Reisen
Ab nach Thailand
Mami, heute sind wir mit der Schule in den Wald gegangen und haben einen Fuchsbau gesehen!» – «Ahh, okay.» – «Maaami, hast du überhaupt zugehört?» Nein, hatte ich nicht. Wie ich überhaupt in letzter Zeit meinen Kindern nie richtig zugehört habe. Mein Grosser komme morgens immer zu spät zur Schule, stand in seinem ersten Zeugnis. Ich habe davon nichts gewusst. Meine Kleine leide darunter, dass ihre Lieblingsbetreuerin in der Kita für längere Zeit ins Ausland verreist sei. Auch davon hatte ich keinen Schimmer. Fragt mich jemand danach, wie es eigentlich meinem Mann an seiner neuen Stelle gefalle, zucke ich mit den Schultern und plappere etwas von: «Ganz gut, ist halt alles neu, er muss sich noch eingewöhnen.» Könnte ja sein, aber sicher bin ich mir nicht. Ein typischer Fall von Hamsterrad: Man dreht sich in der gut orchestrierten Familienbehausung – man dreht und dreht, gerät völlig ausser Atem und bekommt plötzlich nicht mehr mit, wie es den Menschen, die man am liebsten hat, eigentlich geht. So hatten wir uns das nicht vorgestellt, unser Familienprojekt. Es sollte doch alles so innig, so besonders und vertraut werden. Stattdessen bestritten wir zwar wie Staffettenläufer den gemeinsamen Alltag, hatten uns aber komplett aus den Augen verloren. Es war Zeit für ein Time-out. Für Tage, die nur uns gehörten – nicht den Terminen und dem durchgetakteten Familienrhythmus mit all seinen Verpflichtungen.
Die Ruhe selbst
Die Luft ist klirrend kalt und schmerzt bei jedem Atemzug an diesem Samstagmorgen, anfangs Februar. Die Stadt befindet sich im Ausnahmezustand, Tram und Busse fahren nur sporadisch. Als wir über die verschneiten Dächer fliegen, muss ich schmunzeln.Denn ich stelle mir vor, wie da unten Armeen von Müttern gerade ihre Koffer für die Skiferien packen. Wahrscheinlich sind sie schon am Ende mit ihren Nerven, weil sie sich beim besten Willen nicht daran erinnern können, in welcher Estrichkiste sie die Skibrillen verstaut haben. Im Hintergrund quengeln die Kids, weil sie unbedingt noch die neue Kasperli- CD auf ihren iPod laden möchten. Und der Ehemann macht sich gerade am Skiträger zu schaffen – wie jedes Jahr – und bringt sich damit geschickt aus der familiären Schusslinie. Entspannt lehne ich zurück. Unser Gepäck ist übersichtlich und war schnell zusammengetragen: Badehosen, Taucherbrillen, Flipflops, ein paar T-Shirts, kurze Hosen, Antimückenspray, Sonnencreme und Schwimmflügeli … «Shit, jetzt hab ich doch tatsächlich die Flügeli vergessen! Wie heissen die denn auf Englisch – swim wings?» Mein Mann zuckt mit den Schultern. Ich werde es noch herausfinden. Später. Mich kann gerade nichts aus der Ruhe bringen. Schliesslich fliegen wir nach Bangkok. Aussentemperatur am Zielort: 35 Grad steht auf dem Flugzeugmonitor. Macht summa summarum einen Temperaturunterschied von 50 Grad zum Abflughafen!
