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Gegen die Zeit
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Ich bin ein grosser Fan von Gerechtigkeit. Entsprechend wichtig ist mir das «Quid pro quo» (lat.: dieses für das) in der Erziehung: Es muss ein Geben und Nehmen sein, wobei ich mich bei Kindern natürlich auch mit symbolischen Gesten zufrieden gebe, weil man von ihnen bekanntlich nicht allzu Konkretes erwarten kann. Am Ende brauche ich jedoch das Gefühl, dass beide Parteien einen Schritt aufeinander zugekommen sind. Mein Stiefsohn sieht das anders. Logisch, er entwickelt sich langsam aber sicher zum Mann. Und Männer sind bequem und solange ihnen keiner eine Pistole in den Rücken drückt, tun sie nichts, was auch nur ansatzweise anstrengend sein könnte. Sein neuester Coup: Er hat für sich entschieden, dass es zwei Zeiten gibt. Nämlich die Zeit, in der er etwas tun muss. Darin dauert eine Minute nur ungefähr 15 Sekunden. Zack, schon zwei Minuten Zähne geputzt. Wie? Noch 10 Minuten Mathe üben? Ach, das runden wir doch auf! Versteht sich von selbst, dass auf der Stelle aufgehört wird, wenn die letzte Hundertstelsekunde der abzusitzenden Zeit um ist. Pünktlichkeit muss sein.
Dem gegenüber steht die Zeit, in der er etwas tun darf. Sie verstreicht seltsamerweise viel, viel langsamer als die andere Zeit. Um beim Jungen zu klingeln, mit dem er um halb drei abgemacht hat, muss er um fünf vor halb drei los – das fünf Minuten für 2 Stockwerke. Auch das Minuten-Aufrunden will ihm in dieser Zeitrechnung nicht mehr gefallen: Hä? Mit dem Gamen aufhören? Aber ich hab doch noch 19 Sekunden. Nach dem Spielen draussen 10 Minuten zu spät zu Hause sein, kein Problem, es ist ja die andere Zeit. Haben wir noch Fernsehzeit ausgemacht, steht er wiederum vor der vereinbarten Zeit auf der Matte.
Unnötig zu erwähnen, dass mich das wahnsinnig macht. Das ist Opportunismus in Reinform und der regt mich schliesslich auch bei Erwachsenen auf. Klar ist Zeit relativ, mir sind einstündige Sitzungen auch schon wie Wochen vorgekommen. Trotzdem besteht mein Quid-pro-quo-Sensorium darauf, dass mit der gleichen Elle (oder hier: Uhr) gemessen wird. Nur, wie bringe ich das dem Jungen bei? Muss ich überhaupt? Schliesslich ist ein so kreativer Umgang mit der Zeit ja irgendwie auch wünschenswert. Ich könnte mir gut vorstellen, dass tatsächlich mal zwei Zeiten eingeführt werden, weltweit. Hoffentlich sind wir bis dahin mit dem Leistungsdruck nicht so weit, dass die Freizeit schneller vergeht als die Arbeitszeit, ich bin schliesslich auch nur ein Mann.
Reto Hunziker ist 1981 im Aargau geboren, aber das muss noch nichts heissen. Er hat Publizistik, Filmwissenschaft und Philosophie studiert und auch das muss noch nichts heissen. Er arbeitet als freier Journalist und als Erwachsenenbildner und versucht daneben, dem ganz normalen Wahnsinn in einer Patchwork-Familie (Frau, Tochter und Stiefsohn) mit Leichtigkeit und gesundem Menschenverstand zu begegnen – das will was heissen. Alle Blog-Beiträge von Reto Hunziker finden Sie hier.