Frühförderung: Zwergensprache
Babyzeichensprache, ein Humbug?
Von Diana Frei
Mit den «Zwergensprache»-Kursen ist erneut ein Trend aus den USA bei uns angekommen.
Rund um die gelbe Krabbelmatte sitzen vier Mütter mit ihren neun bis fünfzehn Monate alten Babys, das Seil mit den Glöckchen vor ihnen bildet einen Kreis. «Alle Babys sind schon da, wollen Zeichen lernen…», singen die Mütter zusammen mit der Kursleiterin Corine Verna und ziehen im Rhythmus dazu an den Glöckchen.
Verna ist Regionalleiterin der Schweiz für die «Zwergensprache-Kurse», die von Vivian König nach einer ursprünglich aus Amerika stammenden Idee für Deutschland ausgearbeitet wurden. «Mit Babys kommunizieren, bevor sie sprechen können», heisst der verheissungsvolle Untertitel von Königs 350 Seiten starkem Lehrmittel «Das grosse Buch der Babyzeichen». Die Idee ist bestechend: Solange das Baby noch keine Worte artikulieren kann, bringt man ihm einfach eine Zeichensprache bei und kann so trotzdem kommunizieren.
Im Kurs üben die Mütter die Zeichen für «Katze», «Ente», «wo» und «da» und versuchen sich zu merken: Die Ente sieht aus wie ein Schnabel, das Pferd als ob man Zügel in der Hand halten würde. Die Babys sehen zu, kullern auf der Matte herum oder knabbern an den Glöckchen. Corine Verna warnt bereits vor: «Die Kinder übernehmen die Zeichen nicht unbedingt authentisch, die Katze zum Beispiel ist für die ganz Kleinen noch zu kompliziert.»
Andrea Divis, die mit der neun Monate alten Zoe den Kurs besucht, empfindet die Zeichen im Alltag als Erleichterung und ist von ihrem Nutzen überzeugt: «Jeder hält mal den Zeigefinger an den Mund, um das Kind zum Schweigen zu bringen. Wir, die die Babyzeichensprache benutzen, bringen unsere Kinder nicht einfach zum Schweigen, sondern geben ihnen die Möglichkeit sich auszudrücken.» Andrea Divis verwendet zu Hause drei bis vier Zeichen für Begriffe, die oft auftauchen und von denen sie annimmt, sie könnten ein Bedürfnis ihres Babys bezeichnen.
«Zoe hat Milch gezeigt»
«Schlafen», «essen», «mehr» und «Milch» habe Zoe schon gezeigt: «Kürzlich war Zoe abends müde, und obwohl sie nicht viel gegessen hatte, brachte ich sie ins Bett. Sie ist dann aber nicht eingeschlafen, sondern hat ‹Milch› gezeigt. Das war sehr hilfreich, durch ihr Zeichen wusste ich, was sie wollte. Sonst hätte ich wahrscheinlich gedacht, sie sei aus Müdigkeit quengelig.»
Corine Verna aber betont: «Man muss die Erwartungen an die Zeichensprache herunterholen. Es geht zu einem grossen Teil einfach um die wertschätzende Aufmerksamkeit, die man einem Kind entgegenbringt.» Auch macht sie keinen Hehl daraus, dass nicht alle Kommunikationsversuche mittels Babyzeichensprache sofort verstanden werden: «Um herauszufinden, was das Baby genau meint, wenn es unverhofft ‹Baum› zeigt, muss man sich gut in seine Situation hineinfühlen können.
Das Schöne dabei ist, dass man zusammen über ein gemeinsames Thema nachdenkt und sich darüber austauscht.» Für Corinne Rutishauser, die mit ihrem neun Monate alten Maurice hier ist, steht der Spassfaktor im Vordergrund: «Ich brauche die sozialen Kontakte, ich möchte nicht die ganze Woche mit dem Baby allein zu Hause sein.» Ausserdem fühle sie sich als Neuling mit dieser Altersstufe, und da gebe ihr der Kurs neue Impulse. «Ich lerne Reime und Lieder, die ich nicht kannte.»
Fachwelt ist skeptisch
Die Fachwelt ist jedoch skeptisch, was die Babyzeichensprache angeht. «Brauchen Eltern die Babyzeichensprache in der Haltung, dass ihr Kind später Entwicklungsvorteile hat, dann finde ich diese Art der Frühförderung problematisch», sagt Oskar Jenni, Leiter der Abteilung Entwicklungspädiatrie der Universitäts-Kinderkliniken Zürich. «Es ist nicht wissenschaftlich bewiesen, dass Kinder von Eltern, die die Zeichensprache anwenden, später intelligenter und sprachlich besser sind als andere. Bis heute gibt es keine empirischen Studien, die gesunde Kinder mit und ohne Zeichensprache über längere Zeit in der Entwicklung verfolgt haben.»
Tatsächlich wird eine Art Zeichensprache aber im therapeutischen Bereich angewandt, wie Hilda Geissmann, Leiterin der Logopädie-Abteilung am Kinderspital Zürich, bestätigt: «Down-Syndrom-Kinder etwa haben von der Sprechmotorik her oft Probleme, Wörter zu bilden. Mit ihnen verwenden wir Bildkarten und Handzeichen, um die Kommunikation zu erleichtern.» Ein gesundes Baby in einer gesunden Beziehung habe jedoch genügend Mittel, sich auszudrücken – mit Stimme, Blicken, Körpersprache.
