Interview Katharina von der Gathen
Aufklärung: Tipps von der Sexualpädagogin
Von Andrea Bornhauser
Sexualpädagogin Katharina von der Gathen über Doktorspiele, den richtigen Zeitpunkt für die Aufklärung und Kinderfragen, die sie sprachlos machen.
P. Nierhoff
Die deutsche Sexualpädagogin und Autorin Katharina von der Gathen (*1972) ist gelernte Sonderschullehrerin, hat aber das Thema Sexualerziehung schon immer spannend gefunden. Als ihre vier Kinder (heute 13, 16, 18 und 19 Jahre alt) auf der Welt waren, hat sie eine einjährige Zusatzausbildung zur Sexualpädagogin gemacht. Sie führt Projekte an Volksschulen durch, bietet Fortbildungen für Erzieherinnen und Pädagogen an und leistet Elternarbeit. Sie hat die drei vielbeachteten Aufklärungsbücher «Klär mich auf» (2014), «Das Liebesleben der Tiere» (2017) und «Klär mich weiter auf» (2018) geschrieben. Zusammen mit ihrer Familie lebt Katharina von der Gathen in Bonn. ➺ klär-mich-auf.de
«wir eltern»: Frau von der Gathen, wie finden Ihre Kinder denn Ihren Beruf?
Katharina von der Gathen: Ganz schrecklich, das kann ich Ihnen sagen! Nein, inzwischen gehts, aber früher fanden sie das nur peinlich.
Kamen sie nicht spätestens in der Pubertät mit Fragen zu Ihnen?
Überhaupt nicht. Die haben das Thema total gemieden. Ich glaube, in keinem anderen Haus wird vonseiten der Kinder so wenig über Sex geredet wie in unserem. Ich selber gehe ja sehr offensiv mit dem Thema um und mein Arbeitszimmer steht voller Bücher und Broschüren. Meine Kinder haben sich ihre Antworten da schon geholt. Heimlich, wenn ich es nicht gemerkt habe.
Wie können Eltern erkennen, dass das Kind das Bedürfnis hat, über Liebe oder Sex zu sprechen?
Eltern sind heute sehr bemüht, alles richtig zu machen. Das stelle ich in meiner Arbeit immer wieder fest. Es ist ihnen ein grosses Anliegen, ihre Kinder behütet aufwachsen zu sehen und sie wollen bitteschön die Ersten sein, die Aufklärungsgespräche mit ihnen führen.
Jetzt kommt ein Aber, oder?
(Lacht.) Ja, diesen Zahn muss ich den Eltern leider oft ziehen. Weil dieses eine und erste Aufklärungsgespräch, von dem man immer hört, gibts in den meisten Fällen gar nicht. Aufklärung findet im Alltag statt – und zwar bereits ab der Geburt.
Ab Geburt?
Von Beginn an geht es darum, dass man Babys ein Körpergefühl vermittelt; sie streichelt, ihnen die Begrenzung des Körpers deutlich macht, etwa beim Wickeln und Liebkosen. Ebenso, wie später im Elternhaus mit Nacktheit umgegangen wird, wie etwa Körperteile benannt werden. Ob es überhaupt Wörter dafür gibt. Spricht man einfach von «da unten» oder sagt man wirklich «Scheide» oder «Mumu» dazu? Dass die Kinder Begrifflichkeiten an die Hand bekommen, auch das ist schon Sexualaufklärung.
Und dann ist da noch das «Dökterlen».
Ganz genau, Untersuchungsspiele gehören natürlich auch zur alltäglichen Aufklärung. Gerade während der Kindergartenzeit gibt es eine ganz intensive Phase, in der die Kinder sich und andere gründlich untersuchen. Da ist es für Erwachsene wichtig, dies zu begleiten, ohne dass Grenzen überschritten werden.
Wie macht man das?
Es benötigt klare Regeln, die man mit den Kindern festlegt. Beispielsweise «Nein heisst nein!», «Nicht weh tun!», «Nichts in Körperöffnungen stecken!». Dann kommt es drauf an, ob die Kinder, die sich gegenseitig untersuchen, auf Augenhöhe sind, oder ob es ein Altersgefälle gibt. Ein Sechsjähriger und eine Dreijährige stehen natürlich in einem anderen Verhältnis als zwei Vierjährige, die zusammen spielen. Wichtig ist auch, den Kindern zu vermitteln, dass sie sich einig sein müssen.
Inwiefern?
