Monatsgespräch
Braucht es eine andere Schule?
Von Veronica Bonilla Gurzeler
Zu viele Kinder stehen in der Schule unter Stress. Sollten Kinder besser selbstorganisiert und frei lernen dürfen? Chancen und Risiken eines solchen revolutionären Schulmodells und was ein Volksschulvertreter dazu meint.
In der Glücksschule ist alles anders. Die Kinder lernen ohne Druck und Zwang, wofür sie sich wirklich interessieren. Jahrgangsklassen, Stundenpläne und eine Pausenklingel gibt es nicht, denn Spiel und Lernen gehen im Flow individuell ineinander über. Begründer der Glücksschule ist Daniel Hess, Pädagoge und Autor. Sein Ziel ist es, die Glücksschule als Parallelsystem in die Volksschule zu integrieren, damit möglichst viele Kinder davon profitieren. Wir haben Daniel Hess eingeladen, mit Charles Vincent, Verantwortlicher Volksschulbildung Kanton Luzern, über mögliches und fehlendes Glück in der Schule zu diskutieren.
wir eltern: Herr Vincent, welches waren glückliche Momente in Ihrer Schulzeit?
Charles Vincent: Die Pause (lacht). Im Ernst, ich habe eine einigermassen angenehme Schulzeit verlebt. Ich war an vielem interessiert, las sehr gerne und viel Bücher und Zeitungen und kam von den Noten her relativ gut durch. Besonders lebhaft kann ich mich an einen über 70-jährigen Lehrer erinnern, der nicht nur Lehrer im herkömmlichen Sinn, sondern eine erfahrene, weise Person war. Oft erzählte er aus seinem Leben und las uns Geschichten vor, die er selber geschrieben hatte.
Herr Hess, waren Sie so unglücklich in Ihrer Schulzeit, dass Sie zwingend das Buch «Glücksschule» schreiben mussten?
Daniel Hess: Ich war ein guter Schüler, still, brav und sehr angepasst. Bis in die Oberstufe traute ich mich kaum, etwas zu sagen und probierte, allen Ansprüchen zu genügen. Ich lernte, mir eine Traumwelt zu erschaffen, in der ich mich wohlfühlte. Es gab einige Lehrpersonen, deren Unterricht einen Bezug zu meinem Leben hatte und zu denen ich gerne ging. Der grösste Glücksmoment war für mich aber, wenn die Schule vorbei und die Hausaufgaben gemacht waren, wenn ich mit den Katzen übers Land rennen oder einen Bach stauen konnte. Dann fing das Leben an. Gerne und freiwillig habe ich erst später gelernt, als ich auf dem zweiten Bildungsweg die Matur nachholte.
Was bedeutet Glück für Sie?
Hess: Glück ist für mich etwas Grösseres als ein Lottogewinn oder ein neuer Fernseher. Der Mensch erfährt inneres Glück, wenn er sich verbunden fühlt – mit sich, mit anderen Menschen, mit der Natur. Das Glück liegt in der wahren Begegnung mit dem jetzigen Moment und wenn wir uns nicht in angsterfüllten Gedanken über später oder früher verlieren.
Muss man in einer Glücksschule immer glücklich sein?
Hess: Nein, das ist nicht die Idee. Ich gehe davon aus, dass Menschen ursprünglich extrem neugierig sind, lernen und Kompetenzen erwerben wollen. Eine glückliche Schule ist für mich ein Ort, wo man niemanden unter Druck setzen muss und wo der Lehrer nicht Polizist ist, sondern Lernbegleiter, Coach oder sogar ein weiser Freund, der da ist, wenn man ihn braucht.
Konkret: Was ist der Hauptunterschied zwischen der normalen Volksschule und Ihrer Glücksschule?
Hess: Die Glücksschule ist mehr Bildothek und weniger Schule im klassischen Sinn. Die Kinder haben die Möglichkeit, sich selbstorganisiert mit den Themen zu beschäftigen, für die sie sich gerade interessieren.
Sie entscheiden, ob sie das Einmaleins üben oder über ihr Haustier forschen wollen?
Hess: Genau. Oder ob sie rausgehen zum Tschutten oder um einen Bach zu stauen. Unsere Bewertung, dass Lernen nur dann stattfindet, wenn man hinter einem Buch sitzt und eine Theorie auswendig lernt, ist falsch. Durch das Spiel in der Natur lernt man die grösseren Zusammenhänge kennen, lernt Frustrationsmomente aushalten, zum Beispiel wenn der Staudamm nicht funktioniert und man nach Lösungen suchen muss. Aus der Neurobiologie weiss man, dass die meisten Vernetzungen im Hirn dann passieren, wenn der Mensch im Flow oder am Spielen ist. Begeisterung ist deshalb der wichtigste Lernfaktor.
Herr Vincent, können Sie sich vorstellen, dass in einer Volksschule an einem normalen Montagmorgen Bäche gestaut werden?
