Reisen / Familien-Velotour
Reise auf zwei Rädern
Von Tina Fassbind Fotos Holger Salach
Die Journalistin Tina Fassbind und der Fotograf Holger Salach pedalten mit ihren Söhnen im Anhänger von Bad Karlshafen nach Hameln und erkundeten die Deutsche Märchenstrasse. Sie bekamen Schlösser und Burgen, weite Felder und dunkle Wälder zu sehen. Und zu guter Letzt sogar noch eine Märchenfigur.
Die 1975 ins Leben gerufene «Deutsche Märchenstrasse» erstreckt sich über 600 Kilometer von Frankfurt am Main bis hinauf ans Meer und führt durch acht Naturparks. Ihren Namen verdankt sie den Gebrüdern Jacob und Wilhelm Grimm, die in der Region gelebt haben. Die Route vereint nicht nur die verschiedenen Stationen der berühmten Märchenautoren. In den Ortschaften sind auch zahlreiche Gestalten aus ihren Erzählungen zu entdecken: Rotkäppchen, Schneewittchen, Dornröschen oder die Bremer Stadtmusikanten. Viele Orte bieten Theateraufführungen der Märchen an. Eine Übersicht zu den Darbietungen findet man unter ➺ www.deutsche-maerchenstrasse.de. Dort sind auch Angaben zum diesjährigen zweihundertsten Jahrestag der Erstausgabe der «Deutschen Sagen» der Brüder Grimm zu finden.
Tipp: Gepäck von Hotel zu Hotel liefern lassen. Anbieter der Radtouren sind Eurotrek (www.eurotrek.ch) zusammen mit Rückenwind Reisen (www.rueckenwind.de), die diese Reise unterstützt haben.
Es könnte wirklich nicht schöner sein. Bei strahlendem Sonnenschein radeln wir vorbei an Weizenfeldern und durch Eichenwälder. Die Jungs im Veloanhänger quietschen vor Vergnügen, weil ihr Vater mit ihnen auf der schnurgeraden Strecke noch ein paar Extrakurven fährt. Es bläst ein angenehmes Lüftchen, und mein E-Bike erledigt die ganze Arbeit für mich.
Vor vier Tagen haben wir unsere kleine Reise entlang der «Deutschen Märchenstrasse» in Bad Karlshafen begonnen. Der verschlafene Kurort an der Weser mit seiner bezaubernden barocken Hafenanlage ist trotz Hochsaison fast menschenleer. Umso herzlicher werden wir in Hotel und Restaurant empfangen. Überhaupt scheint sich der ganze Landkreis von seiner besten Seite zeigen zu wollen und schenkt uns am ersten Reisetag gleich perfektes Velowetter.
Oskar und Paul haben es sich mit ein paar Büchern und Heftchen im Anhänger bequem gemacht. Der Entschluss, unsere beiden 5- und 6-jährigen Kinder ein letztes Mal im Veloanhänger mitzunehmen, war schnell gefasst. Bloss keine Experimente. Schliesslich müssen wir pro Tag zwischen 25 und 40 Kilometer zurücklegen.
Knorrige Eichen
Schon auf den ersten Metern stellt sich heraus, dass die Strecke selbst für unsere kleinen Veloanfänger sicher genug wäre. Die Radwege sind an Komfort kaum zu überbieten: Breit, flach, geteert. Müssen wir doch mal ein kurzes Teilstück auf eine Autostrasse einlenken, haben wir die Fahrbahn fast ganz für uns allein. Nicht einmal verfahren kann man sich: Sogar an Stellen, wo es gar keine Alternativen zur gewählten Route gibt, sind die Velowege ausgeschildert.
Gemütlich mäandern wir also neben der Weser durch die Ebene. Am Ufer kauern Graureiher und Kormorane, Gänse machen im Kehrwasser Rast. Ab und zu ziehen Kanus träge an uns vorbei. Bei Herstelle treffen wir auf die erste Fährstation unserer Reise. «Wollen wir mal übersetzen?» – «Jaaaa!», tönt es aus dem Anhänger. Die Fahrt dauert zwar nur zwei Minuten. Die Aufregung ist trotzdem gewaltig.
Drüben angekommen überlegen wir kurz, ob wir der imposanten Abtei oberhalb der Ortschaft einen Besuch abstatten sollen. Aber der Ältere wird langsam ungeduldig. «Wann gibts denn nun die Märchen?» Die sind auf unserer ersten Etappe noch nicht auszumachen. Dafür bekommen die Buben unterwegs erst mal eine Schneewittchenschnitte mit ganz vielen Erdbeeren – und das sogar auf einem echten Rittergut mit Spielplatz.
