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Siegt die Liebe über alles?
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Nadine Adler
Bei den Eltern meiner Freundin steht ein alter Schrank mit einer Aufschrift im Flur, die mich, als ich dort vor vielen Jahren zum ersten Mal zu Besuch war, mitten ins Herz traf: «Omnia vincit amor». Sie vermag alles zu überwinden, die Liebe. Jaaaa! Genau so ist es, dachte ich mir, knapp zwanzig Jahre alt und ein wenig verbissen auf der Suche nach einem netten Germanisten, für den ich durchs Feuer gehen könnte.
Ist es naiv zu glauben, dass die Liebe über alles siegt? Heute ist es vor allem die Zuneigung zu meinen Kindern, die mich beschäftigt. Reicht sie aus, um aus ihnen gute Menschen zu machen? Wenn ich von Jugendlichen höre, die Schulkameraden erschiessen, von Müttern, die ihre Kinder im Schlaf ersticken, von Ehemännern, die ihre Frauen prügeln, frage ich mich fast immer, was deren Eltern wohl falsch gemacht haben. Ist das gerecht? Fehler machen schliesslich alle Mütter und Väter. Und trotzdem fällt mir die Vorstellung schwer, dass ein Kind, das in einer liebevollen Umgebung aufwächst, eines Tages Amok läuft.
Aber was, wenn das Leben einem zu viele Hürden in den Weg legt? Wenn die Gesellschaft befindet, dass man aus dem falschen Quartier kommt, die falsche Religion hat, das falsche Geschlecht liebt? Dies alles rechtfertigt in keiner Weise, zu was allem Bösen wir fähig sind. Aber vielleicht können wir unsere Kinder unter solchen Umständen noch so oft in den Arm nehmen und ihnen sagen, dass wir sie über alles lieben, ihnen versichern, dass sie genau so in Ordnung sind, wie sie sind. Es ist einfach nicht genug.
Als ich kürzlich einen Bericht über die Attentäter von Paris lese, schäme ich mich ein wenig. Nie hatte ich meine Vorstellung hinterfragt, dass diese jungen Männer in einem Umfeld aufgewachsen sein müssen, in dem sich niemand um sie kümmerte und die Eltern ihnen Intoleranz bereits vorlebten. Und dann ist da auf einmal dieser Vater, der seinem Sohn religiöse Texte aus dem Arabischen ins Französische übersetzt, aus Sorge, wie er dem «Spiegel» erzählt, dass sein Sohn den Islam falsch verstehen und darin eine Bestätigung für seine Radikalisierung finden könnte, zumal er die Sprache seines Vaters ja kaum spricht. Irgendwann verschwindet der Sohn nach Syrien, der Islamische Staat ist für ihn ein grosses Abenteuer. Sein Vater reist ihm hinterher, fleht ihn an, zurückzukehren. Vergebens.
Ümit Yoker (Jahrgang 77) hätte nie gedacht, dass sie je einen grösseren Umzug wagt als einst den vom zugerischen Baar nach Zürich. Doch die Tochter eines Türken und einer Schweizerin sollte die grosse Liebe in Form eines Portugiesen finden, und nach ein paar gemeinsamen Jahren in der Schweiz und der Geburt von zwei Söhnen zieht die Familie 2014 nach Lissabon. Hier hat sich die Journalistin bisher noch keinen Augenblick fremd gefühlt. In ihrem Blog erzählt sie von Neuanfang und Alltag in der Ferne.