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Monatsgespräch / Olga Stavrova
Wo es Alleinerziehenden gut geht
Von Ümit Yoker, Illustrationen Martina Paukova
Es gibt einen weitverbreiteten Konsens: Allein erziehen macht unglücklich. Falsch, sagt die Sozialpsychologin Olga Stavrova.

Sebastian Knoth
ist promovierte Sozialpsychologin und an der Universität Köln als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig. Ihre Themenschwerpunkte sind soziale Normen, Moral und prosoziales Verhalten, Psychologie der Religion und Interkulturelle Forschung. Gemeinsam mit Professor Detlef Fetchenhauer publizierte sie 2015 die Studie «Single parents, unhappy parents? Parenthood, partnership and the cultural normative context».
wir eltern: Frau Stavrova, warum interessiert es Sie, wie es Alleinerziehenden geht?
Olga Stavrova: Es gibt zahlreiche Studien zur Frage, welchen Einfluss die Geburt eines Kindes auf die Zufriedenheit seiner Eltern hat. Die Ergebnisse dazu sind widersprüchlich: Viele Forscher kommen zum Schluss, dass Väter und Mütter unglücklicher sind als Paare ohne Kinder, andere stellen das Gegenteil oder gar keinen Effekt fest. Bei den Alleinerziehenden hingegen schien man sich bisher einig zu sein: Es geht ihnen schlechter als Elternteilen, die ihre Kinder zu zweit aufziehen. Die Daten dazu wurden jedoch fast ausschliesslich in den USA erhoben. Wir wollten wissen, ob sich diese Erkenntnis auch kulturübergreifend bestätigen lässt.
Sie haben Daten aus über vierzig Ländern in Europa ausgewertet. Was ist Ihnen dabei aufgefallen?
Wie zufrieden Alleinerziehende sind, hängt sehr wohl vom Land beziehungsweise der Kultur ab, in der sie leben. Die soziale Norm, also das, was andere tatsächlich tun, aber auch das, was das Umfeld für richtig hält, beeinflusst unser Wohlbefinden stark. In liberalen und individualistischen Gesellschaften wie Dänemark, in denen Alleinerziehende häufig anzutreffen und die meisten Befragten davon überzeugt sind, dass Kinder auch mit nur einem Elternteil glücklich sein können, unterscheidet sich die Zufriedenheit von Alleinerziehenden und Vätern und Müttern, die ihre Kinder zu zweit grossziehen, nur gering. In Georgien hingegen zum Beispiel klafft da eine grosse Lücke.
Dann zögen alleinerziehende Georgierinnen am besten nach Dänemark?
Ja, vielleicht wäre das gar keine schlechte Idee. (lacht) Vor allem für diejenigen Georgierinnen, die mit den Normen in ihrem Land selbst nichts anfangen können. Was die anderen denken, beeinflusst unser Wohlbefinden nämlich auch dann, wenn wir ihre Einstellung gar nicht teilen. Das heisst: Selbst wenn eine alleinerziehende Mutter davon ausgeht, dass sie ihren Kindern ein glückliches Aufwachsen ermöglichen kann, hängt ihr persönliches Glück davon ab, was die Menschen um sie herum darüber denken. Wo es einen starken gesellschaftlichen Glauben gibt, dass Kinder für ein glückliches Aufwachsen beide Elternteile brauchen, sind Alleinerziehende unglücklicher als in liberalen Gesellschaften – unabhängig von der persönlichen Einstellung.
Warum?
Der Mensch strebt stets danach, in seinem Umfeld akzeptiert zu werden. Weichen wir in unserem Verhalten von der sozialen Norm ab, leidet unser Selbstwertgefühl darunter.
Und doch treffen wir immer wieder Menschen an, die ganz bewusst ein Leben entgegen der gesellschaftlichen Normen führen: Jugendliche, die sich auffällig anziehen, Eltern, die ihre Kinder nicht zur Schule schicken, Paare, die offene Beziehungen führen.
Weil wir zwar in die Gesellschaft eingebettet sein wollen, gleichzeitig aber einzigartig sein und uns von den anderen unterscheiden möchten. Gegen den Strom zu schwimmen, ist eine Möglichkeit, dieses Bedürfnis zu befriedigen. Zahlreiche Studien zeigen zudem, dass der Mensch eine verzerrte Wahrnehmung hat, wenn es um soziale Normen geht. Wer einen alternativen Lebensstil oder eine unübliche Meinung hat, unterschätzt oft, wie sehr er damit von der Mehrheit abweicht.
In jeder 6. Familie wachsen Kinder heute in der Schweiz mit einem Elternteil auf.
1970 war es jede 20. Familie
200 000 Einelternhaushalte gibt es derzeit etwa in der Schweiz.
In knapp 9 von 10 Fällen handelt es sich bei den Alleinerziehenden um Mütter.
Hinzu kommen etwa 60 000 Patchworkfamilien: Familien, in denen die alleinerziehende Person mit einem neuen Partner beziehungsweise einer neuen Partnerin zusammenlebt.
In der Schweiz setzt sich der Schweizerische Verband alleinerziehender Mütter und Väter für die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen von Familien generell und Alleinerziehenden im Speziellen ein. www.svamv.ch
Wie bekommen Alleinerziehende zu spüren, dass sie nicht der Norm entsprechen?
