
Rafael Künzle
Babykosmos
Baby ohne Windeln
Ohne Wegwerfwindeln geht heute nichts mehr, so scheints. Dabei sind sie nicht nur aus ökologischer Sicht problematisch. Wenig bekannt ist, dass schon kleine Babys mitteilen, wenn sie ausscheiden müssen.
Wegwerfwindeln sind auf den ersten Blick superpraktisch und eine Errungenschaft unserer Zeit.
Wenn nur die Sache mit der Ökobilanz nicht wäre: Bis ein Kind trocken ist, verbraucht es im Schnitt 5000 Windeln – ein riesiger Abfallberg, der die Eltern auch noch rund 2000 Franken kostet. Vom Geruch eben dieser vollen Windeln gar nicht zu sprechen. Eine saubere Sache sieht anders aus.
Stoffwindeln sind eine Alternative, die wieder an Beliebtheit gewinnt, auch wenn sie aufwendiger ist. Was viele Eltern nicht wissen: Babys könnten im Prinzip ab Geburt trocken sein – wenn die Erwachsenen nur richtig hinhören und hinsehen würden. Und zwar von Anfang an.
Der Ansatz nennt sich «windelfrei» oder «Ausscheidungskommunikation» – und ist so alt wie die Menschheit selbst. Im Ratgeber-Klassiker «Babyjahre» beschreibt der Kinderarzt Remo Largo in einem kurzen Abschnitt, dass indigene Kulturen diesen «Mechanismus der Natur» heute noch kennen: «Durch Weinen, motorische Unruhe oder mimische Zeichen vorgewarnt, hält die Mutter den Säugling weit genug von ihrem Körper weg, um nicht beschmutzt zu werden.» Largo ergänzt: «Auch unsere Kinder zeigen im Neugeborenen- und Säuglingsalter dieses Verhalten.»
Eine Expertin auf dem Gebiet der frühen Reinlichkeit von Säuglingen ist Rita Messmer aus Faoug (VD). Seit 35 Jahren befasst sie sich mit dem Thema, hat Bücher dazu geschrieben, berät Eltern, gibt Schulungen und bildet Hebammen aus. Auch sie ist überzeugt: «Reinlichkeit ist beim Kind ein von der Natur angelegter Entwicklungsschritt. Wird bereits das Neugeborene über ein Töpfchen oder das Lavabo gehalten, wenn es kommuniziert, dass es ausscheiden muss, lernt es, dass auf seine Signale eingegangen wird und dass es nicht in die Windel machen muss.» Dieser Lernschritt passiert idealerweise in den ersten 12 bis 15 Wochen, wenn sich das Kind laut Messmer in der dafür vorgesehenen sensiblen Phase befindet. Nach rund drei Monaten hört es auf, mit Mimik, Weinen oder Unruhe auf sein Ausscheidungsbedürfnis hinzuweisen: «Ähnlich wie die frühkindlichen Reflexe, verlieren sich auch die Ausscheidungssignale.»
Abgesehen davon, dass weniger Windeln gebraucht werden, hat das frühe Abhalten auch für das Baby Vorteile. Mit ihren eigenen Kindern und Enkelkindern, aber auch in ihrer beruflichen Praxis erlebt Rita Messmer immer wieder, dass Babys, die so aufwachsen, deutlich zufriedener sind und keine Dreimonatskoliken haben. Aus Messmers Sicht ist das nur logisch: «Kein Tier legt sich in seine eigenen Exkremente – wieso sollten wir Menschen das tun?»
Wenig Interesse und Zuspruch erfährt die Windelfrei-Methode in der etablierten Kinderheilkunde. Oskar Jenni, Leiter der Abteilung für Entwicklungspädiatrie am Universitäts-Kinderspital Zürich, nennt das frühe Abhalten eine «verhaltenstherapeutische Methode», durch welche das Kind «konditioniert» werde: «Es ist eine Leistung der Bezugspersonen, das Kind im richtigen Moment über ein Töpfchen zu halten. Das hat nichts mit Kontrolle des Kindes selbst zu tun», schreibt Jenni auf Anfrage. Er gibt zu bedenken, dass der Aufwand für die Eltern gross sei und die Methode nicht selten als Druck erlebt werde.