Dicke Luft
«Krass!», entfährt es meinem Sohn, als wir vor dem Suvarnabhumi Airport stehen, während er sich hektisch aus seinem Pullover schält. Die Kleine fragt: «Paapii, warum schtinkts so fescht?» – « Weisst du, in dieser Stadt leben etwa doppelt so viele Menschen wie in der ganzen Schweiz, und weil die alle Auto oder Töff fahren, liegt über Bangkok immer eine dunkle Wolke, die nach Abgasen stinkt.» – «Ah.» Ihr scheint es rätselhaft zu sein, wie man hier freiwillig bleiben kann. Deshalb auch ihre Anschlussfrage: «Und wann gehen wir im Meer baden?» – «Da musst du dich noch etwas gedulden, Schätzli», sagt der Papa und scheint auch nicht mehr ganz sicher zu sein, ob es eine gute Idee war, mit Kindern eine Millionen-Metropole erkundschaften zu wollen, die im Smog versinkt. Doch wir sind überzeugte Urban- Junkies. Wir glauben, dass erst in den städtischen Zentren eines Landes eine fremde Kultur so richtig spürbar wird. Deshalb haben wir uns entschieden, erst einmal ein paar Tage in der Stadt der Engel – wie Bangkok übersetzt heisst – zu verbringen, bevor wir zu den Stränden des Südens reisen. Trotz Time-out sind wir nicht planlos unterwegs: Wir wollen den Fluss Chao-Phraya runtertuckern und die zahlreichen buddhistischen Tempel, die Wats, besuchen. Wir wollen den liegenden Buddha aus Gold besichtigen, und auch den königlichen Tempel mit seinem Smaragd-Buddha (dem Phra Kaeo), das Nationalheiligtum Thailands, dürfen wir nicht verpassen. Geplant ist auch ein Abstecher nach China Town, dem quirligen Chinesenviertel. Und schliesslich wollen wir auch das moderne Bangkok kennenlernen, mit seinen riesigen Shopping- Malls, den Tempeln der Moderne. Wir wollen über Blumen-, Gemüse- und Fischmärkte schlendern und die Leckereien der Garküche kosten.
Das Marktthema nimmt bereits am ersten Tag ein jähes Ende. Unser Sohn muss sich inmitten der Marktbesucher in einen Mülleimer übergeben. Zu intensiv sind die fremden Gerüche, zu hektisch das Treiben, zu müde der Junge. Die Eltern müssen einsehen, dass man nicht zu viel unternehmen soll, wenn man mit Kindern im Gepäck reist. Dass es vernünftiger ist, das Ganze gelassener anzugehen. Schliesslich sollen auf dieser Reise auch Zwänge über Bord geworfen werden. Und dazu gehören wohl auch unsere zwanghaften Vorstellungen in Sachen Stadterkundung. Nach einer Odyssee durch einen Tempel der Moderne, auf der Suche nach «arm floats» – so heissen Schwimmflügel auf Englisch –, fahren wir mit unserer aufblasbaren, blauen Gummibeute zurück zur Hoteloase. Platzieren uns auf Bambusliegen unter Palmen, während die Kids ausgelassen im Pool planschen. Mein Sohn wird am Abend in sein Tagebuch schreiben – ein Auftrag seiner Lehrerin, denn von gewissen Zwängen ist man als Schulpflichtiger nicht befreit: «Hier in Bangkok stinkt es und es ist sehr laut, aber es ist trotzdem schön. Heute war es 35 Grad. Das Hotel hat einen grossen Swimmingpool.»
Völlig losgelöst
Kinder haben ihren eigenen Blick auf eine Stadt. Das zeigt sich auch in den kommenden Tagen. Sie bestaunen zwar den liegenden Buddha und Chinatown, viel interessanter aber finden sie es, den Bangkokern bei ihren allabendlichen Aerobic- Übungen im Lumphini- Park zuzuschauen. Oder die Parkhauswärter zu beobachten, die mit der Grazie einer Ballerina Autos aus den Garagen auf vierspurige Strassen lotsen. An einem hölzernen Pier, irgendwo im südwestthailändischen Niemandsland, zwischen Krabi und Satun, steigen wir in ein Longtailboat.
