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Wenn die Kinder «FICKEN» sagen
Dass meine Kinder gelegentlich ganz gerne fluchen, habe ich hier schon verschiedentlich erwähnt. Auch dass ich mich darum bemühe, meine eigenen kleinen und grossen Verbalaussetzer zu minimieren, ist nichts Neues. Dies gelingt – wer hätte das gedacht – mal besser und mal schlechter. Allerdings bin ich nicht derjenige, der in diesem Feld den Ton angibt. Im Gegenteil: Ich spiele bestenfalls die 2. Geige. Viel wichtiger ist es, mit welchen Worten Freundinnen und Freunde die Welt benennen, denn mit denen verbringt man zunehmend mehr Zeit. Die müssen beeindruckt und versichert werden, dass man (sprachlich) dazugehört. Früher äusserte sich das vor allem Fäkal. Hinsichtlich ihrer Kraftausdrücke leben Deutsche ja im Pippi-Kacka-Land. Irgendwas ist immer Mist. Wenn was schief geht, ist es scheisse. Und die Fähigkeiten von Vorschulkindern, aus Begriffen dieser Sprachwelt eine schier endlose Kette zusammenzusetzen und vor sich her zu brabbeln, zu singen oder zu schreien, müssen fast schon bewundert werden. Manchmal auch die Ernsthaftigkeit, mit denen Fäkalfeststellungen getroffen werden. «Du bist eine Kacke!» wurde mir im Laufe meines Lebens schon von mehreren, mir relativ unbekannten kleinen Kindern versichert. Muss einem das zu denken geben?
Aber, ach, diese Zeiten sind vorbei! Wer hätte gedacht, dass ich mich einmal nach ihnen zurücksehnen würde. Inzwischen ist Pippi-Kacka-Land nämlich längst uncool und abgebrannt. Jetzt ist «Ficken» angesagt. Und ja: Das stört mich tatsächlich mehr als die kindliche Freude an allem rund um den Urogenitaltrakt. Nicht etwa, weil ich der Auffassung bin, ich müsste ob des ständigen Gebrauchs dieses Begriffes meine Kinder zwangsweise aufklären. Das sind sie schon. Und darüber bleiben wir auch weiterhin im Gespräch. Es ist vielmehr so, dass dieses ewige «Ficken» hier und «Ficken» da eine sexualisierte Gesellschaft abbildet, die scheinbar kaum noch in der Lage ist, über Sexualität wahrhaftig zu kommunizieren. Es bildet eine Gesellschaft ab, die mit ihren permanenten Aussagen über «Ficken» und «Gefickt werden» bestehende Machtgefälle zementiert und vertieft. «Der Test war schlecht, da war ich voll gefickt!» macht mich tatsächlich deutlich nervöser als ein Test, der «richtig beschissen» gelaufen ist. Und zwar weniger wegen des Fluchens als vielmehr deshalb, weil «Gefickt werden» damit als so ziemlich das Allerletzte markiert wird, das man erleben will. Wie soll man in so einem Sprachraum seine Kinder zu Personen erziehen, die mit ihrer eigenen Sexualität und mit der von anderen achtsam umgehen? Wenn «Ficken» Macht bedeutet und «Gefickt werden» Ohnmacht, was sagt das eigentlich über die Menschen aus, die das eine tun, beziehungsweise das andere mit sich machen lassen?
Die Autonomie über den eigenen Körper und die eigene Sexualität ist eines der wichtigsten Dinge, die Kindern zusteht. Dafür sollten sie nichts tun müssen. Stattdessen sollten wir dafür die Bedingungen schaffen, dass dies gelingt. Und mag es sich auch naiv oder übermässig kleinkariert anhören: Sprache gehört dazu. Und zwar nicht nur die von Gleichaltrigen. Auch wenn ich nur die 2. Geige spiele, sollte ich keine Aussetzer haben.
Mist! Dabei habe ich doch so gerne Fuck! gesagt.
Nils Pickert (1979), geboren in Ostberlin, nach dem Mauerfall mit einer waschechten Kreuzbergerin angebändelt. Gegenwärtig 4 Kinder: Emma (12), Emil (10), Theo (2½) und Maja (bald 1). Arbeitet als freier Journalist für diverse Medien und als Weltverbesserer bei dem Verein Pinkstinks, der sich unter anderem gegen Sexismus in der Werbung engagiert. Wurde von der «Weltwoche» mal als «maximal emanzipierter Mann» beleidigt, findet aber, dass ihm der Titel steht. Bloggt für «wir eltern» über Alltag mit Kindern, gleichberechtigtes Familienleben, neue Väter, Elternbeziehungen, Erziehungswahnsinn. Alle Blogg-Beiträge von Nils Pickert finden Sie hier.