Dass die Kinder sich gegenseitig fragen «Darf ich mal gucken?» oder «Darf ich mit dir zur Toilette gehen und zuschauen?» Dass jedes Kind «Nein!» sagen darf, auch im Nachhinein, wenn es merkt: «Oh, mir gefällt die Situation jetzt doch nicht so». Selbst wenn das Kind zuvor «Ja» gesagt hat. Solche Dinge sollten eingeübt und immer wieder thematisiert werden.
Oft heisst es, dass Kinder heute durch soziale Medien und Smartphone-Chats früher in Kontakt mit pornografischen Inhalten kommen. Was ist da Ihre Erfahrung?
Ja, tatsächlich habe ich festgestellt, dass sich die Fragen der Volksschüler in den vergangenen zehn Jahren verändert haben. Natürlich gibt es solche, die immer aktuell bleiben. Zum Beispiel: «Wann fangen die Achselhaare an zu wachsen?» oder: «Kann jeder Pickel kriegen?» Fragen, bei denen es um die Kinder selbst geht. Es gibt aber vermehrt solche, durch die ich merke, dass die Kinder auch im Internet unterwegs sind.
Was für Fragen sind das?
Ich bekomme von Zwölfjährigen immer mal wieder Fragen, in denen es um Anal- oder Oralverkehr geht. Es wird beispielsweise gefragt, wie Sex zu dritt geht oder warum manche Frauen am Penis lecken.
Wie erklären Sie sich das?
Vielleicht damit, dass die YouTuber, denen die Kinder folgen, im Schnitt rund fünf bis zehn Jahre älter sind als sie selbst. Die haben natürlich andere Themen, nämlich die von jungen Erwachsenen. Da geht es etwa um Sexpraktiken. Um Dinge, mit denen jüngere Kinder noch gar nicht in Kontakt kommen – und die dann trotzdem Fragen aufwerfen. Genau deshalb plädiere ich dafür, dass Kindern schon in der Grundschule die Möglichkeit geboten wird, ihre Fragen, die sie offensichtlich haben, zu stellen. Sie machen häufig die Erfahrung, dass Erwachsene sie abweisen, sich lustig machen, oder ihnen sagen «Dafür bist du noch zu klein!». Dabei spüre ich ein Bedürfnis seitens der Kinder, diese Fragen erklärt zu bekommen.
Was raten Sie?
Als Faustregel kann man sich Folgendes merken: Wenn Kinder eine Frage klar formulieren können, brauchen sie darauf auch eine klare Antwort. Aber es ist ein Drahtseilakt, das merke ich auch in der Schule immer wieder. Es bleibt ein Abwägen von Fall zu Fall. Wenn die Fragen eindeutig über das normale Spektrum hinausgehen, biete ich den Schülern an, diese im Anschluss an die Stunde unter vier Augen zu klären.
Kann man ein Kind zu früh aufklären?
In der Regel fragen Kinder nur genau das, was sie wissen wollen. Manchmal tendieren die Eltern dazu, einen ganzen Sermon abzugeben. Sie beleuchten unterschiedliche Aspekte und suchen nach Erklärungen. Die Kinder drehen sich irgendwann weg und spielen weiter. Es ist nämlich so, dass sie nur das aufnehmen, was sie im Moment für ihre Information brauchen können. Deswegen glaube ich nicht, dass die Gefahr gross ist, dass man Kinder zu früh oder zu sehr aufklären kann.
Wissen Kinder heute mehr als vor zehn, zwanzig Jahren?
Sexualität ist präsenter in der Welt, in der sich Kinder heute bewegen: An jeder Bushaltestelle mit Dessous-Werbung, mit jedem Mausklick im Internet. Doch das Internet hat auch eine andere Seite: Es animiert Kinder, das Thema Sexualität offener zu besprechen, auch untereinander.
Trennen Sie die Geschlechter im Unterricht?
In der Regel nicht, ich mache meine Projekte gerne mit der ganzen Klasse. Weil ich es wichtig finde, dass Mädchen und Jungen voneinander lernen. Dass auch Jungs mal einen Tampon, eine Binde oder einen Menstruationsbecher in der Hand halten – und die Mädchen wissen, dass Jungs eines Morgens mit einer nassen Pyjamahose aufwachen können, weil sie ihren ersten Samenerguss hatten.
In einem Ihrer Aufklärungsbücher nehmen Sie das Liebesleben der Tiere unter die Lupe. Warum?