In der Tat: Junge Eltern und allen voran die Mütter neigen dazu, alles perfekt machen zu wollen. Und können damit nur scheitern. Schnell kann die Notwendigkeit, das Kind zu beobachten und die Ausscheidungssignale ja nicht zu verpassen, stressen und zu einer ungesunden Anspannung führen. Sowieso: Wer schafft das jederzeit? Die Gründerin des Artgerecht-Projekts und BestsellerAutorin Nicola Schmidt sagt dazu: «Man liest, dass Abhalten nur für Mütter geeignet ist, die sonst nichts zu tun haben. In der frühen Phase mit dem Säugling ist man ja ohnehin immer wieder mit der Frage ‹muss es trinken, schlafen, kuscheln?› beschäftigt und fügt dem lediglich ein ‹muss es mal?› hinzu. Wie das Stillen, wird das Abhalten irgendwann zur zweiten Natur.» Das Kind lesen lernen ist die Aufgabe von Eltern und Bezugspersonen in den ersten Lebensmonaten. Genau darum geht es auch bei der Ausscheidungskommunikation.

Frühes Abhalten – so gehts:
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• In den ersten 12 Lebenswochen scheiden Neugeborene reflexartig aus. Sie tun dies auch in bestimmten Situationen, etwa nach dem Aufwachen, beim Trinken oder beim Windeln-Wechseln.
• Oft zeigen sie durch konzentrierte Mimik, ruckartige Bewegungen, Wimmern oder Weinen, dass sie ausscheiden müssen. Nachts oder wenn sie getragen werden, sind die Signale am deutlichsten.
• Bei der Nahrungsaufnahme wird der gastrokolische Reflex aktiviert, das heisst, der Darm entleert sich. Das Baby hört dann auf zu trinken, macht Geräusche, zieht an der Brustwarze oder am Saugaufsatz und nimmt intensiven Augenkontakt auf – ein klares Signal, dass es gleich ausscheiden wird.
• Zum Ausscheiden das Baby an den Oberschenkeln fassen, auf ein Töpfchen setzen oder übers Lavabo halten. Den Rücken des Kindes mit dem eigenen Oberkörper stützen und einen Schlüssellaut machen, z.B. «psss-psss». Danach das Baby mit Wasser säubern.
• Nach ein paar Tagen, wenn es sich gut eingespielt hat, kann das Baby in der gleichen Art auch auf ein Töpfchen gesetzt werden.
• Ausscheiden ist ein natürlicher Vorgang, wie Essen oder Schlafen. Loben ist nicht notwendig. Die Bezugsperson hilft dem Baby nur bei dem, was es noch nicht selber kann.
• Ende des dritten Lebensmonats hat sich ein Rhythmus eingestellt, die Ausscheidungssignale verlieren sich. Das Baby fängt an, sich nach den Eltern zu richten, welche eine klare Führung beim Abhalten übernehmen.
Rita Messmer, «Ihr Baby kanns!», Beltz-Verlag. epm-paedagogik.ch
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Wer bereits grössere Kinder hat, weiss, dass es für Kleinkinder gar nicht so einfach ist zu lernen, ihr Geschäft irgendwann auf dem Häfi oder dem Klo und nicht mehr überall und jederzeit in eine saugfähige Wegwerfwindel zu verrichten. Dass Kinder immer später trocken werden, darüber berichten Tageszeitungen, klagen Kindergärten und Schulen – nur die Windelindustrie freuts; sie hat längst Höschenwindeln in XXL-Grössen auf den Markt gebracht. Spätestens jetzt sind Eltern gefordert, dem Kind bei der Windelentwöhnung zu helfen. Wenig Unterstützung kommt von der Wissenschaft: «Es ist trotz 60 Jahren Forschung und vielen Studien nicht geklärt, was wirklich zu einer rascheren Sauberkeit beim Kind führt», sagt Entwicklungspädiater Oskar Jenni.
Wieso also nicht dem frühen Abhalten eine Chance geben? Ganz entspannt und ohne Erfolgsdruck, wie nachfolgend beschrieben. Windelfrei sind die Kinder dann kaum bereits mit sechs Monaten, wie es ambitionierte Kreise vorgeben; Rita Messmer findet den Begriff für die Methode sowieso unglücklich gewählt. Aber die Chancen stehen gut, dass das Kind mit 1,5-jährig zuverlässig selbständig aufs Töpfchen geht – und den Durchschnittsverbrauch von 5000 Windeln deutlich unterbietet.
Übrigens: Väter können eine wichtige Rolle bei der Ausscheidungskommunikation übernehmen. Dadurch werden sie für die Bedürfnisse des Kindes sensibilisiert und stärken ihre Beziehung zum Kind. Viele Väter halten ihr Baby zudem lieber ab, als dass sie seine volle Windel wechseln. •