Vincent: Sicher! Die Erkenntnis, dass Spielen Lernen ist und umgekehrt, ist da. Im Kanton Luzern gibt es an verschiedenen Schulen anstelle vom Kindergarten die Basisstufe, die in drei, vier oder fünf Jahren durchlaufen werden kann. Hier bieten die Lehrpersonen vermehrt Lerngelegenheiten und unterstützen die Lernenden bei Bedarf. In den höheren Schuljahren und besonders in der Oberstufe wird allerdings meist in traditioneller Form unterrichtet. Allerdings führen immer mehr Sekundarschulen Lernateliers ein; hier können die Lernenden ihre Lernzeit zumindest teilweise selbst organisieren.
Der Verein Glücksschule will die momentane Schule nicht abschaffen, sondern möchte parallel zum bestehenden Schulsystem ein zweites etablieren. Sodass die Kinder wählen können, ob sie im klassischen Sinn mit Prüfungen und Noten unterrichtet werden oder selbstorganisiert und frei wählen, womit sie sich beschäftigen. Kann das funktionieren?
Vincent: Ich habe zu diesem Konzept ein paar Fragezeichen. Die Glücksschule will mit dem Lehrplan 21 arbeiten. Doch wie will sie garantieren, dass die definierten Kompetenzen erreicht werden, ohne gewisse Inhalte zur Pflicht zu machen? Ich vertrete die offizielle Schule und weiss, dass die Lernenden nicht immer freiwillig mitarbeiten, manchmal muss man sie auch ein wenig zum Glück zwingen, also Lernenden Strukturen geben.
In einer Schule, wo man nichts muss und nur darf, würden mit Sicherheit nicht alle Schüler Französisch büffeln wollen – ein Lernziel im Lehrplan 21. Was meinen Sie, Herr Hess?
Hess: Vorab muss man eine andere Frage beantworten: Werden die Lernziele in der jetzigen Schule wirklich von allen Kindern erreicht? Wenn sie auf eine Prüfung büffeln, aktivieren sie ihr Kurzzeitgedächtnis und bringen das Gelernte am verlangten Tag aufs Papier. Ob der Stoff jedoch nach drei Wochen, drei Monaten oder drei Jahren noch in ihrem Kopf ist, das ist mehr als fraglich. Kurzfristig werden die Lernziele also vielleicht bei der Mehrheit erreicht, langfristig jedoch nicht.
Vincent: Das stimmt natürlich. Der Lehrplan 21 hat etwa 300 Kompetenzen, die in den 11 Schuljahren erreicht werden sollen. Da gibt es sicher Kompetenzen, die nur am Tag der Prüfung vollständig vorhanden sind. Aber der neue Lehrplan will ja, dass es nicht beim Wissen bleibt, sondern dass Kompetenzen daraus entstehen und das Wissen angewendet werden kann.
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Daniel Hess (42) hat Psychologie studiert und als Berufsschullehrer für Psychologie, Pädagogik und Soziologie gearbeitet. 2015 ist sein Buch «Glücksschule » im Novum Verlag herausgekommen. Darauf gründeten Lehrpersonen und Eltern einen Verein, der sich für die Umsetzung der Ideen der Glücksschule an öffentlichen Schulen einsetzt. Daniel Hess hält Vorträge und gibt Kurse sowie Weiterbildungen zum Beziehungscoach. Er ist Vater von drei eigenen Kindern und einem Stiefkind im Alter von 3, 8, 13, 15 Jahren und lebt mit seiner Familie in Luzern.
www.gluecksschule.ch
www.a-pg.ch
Herr Hess, in der Glücksschule könnte ich also sagen, Französisch, das interessiert mich nicht, dass lasse ich bleiben?
Hess: Ja, das muss möglich sein. Wenn man sich unzählige Stunden mit einem Fach beschäftigt, das einen nicht interessiert, lernt man nicht, dass Lernen leicht und freudvoll ist, sondern dass es eine Last ist. Wenn wir Menschen unter Druck setzen und zu etwas zwingen, fallen sie in die Opferrolle.
Für den Übertritt in eine Mittelschule wird Französisch jedoch verlangt.
Hess: Es gibt zwei Dinge, die man in der Schule lernt. Das eine ist Fachwissen, das andere ist das, was man über das Leben lernt – Stichwort Selbstwert. In einer Schule, die bewertet und vergleicht, erleben die weniger Erfolgreichen laufend Frustrationsmomente. Daraus resultieren Versagensgefühle, Depression und Gewalt. Die Glücksschule hat eine andere Haltung dem Menschen gegenüber. Sie strebt nicht an, dass wir zu leistungsfähigen Objekten werden, sondern zu sozialen Wesen, die zufrieden sind mit sich und ihrem Leben, die sich etwas zutrauen und wissen, dass sie jederzeit etwas lernen können, wenn sie wollen. Die Erfahrung zeigt, dass sich Kinder, die in einem solchen Lernumfeld aufwachsen, einen bestimmten Stoff in kürzester Zeit erarbeiten können und sehr leistungsfähig sind, weil sie Vertrauen zu sich und zu ihren Fähigkeiten haben.