Die Medien spielen eine wichtige Rolle. Die Art und Weise, wie alleinerziehende Mütter und Väter in Zeitschriften oder am Fernsehen dargestellt oder thematisiert werden, hat einen grossen Einfluss auf uns. Aber auch alltägliche Begegnungen und Interaktionen vermitteln Alleinerziehenden, was sich die Gesellschaft für ein Bild von ihnen macht. Manchmal reicht es aus, im Bus mitzuhören, wie sich zwei Fahrgäste über eine gemeinsame Bekannte auslassen, die sich vom Vater ihrer Kinder getrennt hat.
Männer übernehmen die Rolle des alleinerziehenden Elternteils nach wie vor meistens nur dann, wenn die Mutter der Kinder verstorben oder krank ist. Behandelt die Gesellschaft sie anders als Frauen in derselben Rolle? Sind alleinerziehende Väter in ihrer Studie glücklicher als alleinerziehende Mütter?
Wir konnten in unserer Studie diesbezüglich keine Unterschiede feststellen.
Wie offen sind die Schweizer gegenüber Alleinerziehenden?
Die Schweizer sind nicht so liberal wie die Dänen, aber auch nicht so konservativ wie die Georgier. Bei der Lebenszufriedenheit generell bewegt sich das Land im oberen Mittelfeld, doch das Wohlbefinden von Elternteilen, die ihre Kinder zu zweit aufziehen und solchen, die alleine sind, geht deutlich auseinander. Vergleichbar ist die Schweiz insofern etwa mit Irland oder den Niederlanden.
Aber mal im Ernst: Erklären andere Faktoren nicht viel besser, warum Alleinerziehende unzufriedener sind mit ihrem Leben als Elternpaare? Schliesslich machen Streit mit dem Ex um das Sorgerecht oder der harzige Wiedereinstieg ins Berufsleben die Zeit nach einer Trennung nicht gerade leicht.
Natürlich. Doch in einer Gesellschaft mit konservativen Moralvorstellungen in Bezug auf ihre Lebensform sind Alleinerziehende unabhängig von Faktoren wie Einkommen, Beschäftigungsstatus oder Alter unzufriedener als Elternteile, die ihre Kinder zu zweit aufziehen.
Sie sind Deutsche, aber in Russland geboren. Welche Unterschiede sehen Sie in den beiden Ländern in Bezug auf das Thema?
In Russland begegnet man Alleinerziehenden mit Misstrauen, aber auch mit Mitleid. 95 Prozent der russischen Befragten in unserer Studie sind davon überzeugt, dass ein Kind nur glücklich sein kann, wenn es mit beiden Elternteilen aufwächst. In Deutschland liegt diese Zahl bei etwa 85 Prozent, während in Dänemark oder Schweden nur gerade die Hälfte der Befragten so denkt. Entsprechend oft wird Alleinerziehenden in Russland die Verantwortung für das «Unglück» ihrer Kinder zugeschrieben. Man hält sie für egoistisch und wirft ihnen vor, die eigene Zufriedenheit sei ihnen wichtiger als die der Kinder.
Mehr per Zufall stellten Sie fest, dass die Zufriedenheit von Alleinerziehenden und ungetrennten Eltern in individualistischen Ländern zwar vergleichbar ist – dafür aber letztere oft unzufriedener sind als kinderlose Paare. Die Konsequenz einer egoistischen Gesellschaft?
Es ist gut möglich, dass Eltern in Ländern, in denen persönliche Entfaltung und individuelle Lebensgestaltung gross geschrieben wird, mehr Mühe damit haben, diese für eine gewisse Zeit hintenanzustellen.
Es gibt heute mehr Alleinerziehende als früher, aber auch mehr unverheiratete Elternpaare. Selbst bei diesen will uns die Wissenschaft oft glauben machen, dass sie unglücklicher seien als verheiratete Väter und Mütter. Sie haben in Ihrer Forschung diese Annahme ebenfalls hinterfragt. Zu welchem Schluss kamen Sie?
Auch bei den unverheirateten Elternpaaren hängt die Zufriedenheit stark vom Land und seinen Normen ab. Von den 24 EUStaaten, die wir untersucht haben, waren verheiratete Väter und Mütter in 10 Ländern – dazu gehören Spanien, Bulgarien oder etwa Belgien – tatsächlich glücklicher als unverheiratete. In konservativeren Gesellschaften, in denen die Eheschliessung als Voraussetzung zur Familiengründung gilt, erleben unverheiratete Eltern oft, dass ihnen weniger Respekt und Anerkennung entgegengebracht wird als verheirateten Müttern und Vätern. Dies wirkt sich negativ auf ihr Wohlbefinden aus.
Sie haben aber auch herausgefunden, dass unverheiratete Paare, die keine Kinder haben, gerade in liberalen Gesellschaften unzufriedener sind als Ehepaare ohne Nachwuchs.
Das stimmt. In Ländern wie Norwegen scheinen kinderlose Paare etwas glücklicher zu sein, wenn sie verheiratet sind – während es bei Paaren mit Kindern dort kaum einen Einfluss auf die Zufriedenheit hat, ob sie verheiratet sind oder nicht. Über die Gründe dafür können wir nur mutmassen. Eine mögliche Erklärung wäre, dass in liberalen Gesellschaften sowohl die Geburt eines gemeinsamen Kindes als auch die Heirat wichtige Meilensteine einer Beziehung sind, die eine hohe Beziehungsqualität ausdrücken. Anders gesagt: Wenn man mit dem Partner glücklich ist und den «nächsten Schritt» machen möchte, kann die Geburt eines Kindes ebendieser Schritt sein. Kann oder will ein Paar jedoch keine Kinder haben, kommt möglicherweise der Entscheidung, zu heiraten, diese Bedeutung zu.