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Bettnässen – Trocken werden
«Bettnässer sind keine Problemkinder»
Von Bettina Leinenbach
«Ein Kind wird dann trocken, wenn es reif dafür ist», sagt der Kinderarzt Stephan König. Er hält wenig vom Töpfchentraining.
wir eltern: Herr König, warum sind manche Kinder schon mit zwei Jahren trocken, während andere auch mit fünf oder sechs noch auf Windeln angewiesen sind?
Stephan König: Das Ganze ist ein Reifungsprozess, der in einem sehr individuellen Tempo abläuft. Die Entwicklung lässt sich kaum von aussen beeinflussen. Das Kind wird die Windel dann los, wenn es parat dafür ist. Verunsicherten Eltern rate ich, in Erfahrung zu bringen, wann sie selbst sauber und trocken geworden sind. Die Vererbung spielt nämlich eine grosse Rolle.
Was genau muss reifen, damit es mit dem Trockenwerden klappt?
Wenn ein Säugling eine volle Blase hat, geht eine Meldung ans Rückenmark. Von dort kommt dann der Befehl: Blase entleeren! Bei Babys geschieht das bis zu zwanzig Mal am Tag. Je älter das Kind wird, umso häufiger wird auch das Gehirn miteinbezogen. Es darf neu ein Wörtchen mitreden, wenn es um die Frage geht, ob das Pippi kommen darf – oder eben nicht. Das funktioniert aber erst, wenn die entsprechenden Nervenverbindungen im Gehirn geknüpft sind.
Lässt sich das in Zahlen ausdrücken?
Im Alter von zwei Jahren haben ungefähr 10 Prozent der Kinder Kontrolle über ihre Blase. An ihrem dritten Geburtstag können das schon an die 60 Prozent. Das heisst aber umgekehrt, dass 40 Prozent der Dreijährigen tagsüber noch eine Windel brauchen.
Viele Eltern glauben dennoch, sie könnten beim Sauber- und Trockenwerden nachhelfen. Was halten Sie vom Töpfchentraining?
Nicht viel, das erzeugt höchstens Stress. Und zwar auf beiden Seiten. Die Erwachsenen können jedoch eine Umgebung schaffen, die es dem Kind leichter macht, diese Entwicklungsschritte zu vollziehen.
Wie denn?
Zum Beispiel, in dem sie ihren Kindern Trainerhosen mit Gummizug statt Jeans mit Knopf und Reissverschluss anziehen. Oder Unterhose und Hemdchen statt Bodys. Das Töpfchen an einem festen Platz und immer in Reichweite, ein Bänkchen vorm WC und ein Sitzverkleinerer auf der Brille – das wären gute Ansätze. Ausserdem wollen die Kleinen sehen, was genau die Grossen auf der Toilette machen. Mama und Papa könnten doch die Tür offen stehen lassen, wenn sie das WC benützen.
Kann ich als Mutter einschätzen, ob mein Kind bald soweit sein könnte?
Es gibt kleinere Anhaltspunkte. Die Stuhlkontrolle kommt immer vor der Blasenkontrolle. Ein Kind, das ohne Hilfe eine Treppe hoch- und herunterlaufen kann, sollte von seiner Hirnentwicklung zumindest theoretisch reif genug sein, um das grosse Geschäft kontrollieren zu können. Sauber werden ist vergleichsweise leichter als trocken werden. 60 bis 70 Prozent der Dreijährigen haben diesen Schritt bereits gemeistert.
Wieso passieren gerade in den ersten Tagen ohne Windel so viele kleinere Unfälle?
Zum einen muss der Darm seltener als die Blase entleert werden. Zum anderen kündigt sich das grosse Geschäft deutlicher an. Der Harndrang ist hingegen viel subtiler. Wenn die Kleinen mit etwas beschäftigt sind, passiert es leicht, dass sie die Signale überhören. Wenn sie dann realisieren, dass das Pippi jetzt wirklich heraus will, läuft es schon.
Viele Eltern wundern sich, dass ihr Kind tagsüber sauber und trocken ist, nachts aber immer noch regelmässig in die Windel uriniert.
