
Familienleben / Eltern mit ADHS
«Bin halt ein zerstreuter Papa»
Von Beni Frenkel
Beni Frenkel (40) erhielt als Kind die Diagnose ADHS. Heute ist er Vater von drei Kindern. Trotz verlegten Hausschlüsseln und Problemen mit Bodys bekommt der Journalist und Autor das Familienleben auf die Reihe. Meistens.
Anlaufstelle adhs20+, die Schweizerische Info- und Beratungsstelle für Erwachsene mit ADHS, bietet einen Überblick über unterschiedliche, fachgerechte Unterstützungsmöglichkeiten. ➺ adhs20plus.ch
Ich bin in Dättwil aufgewachsen. Ein kleines Dorf im Kanton Aargau. Viel Wald, eine Autobahn und eine Dorfschule neben dem Bauernhof. In der 1. Klasse mussten wir jeden Freitagmorgen das Etui auf die Pulte legen. Frau Amgarten* lief vorbei und überprüfte den Inhalt: Bleistift, Farbstifte, Radiergummi. Ein Donnerwetter, wer etwas zuhause vergass! In meinem Etui befand sich höchstens ein Bleistift oder ein halber Apfel. Nach zwei Monaten war Frau Amgarten am Ende ihrer Kräfte. Sie schrie mich an. Und dann schrie sie Madeleine und Corinne an. Die sassen links und rechts neben mir. «Ihr beide», schnaubte Frau Amgarten, «seid jetzt mitverantwortlich für Benis Etui!»
Ich störte ständig. Und Frau Amgarten schickte mich immer vor die Türe. Aber einfach im Korridor warten, wollte ich nicht. Also ging ich nach Hause. Frau Amgarten wurde natürlich noch wütender und rief meine Mutter an. Dann musste ich zurück zur Schule laufen.
Irgendwann im April 1984. Das Telefon schellt. Frau Amgarten ist dran. Sie hat ein Anliegen. Bald ist Ostern. In den nächsten Tagen wird sie ausführlich vom Heiland berichten. Den Judenbengel Beni will sie bis Ostern nicht mehr im Klassenzimmer sehen.
Meine Eltern nahmen mich aus der Schule. Eine Kinderpsychologin versuchte herauszufinden, was mit mir falsch ist. Die Diagnose ADHS war damals aber nur wenigen Fachleuten bekannt. Die Psychologin spielte mit mir zuerst Pingpong und dann Schach. Nach zwei Sitzungen wusste sie, in welche Schublade ich passe: POS, also Psychoorganisches Syndrom. Später taufte man die POS-Kinder in ADHS-Kinder um.
Panik, wenn das Baby schreit
Rückblickend gesehen, bin ich wohl 20 Jahre zu früh auf die Welt gekommen. In den 1980er-Jahren war ein ADHS-Kind vor allem ein Problemkind. Es störte den Lehrer und die Klasse. Dass es selber aufwendige Hilfe benötigt, war nicht bekannt. Darunter litt mein Selbstbewusstsein enorm. Ich wusste ja, dass ich die anderen Menschen verärgere. Im Herzen wollte ich das nicht. Nur, wie sollte ich mit meiner überschüssigen Energie und der Konzentrationsschwäche umgehen? Das lernte ich nie.
Heute bin ich Vater von drei Kindern. Ich weiss noch, wie ich zum ersten Mal meine Tochter in den Händen hielt. Das zwei Minuten alte Menschenkind guckte mich an. Ich bekam Angst. Werde ich das schaffen? Vor einem halben Jahr hatte ich das Studium geschmissen und war arbeitslos. Meine Frau lag jetzt entkräftet im Geburtssaal. Neben ihr richtete sich die unsympathische Schwiegermutter von ihrem Sitz auf und beobachtete mich kritisch, wie ich das Baby hielt.