Könnte im Kanton Luzern eine Schule beschliessen, das Konzept der Glücksschule umzusetzen für Kinder, deren Eltern damit einverstanden sind?
Vincent: In Reinkultur würde das aus meiner Sicht nicht gehen, auch nicht mit dem Lehrplan 21. Ich kann mir aber vorstellen, dass Teile davon übernommen werden – was übrigens bereits geschieht. Selbstorganisiertes Lernen ist schon heute ein Thema an der Volksschule. Viele Schulen setzen das um, doch es gibt natürlich auch Momente, in denen ein Kind oder Jugendlicher etwas lernen muss. Aber auch das ist Vorbereitung auf das Leben, denn das Leben ist nicht nur leicht und freudvoll.
Hess: Das ist Augenwischerei. Selbstorganisiertes Lernen und vorgegebene Lernziele sind ein Widerspruch. Was man heute als selbstorganisiertes Lernen verkauft, hat mit der ursprünglichen Idee, dass die Kinder selber entscheiden, woran sie arbeiten wollen, kaum etwas zu tun. Ich wünsche mir eine neue Haltung im Umgang mit Kindern und Jugendlichen, in der wir sie in ihren Projekten und Zielen respektvoll begleiten und ermutigen. Junge Menschen brauchen vor allem Vertrauen und erwachsene Bezugspersonen, die wirklich in Beziehung treten zu ihnen, ohne Machtanwendung und Druck. Meine Erfahrung als Lehrperson hat mir gezeigt, dass Lernen dann am erfolgreichsten ist, wenn die Lernenden in alle für sie wesentlichen Entscheidungen einbezogen werden, sodass sie die Verantwortung für ihr Lernen und Leben übernehmen können. Ich weiss, dass wir Erwachsenen Lebenserfahrung haben und Kinder noch kaum, aber diese basiert zu oft auf einschränkenden Überzeugungen. Wir haben uns eine enge und strenge Welt geschaffen, mit viel Stress und Burn-out, mit Menschen, die nicht glücklich sind, die Depressionen haben und Angststörungen. Viele Eltern kommen zu mir, weil ihr Kind am Anschlag ist und sie nicht mehr weiter wissen. Wir brauchen eine Lösung für diese Probleme und ich behaupte, die Glücksschule kann eine sein.
Laurence Mouton
Charles Vincent (60) ist Leiter der Dienststelle Volksschulbildung der Erziehungsdirektion des Kantons Luzern. Er hat zunächst Sekundarlehrer studiert und mehrere Jahre auf verschiedenen Schulstufen unterrichtet. Anschliessend hat er Erziehungswissenschaften und Psychologie abgeschlossen. Seit gut dreissig Jahren arbeitet er in verschiedenen leitenden Funktionen in der Bildungsverwaltung und engagiert sich auch gesamtschweizerisch in bildungspolitischen Fragen. Er ist verheiratet, aktuell Erzieher eines jungen Hundes und wohnt in Meggen LU.
Stichwort Burnout-Kids, so der Name eines Buchs, das kürzlich erschienen ist – eine eben publizierte englische Studie zeigt, dass eines von 60 Kindern mit 16 Jahren an einer Erschöpfungsdepression leidet. In manchen Kantonen muss jedes zweite Kind in eine Therapie. Eine Glücksschule scheint dringend nötig, Herr Vincent.
Vincent: Ich sehe es nicht schwarz-weiss. Relativ viele Schüler sind heute einigermassen glücklich in der Schule und können sich in ihren Lieblingsfächern oft sogar etwas spezialisieren. Mir ist aber klar, dass nach der Unterstufe, wo die meisten noch gerne in die Schule gehen, etwas an Freude, Motivation und Begeisterungsfähigkeit verloren geht. Das hängt aber auch mit der Entwicklungspsychologie und den ausserschulischen Anforderungen an die Kinder zusammen. Ich vertrete deshalb den evolutionären Ansatz. Die Volksschule hat sich in den vergangenen Jahrzehnten stark gewandelt – für manche Leute zu viel – und Elemente der Glücksschule können sicher vermehrt in die Volksschule integriert werden. Meine langjährige Erfahrung in der Bildungslandschaft hat mich gelehrt, dass Revolutionen, wie die Glücksschule eine wäre, bei uns kaum eine Chance haben.
Hess: Ich bin nicht gegen Evolution, möchte aber, dass die Schule für Kinder ein Ort ist, wo sie sich wohlfühlen und sich angstfrei entfalten können, wo Angst und Zwang nicht vorkommen. Die Zeit ist reif dafür. Auch die Kinder sind parat.