Das ist sehr verbreitet. Dazu zwei Zahlen: 20 Prozent aller 5-Jährigen und 10 Prozent aller 6-Jährigen nässen nachts noch ein. Auch hier liegt eine Reifeverzögerung vor. Die Ursachen sind vielfältiger. Oftmals ist das Hormonsystem noch nicht feinjustiert. In der Nacht bildet unser Körper einen Botenstoff, der dafür sorgt, dass wir im Schlaf weniger Urin produzieren. Wenn es an besagtem Hormon mangelt, ist die Blase schon nach wenigen Stunden im Bett gefüllt. Wenn ein Kind zusätzlich noch besonders tief schlummert, ist das Malheur schnell passiert.
Ab wann wird das Ganze zum Problem?
Bei der 5-Jahres-Kontrolle frage ich jeweils, ob das Kind schon trocken ist. Wenn ich dann erfahre, dass es nachts noch ein Windelhöschchen braucht, versuche ich herauszufinden, ob das ein Problem für das Kind und seine Familie darstellt. Falls nicht, lohnt es sich, einfach abzuwarten. Viele Mädchen und Buben schaffen den nächsten Schritt von alleine – sobald sie reif dafür sind.
Die Meinung, dass Bettnässer psychische Probleme hätten, hält sich hartnäckig.
Diese Einschätzung ist falsch. Richtig ist aber, dass Kinder, die nachts einnässen, mitunter sehr darunter leiden. Stellen Sie sich vor, Sie sind sechs Jahre alt und hatten noch nie eine trockene Morgenwindel. Ihr kleiner Bruder schafft das mit seinen vier Jahren aber problemlos. Das kann sehr demotivierend sein. Ich meine, in so einer Situation sollte man den Kinderarzt miteinbeziehen.
Wie können Sie den kleinen Bettnässern helfen?
Das Wichtigste ist sicher, den Druck herauszunehmen. Wenn ich mit dem Kind bespreche, dass beispielsweise noch zwei andere in seiner Schulklasse dasselbe «Problem» haben, hilft das oft schon weiter. Abgesehen davon stehen uns verschiedene Behandlungsmethoden zur Verfügung, die eine hohe Erfolgsquote aufweisen.
Zum Beispiel?
Ich mache in meiner Praxis sehr gute Erfahrungen mit einem sogenannten Weckapparat. Das ist ein kleines Gerät, das vor dem Einschlafen in die Unterhose gelegt wird. Tritt während der Nacht Urin aus, registriert das der Sensor. Das Kästchen beginnt zu vibrieren. Das Kind wird wach und kann normal zur Toilette gehen. Es dauert oft nur wenige Wochen, bis der nächtliche Gang zum WC oder das Zurückhalten des Urins ganz ohne Weckapparat funktioniert. Ab dann gehören die Windelhöschchen der Vergangenheit an.
Stichwort «Windeln». Momentan ist immer wieder von der «Babys-ohne-Windeln-Bewegung» die Rede. Die Idee: Wenn die Eltern frühzeitig lernen, wie sich ihr Kind verhält, bevor es Harn und Stuhl ausscheidet, braucht es von Anfang an keine Windeln. Was halten Sie davon?
Ich bestreite gar nicht, dass das funktionieren kann. Die Naturvölker kommen auch ohne Pampers und Co. aus. Wir leben aber nicht im Urwald, sondern in einer komplexen Welt. Wir haben die Fähigkeit, die Signale der Säuglinge richtig zu deuten, gewissermassen verloren. Ausserdem sind unsere Kinder selten nackt. Gerade das wäre aber wichtig, um schnell reagieren zu können, wenn sich eine Blasen- oder Darmentleerung ankündigt. Ich bin auch skeptisch, weil ich weiss, wie gestresst viele Säuglingseltern sind. Wenn ich nun zu diesen Müttern und Vätern sage: «Ihr müsst ab sofort auch noch darauf achten, wie euer Kind guckt, bevor es seine Blase entleert, damit ihr schnell zur Stelle sein könnt», erhöht das den Stresslevel. Das ist doch kontraproduktiv.
Stephan König ist als Kinder- und Jugendarzt im Wallis tätig und befasst sich schwerpunktmässig mit dem Thema «Trocken werden». Er amtet seit vielen Jahren als Präsident der Schweizerischen Interessensgemeinschaft «Bettnässen».
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