Familienleben / Zeitgeist
«Das Dauergrinsen geht mir ziemlich auf den Geist»
wir eltern: Herr Retzer, wie gehts? Gut?
Arnold Retzer: Es ging mir schon besser, es ging mir schon schlechter. Ich würde sagen, ich bewege mich so im mittleren Bereich.
In der Schweiz heisst die Standardantwort auf die Frage: «Tiptop!» Woher kommt eigentlich diese Norm des Positiven? Der Zwang, glücklich zu sein?
Immer dann, wenn etwas zum Recht erhoben worden ist, etwa das «Recht auf Glück» – wie es beispielsweise schon in der amerikanischen Verfassung von 1787 auftaucht – dann wird aus dem Recht über kurz oder lang eine Pflicht. Und aus der Pflicht wird ein Zwang. Ich nenne ein Beispiel: Im vorherigen Jahrhundert wurde eine befreite Sexualität erstritten. Jeder sollte ein Recht auf freie Sexualität haben. Heute ist die Sexualität nun absolut nicht mehr in Gefangenschaft, heute MUSS man geradezu eine wahnsinnig freie Sexualität vorweisen können. Das gleiche gilt für das Recht auf Gesundheit. Aus dem Recht, das die WHO einst proklamierte, wurde die Pflicht: Lebe gefälligst gesund! Aus heutiger Sicht zeigt ein Raucher ein stark erklärungsbedürftiges Verhalten. Mit dem Sport ist das genauso und – eben auch mit dem Glück.
Sie sind Therapeut, Sie könnten doch prima an der eifrigen Suche der Menschen nach dem Glück verdienen. Stattdessen schreiben Sie ein Buch mit dem Titel «Miese Stimmung – Eine Streitschrift gegen positives Denken». Nicht gerade geschäftstüchtig.
Das stimmt vermutlich. In der Tat lässt sich mit dem Glücks-Feintuning eine Menge Geld machen. Mit Büchern, in denen steht, wie man richtig zu gucken, zu leben oder Wasser zu lassen habe. Dazu die Seminare und was-weiss-ich. Auch meine Zunft verdient nicht schlecht daran. Ich habe dazu aber keine Lust. Vielleicht nehme ich meinen Beruf zu ernst. Ausserdem gehen mir diese positiven Denkzumutungen und das Dauergrinsen, an dem mein eigener Berufsstand nicht unschuldig ist, ziemlich auf den Geist. Zudem stelle ich mir 24 Stunden Glück am Stück sieben Tage die Woche ziemlich grässlich vor. Und: Ich sehe, dass die Aufforderung, gefälligst positiv zu denken und glücklich zu sein viel Leid erzeugt.
Wieso Leid? Hilft denn die Aufforderung, man solle das Glas immer halb voll statt halb leer sehen, nicht weiter?
Mich hat diese These von den halbvollen oder halbleeren Gläsern nie überzeugt. Meine Erfahrung ist: Es gibt viele ganz leere Gläser.
Ich habe eine Menge Klienten, die unter dem Zwang zum Glück leiden, darunter, dass Positiv Programm ist. Stellen Sie sich vor: Da ist jemand nicht so recht glücklich. Er geht in die Buchhandlung, kauft sich einen Stapel Glücksbücher, probiert alles aus und wird trotzdem nicht glücklich. Jetzt ist er nicht nur unglücklich, sondern hat auch noch das Gefühl, selbst schuld zu sein. Die Erwartung, Glück liesse sich «machen», ist fatal. Ich erlebe das dauernd in Paarbeziehungen und bei Familien.
Das besagte Familienglück ...
Genau. Da sind die Erwartungen besonders hoch. Dabei gibt es reichlich Untersuchungen, die belegen, dass Kinder zwar schön, aber auch ein terroristischer Angriff auf ebensqualität und Paarbeziehung sind. Die Tabuisierung von Leid führt dazu, dass dieses Leid schlimmer wird. Dabei besteht doch der grösste Teil eines Familienlebens in der Banalität des Guten. Aus irgendetwas im Mittelfeld.
Banalität klingt nicht gerade so toll.
Aber die Vorstellung ist unrealistisch: Es gibt entweder Unglück oder es gibt Glück. Die rosarote Brille macht es unmöglich, aus Erfahrungen zu lernen. Nehmen Sie die modernen Patchwork-Familien: Die Erwartungen sind riesig. Das ganze Scheitern der früheren Beziehung soll in dieser neuen wieder gutgemacht werden. Die Latte, was Glück ist, wird wahnsinnig hoch gelegt. Da kann man nur drunter bleiben. Diese Mystifizierung des Glücks führt dazu, dass die grössten Bereiche dessen, was Familienleben ausmacht, ausgeklammert werden. Negatives wird ja derzeit geradezu pathologisiert.
Könnten Sie ein Beispiel nennen?
Allerdings. Nehmen wir die aktuelle offizielle, für Mediziner massgebliche Definition einer Depression DSM5: Darin steht, dass die Trauerdauer beim Tod eines nahen Angehörigen 14 Tage dauern darf. Erwischt einen also ein Psychologe wie man den 15. Tag nach dem Tod des Vaters trauert, ist man depressiv, oder was? In der vorangehenden DSM4 lag die «gesunde» Trauerdauer noch bei einem Monat und in der DSM3 bei einem halben Jahr ...
Ihr Glückstipp?
Ich plädiere vehement dafür, dass man endlich akzeptiert: Miese Stimmung gehört zum Dasein, das Schlechte zum normalen Leben. Darf es auch. Muss es auch. Das Leben selbst endet schliesslich zu einem sehr hohen Prozentsatz tödlich.