Die ersten Monate waren schlimm. Bis zur Geburt der Kinder war meine Frau alles: Hausfrau, Putzfrau, Berufsfrau, Steuererklärungsfrau, Billy-Regal-Zusammenbaufrau. Es gab Zeiten, da wollte sie mir etwas davon beibringen. Aber weil es mich nicht interessierte, hörte ich nicht richtig zu. Nun schmiegte sie das Baby an ihre Brust und lag stundenlang im Bett. Ich stupste meine Frau. Ich hatte nämlich Hunger und andere Bedürfnisse. Aber mit der Geburt des ersten Kindes veränderte sich etwas Grundlegendes bei mir. Ab sofort konnte ich mich nicht mehr irgendwie durchs Leben schlängeln. Auf einmal nistete sich das Wort «Verantwortung» in meinem Gehirn ein.
Einmal ging die Frau zur Ärztin und liess mich für zwei Stunden alleine mit dem Kind. Als die Tür ins Schloss fiel, schrie das Baby. Ich geriet in Panik. Ich riss die Küchenfenster auf und brüllte nach meiner Frau. Doch die hörte mich nicht. Frau anrufen! Ich suchte nach meinem Handy. Wo ist das verdammte Handy? Das Baby kreischte, etwa so laut wie ein Presslufthammer plus Laubbläser. Was macht die Frau in solchen Fällen? Windeln wechseln! Verzweifelt suchte ich nach einem Reissverschluss beim Body. Da war kein Reissverschluss. Mit der Schere zerschnitt ich den Body, der sich theoretisch auch mit Druckknöpfen öffnen liesse.
Die Windel war aber trocken wie Schmirgelpapier. Da kam mir der rettende Einfall, wie man ein Kind tröstet: Fernsehen! Zum Glück lief ein Zeichentrickfilm. Das Baby beruhigte sich wieder und schlief wohlig ein.
Das war eine wichtige Lektion für mich: Wegen meines ADHS werde ich nie ein Schema-F-Papi sein. Dafür habe ich gelernt, zu improvisieren. Und wenn das nicht klappt, laufe ich halt einfach zweimal. Das wissen auch die Betreuerinnen im Hort. Sie kennen mich längst. Alle drei Kinder besuchten den gleichen Hort. Wenn ich die Kinder in den Hort brachte, fehlte immer etwas Wichtiges: Nuggi, Regenschutzkleider, Schal, Schuhe, Schoppen. Die Kinder freuten sich dann immer. Sie wussten: Papi verlässt mich nicht, er kommt in zehn Minuten wieder zurück.
Am Abend völlig erledigt
Mittlerweile bin ich seit neun Jahren Vater. Der Junge, er ist sieben Jahre, hilft mir manchmal am Morgen. Er weiss immer, wo mein Portemonnaie ist oder der Wohnungsschlüssel. Ich bin ihm sehr dankbar. Meine Tochter, neun Jahre, guckt mich an, bevor ich aus dem Haus gehe. Sie ist zuständig für meine Kleidung. Dank ihr gehe ich nie ungepflegt aus dem Haus. Vielleicht gibt es Leserinnen, die jetzt den Kopf schütteln. Man muss doch ein Vorbild für seine Kinder sein! Das stimmt. Andererseits lernen meine Kinder, dass ihr Papi zwar immer den Kopf verliert, aber nie sein Herz.
So richtig ins Schwitzen komme ich eigentlich nur noch, wenn ich alleine einen Ausflug mit den Kindern mache. Das ist dann wirklich wie eine Eigernordwandbesteigung. Ich schreibe auf einem Zettel auf, was alles schiefgehen könnte. Und ich rede halblaut mit mir selbst: Wo hast du zum letzten Mal dein Portemonnaie gesehen? Hast du schon im Kühlschrank nachgeschaut? Aha, da ist es nicht. Jetzt nicht wütend werden. Die Frau legt doch für solche Fälle immer Notgeld auf die Seite? Ja, genau! Davon nimmst du dir jetzt 100 Franken! Wo hast du zum letzten Mal das Notgeld gesehen?
Am Abend bin ich immer erledigt. Dann gehe ich ins Schlafzimmer und gucke auf die Wand. Da hängen Kinderbilder. Auf einem Bild gibt es einen dicken Mann. Auf seinem Bauch steht: «Suberbabi» – «Super, Papi!»
*Name geändert (ich weiss ihn auch nicht mehr)
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