Die Idee dazu stammt eindeutig von den Kindern. In meinen Schulstunden stelle ich immer eine Kartonbox auf, eine Art Briefkasten. In diesen können die Kinder ihre auf Zettel geschriebenen Fragen rund ums Thema Aufklärung anonym einwerfen. Nun, in dieser Box finde ich regelmässig Fragen zu Tieren. Etwa «Wie haben Schlangen Sex?», «Kriegen Tiere auch die Periode?», oder: «Machen Tiere beim Sex auch Geräusche?». Sie sehen, die Fragen der Kinder drehen sich immer wieder ums Tierreich.
Was können wir Menschen diesbezüglich von den Tieren lernen?
Dass es nichts gibt, was es nicht gibt! Die Vielfalt in der Tierwelt ist gigantisch und hat mich beim Schreiben des Buchs unglaublich beeindruckt. Weil es in puncto Zusammenleben sämtliche Variationen, die wir als Menschen kennen, auch bei den Tieren gibt.
Die da wären?
Strausse zum Beispiel leben in einer Patchwork-Familie, Webervögel in Wohngemeinschaften, Trauerschwäne bilden Regenbogenfamilien, Bärenweibchen sind alleinerziehend und bei nur ganz wenigen Tierarten bleiben sich Pärchen ein Leben lang treu.
Angenommen, Ihre Bücher stehen vor allem in aufgeklärten, gebildeten Haushalten. Wie erreichen Sie bildungsferne Kinder, etwa die mit Migrationshintergrund?
An Kinder mit Migrationshintergrund, aber auch Kinder von etwa sehr christlich geprägten, konservativen Elternhäusern komme ich manchmal schwerer ran. Weil deren Eltern oft mit meinem Unterricht, wie er stattfindet, nicht einverstanden sind.
Was stört sie denn, diese Eltern?
Sie äussern Bedenken, dass ihnen meine Projekte zu explizit seien. Sie möchten das Thema Sexualität nicht in fremde Hände geben, ihre Kinder «schützen». Auch geht es um religiös geprägte Überzeugungen, dass zum Beispiel die ersten Menschen Adam und Eva waren, die von Gott – oder Allah – erschaffen wurden. Es kommt manchmal bei den Elternabenden, die ich immer im Vorfeld halte, die Frage, ob sie ihr Kind von meinem Unterricht abmelden können. Das geht aber nicht, weil der Unterricht zum Lehrplan gehört, wie Sport oder Mathe auch. Da kann man sie ja auch nicht abmelden.
Wie ist es denn für die betroffenen Kinder?
Da habe ich die Erfahrung gemacht, dass diese relativ schnell lernen, beide Welten zu bedienen und in beiden zu funktionieren. Sie passen sich an, zu Hause und in der Schule. Dieser Spagat beeindruckt mich. Ich erlebe diese Kinder in meinem Unterricht oft sehr neugierig und erstaunlich unbefangen.
Waren Sie eigentlich auch schon sprachlos nach einer Kinderfrage?
Ja, das passiert immer wieder mal. Einmal, beispielsweise, habe ich mit den Kindern über die Sexualität von Erwachsenen gesprochen. Da hat mich ein Kind gefragt: «Ja, aber wenn das so schön ist bei euch Grossen mit dem Sex, warum dürfen wir Kleinen das denn nicht?» Diese Frage hat mich eiskalt erwischt und ich musste um die richtigen Worte ringen.
Was haben Sie dem Kind geantwortet?
Ich habe gesagt, dass Erwachsenensex nichts für Kinder sei. Kinder machen es nicht und wollen das übrigens auch nicht. Wenn sie etwa von ihren Eltern mitkriegen, dass sie sich leidenschaftlich küssen, finden sie das ja in einem gewissen Alter einfach nur eklig.
Hat sich mit der #MeToo-Bewegung etwas verändert? Ist man da schon bei Kindern sensibilisierter auf Übergriffe?
Ich würde das jetzt nicht auf die #MeToo-Bewegung zurückführen. Es gelten für mich die ganz normalen Regeln, die alle Kinder lernen müssen. Grenzüberschreitungen gehen sowohl Jungs als auch Mädchen etwas an. Grundsätzlich plädiere ich dafür, auf dem Teppich zu bleiben und durchzuatmen. Kinder müssen das bis in die späte Pubertät immer wieder lernen, dass sie gewisse Grenzen nicht überschreiten dürfen und diese stets neu eingeschätzt werden müssen. Und bitte nicht vergessen: Das Thema ist ja nicht nur mit Problemen und Ärger verbunden, sondern beinhaltet auch eine Annäherung ans andere oder das eigene Geschlecht. Eine ziemlich aufregende sogar.