Oskar Jenni räumt trotz kritischer Haltung ein: «Ein intensiver Austausch mit dem Kind – welche Form man auch immer anwendet – ist für seine Entwicklung wichtig. Ob man dabei Babyzeichen, Sprache, Mimik oder Berührungen braucht, ist eigentlich unwichtig.» Gerade dieser kommunikative Aspekt stehe für sie im Zentrum, sagt Corine Verna: «Manchmal frage ich mich, warum man sich so in die Idee verschossen hat, wir würden mit den Kindern schädliche Frühförderung betreiben. Wir verzichten zum Beispiel bewusst auf Verkaufsartikel in Form von Bildkarten, damit gar nicht erst die Möglichkeit geboten wird, künstliche ‹Zeig-mir-was-du-kannst›-Lernsituationen zu schaffen.»
Versprechen an übereifrige Eltern
Trotzdem springen Eltern aus bildungsnahen Schichten gerne auf jeden Zug auf, der ihr Kind potentiell weiterbringen könnte. Und Vivian König, die «Mutter» der deutschen Zwergensprache, verspricht diesen Eltern eine ganze Menge. Zum Beispiel: «Das Baby hat durch die Verbindung von visuellen und akustischen Reizen eine verbesserte Gehirnentwicklung.» «Das ist eine typische Aussage von selbsternannten neurodidaktischen Experten, welche die neurowissenschaftlichen Erkenntnisse der letzten Jahre in die Praxis umzusetzen versuchen», sagt Oskar Jenni. Und: «Es ist schlicht falsch, tierexperimentelle Versuche oder einzelne neurobiologische Experimente mit Babys auf diese Weise zu verallgemeinern.»
Die beiden amerikanischen Entwicklungspsychologinnen Linda Acredolo und Susan Goodwyn hätten Mitte der 1980er- Jahre in einer Fachzeitschrift über die Babyzeichensprache berichtet. «Sie haben vereinzelt positive Effekte auf die Sprachentwicklung gefunden», so Jenni, «das ist aber bereits alles.» Die nötigen weiterführenden Langzeitstudien im Hinblick auf andere Entwicklungsbereiche hätten sie nicht mehr gemacht, dafür aber massgeblich zur Vermarktung der Zeichensprache beigetragen.
Das Marketing ist in den USA denn auch viel penetranter als in unseren Breitengraden, doch auch hier hat sich die Trademark-Mentalität der Zwergensprache – oder vielmehr der Zwergensprache® – durchgesetzt. Vivian König hat eben die überarbeitete Fassung ihres Bestsellers «Kleines Wörterbuch der Zeichensprache» herausgegeben, und in den Kursen tragen die Leiterinnen T-Shirts mit dem Aufdruck www.zwergensprache.ch. Die Kinder winken und klatschen nicht mehr, sondern «zeigen Winken und Klatschen». Die Gesten sind zum Teil dieselben wie eh und je, doch werden sie nun in Babyzeichen-Jargon übersetzt. Und Vivian König sagt, wies geht: «Benutzen Sie die Zeichen so oft als möglich!», rät sie im Kapitel «Wie man am besten beginnt».
Wie ein dressiertes Hündchen
Die Förderhaltung, die auch vor schulischen Bildungsversuchen für Babys nicht halt macht, ist bei Eltern durchaus anzutreffen. Dazu sind auf Youtube anschauliche Beispiele zu finden: Ein einjähriges Mädchen – im Hochstuhl sitzend – wird von ihrer Mutter im Eilzugstempo abgefragt, als ob es um Fremdwörter für den Vokabeltest ginge. Wie ein dressiertes Hündchen macht das Kind brav seine verwischten Bewegungen mit den Händen, worauf die Mutter «Good girl!» ruft und beflissen selber die richtige Geste in die Kamera zeigt. Bei der übereifrigen Mutter handelt es sich um eine Kursleiterin aus Kanada.
Bezeichnend ist auch, dass die Figur des kleinen Gebärdensprachkünstlers bereits im amerikanischen Mainstreamfilm auftauchte. Robert de Niro mimt in «Meet the Fockers» einen unausstehlichen Schwiegervater, der sich nicht zuletzt durch groteske erzieherische Ansichten auszeichnet. Unter anderem bringt er seinem Enkel die Babyzeichensprache bei. Und zwar mit Bildkarten dozierend, im Hintergrund die Wandtafel.
Diese Babys bringen die geforderten Kunststückchen zwar tatsächlich zustande. Aber sogar wenn sie Drei-Wort-Sätze beherrschen, darf man sich fragen, inwiefern man sich inhaltlich auf das Gezeigte verlassen kann. Wie praktisch, wenn ein halbjähriger Säugling zeigen könnte: «Ich habe Bauchweh.» Doch gerade was Gefühle, Schmerzen und Wünsche angeht – Bereiche, in denen man um genauere Informationen wirklich froh wäre – können Babys den Eltern auch mit Zeichen nicht weiterhelfen.
Mehr Nachahmung als Sprache
Wenn ein Einjähriger abstrakte Begriffe wie «Angst» oder «schön» zeige, handle es sich dabei primär um Nachahmung und nicht um seine Gefühle, da er die dafür nötigen kognitiven und sozialen Entwicklungsschritte noch gar nicht durchgemacht habe, sagt Oskar Jenni. Der Spezialist für Entwicklungspädiatrie ist überzeugt, dass Kinder ihre Bedürfnisse ohne spezifischen Zeichengebrauch ebenso gut verständlich machen können. «Die Frage ist einfach, ob die Eltern imstande sind, ihre Kinder zu ‹lesen›», meint er und fügt an: «Wenn Eltern interessiert sind am intensiven Austausch mit ihrem Kind und es zu unterstützen versuchen, führt das allein schon zu besseren Entwicklungsbedingungen.»
Weitere Informationen unter www.babyzeichensprache.com.