Die erste Begegnung mit dem Gesundheitssystem in Portugal fördert mehr zutage als nur die Wachstumskurve meines Sohnes.
Die Frau fragt nach der neunstelligen Nummer, die uns Zugang zum portugiesischen Gesundheitswesen verschaffen soll. Hier ist doch eine neunstellige Nummer, sage ich, und zeige auf eine achtstellige. Das macht die Frau hinter dem Schalter nicht glücklicher. Es folgt ein langer Vortrag, von dem ich nicht allzu viel verstehe, aber aus den hochgezogenen Augenbrauen der Beamtin schliesse ich, dass, erstens, eine temporäre Lösung dieses Problem anscheinend einem adminstrativen Kraftakt sondergleichen gleichkommt und womöglich das Öffnen mehrerer Worddokumente erfordert, und sie, zweitens, anderen Menschen nicht ungern das Gefühl vermittelt, diese seien der Organisation ihres Lebens unfähig. Ich verspreche, die erforderliche Zahlenabfolge bis zum nächsten Arztbesuch aufzutreiben. Und sollte ich der Frau in der Zwischenzeit in einem Selbstbedienungsrestaurant begegnen und sie balanciert gerade ein volles Tablett, dann stelle ich ihr ein Bein.
Auch sonst bin ich nicht allzu guter Laune. Und das nur, weil heute jemand den Kopfumfang meines Kindes messen wird und ich nicht weiss, was Kopfumfang auf Portugiesisch heisst. Oder Blähungen. Oder Nabelbruch. Hätte ich ja alles im Wörterbuch nachschlagen können. Hab ich aber nicht.
Macht nichts. Gesundheitsfachkraft Mario, ein untersetzter Mann mit graumeliertem Haar und markanten Gesichtszügen, behilft sich gerne mit universal verständlichen Gesten. Als ich ihm etwa erzähle, dass wir die Schweiz für ein Leben in Portugal verlassen haben, zieht er sich eine imaginäre Schlinge um den Hals. Viel scheint er von unseren Plänen nicht zu halten. Er habe, fügt er dann hinzu, einst selbst ein paar Jahre in der Schweiz gelebt, in Lausanne, wunderbare Jahre seien das gewesen, wunderbare. Die Gründe für die Rückkehr gehen in undeutlichem Gemurmel unter und so sprechen wir bald wieder über den Kopfumfang meines Babys, deshalb sind wir ja hier; alles in bester Ordnung, versichert Mario, aber irgendwie klingt selbst das aus seinem Mund wie der Auftakt eines tragischen Bühnenstücks.
Während ich noch überlege, welche Rolle man ihm in einer Laientheatergruppe wohl zuweisen würde, schickt Mario uns zwei Türen weiter. Zögerlich betrete ich den kleinen Raum, in dem eine Untersuchungsliege steht, ein Spind und ein Pult. Eine aufgeschlagene Zeitung liegt darauf, auf einer Doppelseite wird über Benfica berichtet, WORÜBER DENN SONST, mein Gott, hat man je etwas gesehen, das dem portugiesischen Mann heiliger ist als dieser Fussballclub. Der Arzt blickt hoch, er hat ein freundliches Gesicht, zum Glück, er bittet mich, meinen Buben auszuziehen und auf die Liege zu legen. Mit ruhigen, geübten Bewegungen bewegt er die Beinchen hoch und zur Seite, alles in Ordnung mit der Hüfte, sagt er, er schaut sich den Bauchnabel an, der etwas nach aussen gestülpt ist, auch dieser, kein Anlass zur Sorge. Zum Abschied radebreche ich auf Portugiesisch noch ein, zwei Sätze zu möglichen Bauchschmerzen meines Kindes, er hört mir amüsiert, aber durchaus mitfühlend zu, da scheint ihm plötzlich einzufallen, dass er ja doch ein paar Brocken Englisch spricht. Er hält mir die Hand hin und sagt: «Relax.»
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Bloggerin Ümit Yoker
Ümit Yoker (Jahrgang 77) hätte nie gedacht, dass sie je einen grösseren Umzug wagt als einst den vom zugerischen Baar nach Zürich. Doch die Tochter eines Türken und einer Schweizerin sollte die grosse Liebe in Form eines Portugiesen finden, und nach ein paar gemeinsamen Jahren in der Schweiz und der Geburt von zwei Söhnen zieht die Familie 2014 nach Lissabon. Hier hat sich die Journalistin bisher noch keinen Augenblick fremd gefühlt. In ihrem Blog erzählt sie von Neuanfang und Alltag in der Ferne.