben wir auch Not und Leid. Ich sage meinen Kindern dann immer: «Gott wird etwas Gutes daraus machen.»
Sollte eines Tages eines unserer Kinder sagen «Glaube ist doch nichts für mich», wäre das sehr schwer für mich. Aber ich möchte ihnen unbedingt die Wahl lassen – weil ich weiss: Erlege ich ihnen etwas auf, ist es nicht der Glaube, den ich selbst erlebe. Ich unterscheide dabei zwischen Religion und Glaube: Erstere ist für mich mit Regeln verbunden, mit Dingen, die man tun muss. Glaube hingegen ist etwas Erlebbares. Ich finde, Kinder brauchen nicht Religion, sondern den Glauben an einen Gott, der in ihrem Leben eine Rolle spielt und immer bei ihnen ist.»
Einst Redaktorin beim «Tages-Anzeiger», später Korrespondentin in Shanghai, schreibt Kristina Reiss heute als freischaffende Journalistin leidenschaftlich über den Mikrokosmos Familie. Dabei interessiert sie sich für alles, was Menschen bewegt – ihre Wünsche, Sehnsüchte, Ängste und Hoffnungen.