In der Zwischenzeit hat sich unsere Reisegruppe vergrössert. Unsere Nachbarn aus der Schweiz sind dazugestossen und werden uns in den nächsten Wochen begleiten. Drei Kinder – zwei davon mit Flügeli ausgerüstet, weil es auf Longtailboats selten Schwimmwesten gibt, und vier Erwachsene machen sich auf zum Robinson-Crusoe-Abenteuer. Unter höllischem Motorenlärm fährt uns Bootsmann John über die Andamanensee Richtung Koh Jum. Das Inselleben sollte die letzten Fesseln unseres Alltagskorsetts sprengen. Was auch gelang. Ich möchte an dieser Stelle aber trotzdem eine Warnung aussprechen: Das Inselleben macht denkfaul! Und zwar so richtig. Eines der wenigen Probleme, das sich einem reisenden Insulaner täglich stellt, ist: Soll ich heute mal den Coconut-Shake oder doch lieber einen Mango-Lassi bestellen – das Green oder das Red Curry? That's it! Koh Jum eignet sich für diese wohltuende Verblödung perfekt. Denn in den meisten Resorts der Insel gibts keine Elektrizität. Auch bei uns nicht. Kein TV, keine blinkenden Reklametafeln, keine E-Mails. Oder zumindest fast keine. Zugegeben: Auch ich gebe unseren iPad manchmal an der Rezeption ab, um ihn am Stromaggregator aufzutanken. Und auch ich versuche, mit der zivilisierten Welt per Mail in Kontakt zu treten. Dies erweist sich aber als äusserst nervenaufreibend, weil meist kein Netz vorhanden ist, und deshalb sehe ich schon bald von solchen Aktionen ab. Was zu anstrengend wird, lasse ich fortan bleiben – ob ich mit diesem Prinzip wohl auch durch unseren Alltag kommen würde?
Wir haben es geschafft, sind definitiv im Hippie-Flow-Modus angelangt. Lassen uns durch die Tage treiben, ohne genau zu wissen, welcher Wochentag eigentlich ist – funktionieren nach dem Lustprinzip, graben im Sand, um zu sehen, wo die Krebse wohnen, bauen Burgen, baden und schnorcheln im teewasserlauen Meer, spielen Uno, Fussball oder Schach, lesen Unmengen von Büchern und essen und reden. Über das Leben zu Hause. Fragen uns, ob wir unseren Kindern die richtigen Werte vermitteln und ob wir nicht alles umkrempeln und anders machen sollten. Gelassener, entspannter, lebensfreudiger. Zum Sonnenuntergang werden Öllämpchen in den Bungalow gereicht – und kurze Zeit später schlummern kleine Menschen unter Moskitonetzen und träumen von der meterlangen Riesenechse, die sie heute gesehen haben, oder vom Clownfisch, der erbost aus seiner Anemone gekommen war, weil er sein Baby beschützen wollte.
Süsse Erinnerungen
Ein paar Tage Zivilisation im Küstenstädtchen Krabi sind geplant. Doch wir werden nicht warm mit dem städtischen Rhythmus. Die Sehnsucht nach dem Eiland ist zu gross. Auf der Insel Koh Bulon Lae, nahe der malaysischen Grenze gelegen, geben wir uns wieder dem Insulaner-Dasein hin.
Bulon Lae darf eigentlich keine Fremden beherbergen. Doch darum scheren sich die Seenomaden, die Einwohner der Insel, nicht. Wer hierher kommt, verhält sich ohnehin diskret. Vor allem Ruhe suchende Backpacker und unkomplizierte Familien schätzen die Ursprünglichkeit des wild bewucherten Eilands. Auf unserer Insel-Erkundungstour kommen wir an der kleinen «Coconut Bar» vorbei. Auf der Veranda sitzen junge Traveller aus Europa, Südostasien und Australien. Wir riechen den Duft von sauerscharfen Tom-Yam-Suppen, der sich mit dem süsslichen Aroma von Mariuhana vermischt. Erinnerungen werden wach, an eine andere Zeit, als wir auch noch jung waren. Ungebunden, euphorisch und frei im Herzen. Wollten wir damals nicht anders sein als die anderen? Anders als die grauen Menschen in ihren langweiligen Büros? Gut, dass wir uns die Zeit genommen haben, uns daran zu erinnern. Auf dass die Musse, die wir genossen haben, in unserem Alltag Langzeitfolgen hat.