Satt und zufrieden rollen wir weiter zu unserer nächsten Station: Schloss Fürstenberg. Der Weg zum Renaissance-Gut auf einer Kuppe des Kathagenbergs führt durch einen dichten Wald mit knorrigen Eichen und wuchernden Buchen. Ein Hexenhäuschen würde hier wirklich sehr gut reinpassen oder vielleicht ein verwunschenes Schloss. Fürstenberg selbst ist aber so rausgeputzt und touristisch, dass nicht viel Platz für Märchenfantasien bleibt. Die Sicht von der Terrasse auf die Flussbiegungen der Weser ist dafür mehr als märchenhaft.
Die erste Grimm-Geschichte erwartet uns schliesslich in Höxter, wo unsere Tagesreise endet. Das malerische Städtchen hat das Märchen von Hänsel und Gretel für sich abonniert. Es gibt einen Hänsel-und-Gretel- Brunnen, einen gleichnamigen Brunch, Brötchen, Bilder, Bücher. Und es gibt die Hänsel-und-Gretel-Spiele. Allerdings nur jeden ersten Samstag im Monat von Mai bis September. Wir haben Mittwoch. Den Jungs ist die Enttäuschung anzusehen. Vor dem Schlafengehen erzähle ich ihnen die Geschichte. Immerhin ein kleiner Trost.
- Unbedingt einen Zwischenhalt einschalten im Rittergut Meinbrexen. Hier gibts viele leckere Erdbeer-Kreationen.
- Tonenburg bei Albaxen: Die Flammkuchen im gleichnamigen Restaurant sind einfach köstlich.
- Im Café Restaurant Graf Everstein in Polle kann man nicht nur die herrliche Aussicht auf die Weserlandschaft geniessen sondern auch köstliche Kuchenkreationen mit Namen wie Donauwelle oder Manderinenschmand.
- In Hameln lohnt sich ein Abstecher ins Restaurant Insel Hameln. Im grossen Biergarten hat man nach dem Lunch zum Lümmeln die Wahl zwischen Loungesesseln, Strandkorb oder Hängematte. Für die Kleinen gibts einen künstlichen Sandstrand, wo sie buddeln und Burgen bauen können.
Schmerzender Po
Am Tag zwei im Sattel beginne ich, über die Vorzüge gepolsterter Radlerhosen zu fantasieren. Hätte ich mich bei der Wahl der Beinkleider doch für Komfort statt für Ästhetik entscheiden sollen? Zum Glück sind die Weser-Velowege gnädig mit mir. Schotterpfade gibts kaum. Meist rollt es sich wie auf Schienen.
Wir steuern Corvey an, eine schlossähnliche Klosteranlage aus dem Jahr 822. Schnurgerade führt die Strasse auf den imposanten Bau zu. Im Anhänger ertönt Protest. «Schon wieder eine Burg? Was ist jetzt mit diesen Märchen?» In Corvey gibt es aber so viel zu entdecken, dass der Ärger rasch verflogen ist. Vor allem von den finster dreinblickenden Statuen, die den Zugang zur Anlage bewachen, und den meterhohen Cheminées in den Zimmern sind die beiden tief beeindruckt.
Im Souvenir-Shop entdecke ich die Münchhausenerzählungen von Erich Kästner. Die perfekte Lektüre für zwischendurch, denn wir steuern als nächstes Bodenwerder an, den Geburtsort des Lügenbarons. Beim Mittagessen erzähle ich den Buben, wie Münchhausen sich und seinen Gaul an den eigenen Haaren aus dem Sumpf gezogen hat, wie er auf einer Kanonenkugel über das feindliche Heer geflogen ist und wie sein Pferd auf der Flucht vor den Türken sein Hinterteil verloren hat. Mit offenen Augen und Mündern lauschen die beiden den Erzählungen. «Gab es den Baron wirklich?» – «Oh ja, ungelogen!»
Doch bis Bodenwerder sind es noch 40 Kilometer. Eigentlich eine viel zu lange Strecke, wenn es unterwegs so viel zu sehen gibt. Zum Beispiel Polle, einen weiteren so genannten «staatlich anerkannten Erholungsort» entlang unserer Route. Dort thront auf einem Hügel die Burgruine Everstein. Schon von weitem hat sie uns angelockt. «Aschenputtelspiel von Mai bis September jeden dritten Sonntag im Monat», ist am Fuss des Hügels auf einem Plakat zu lesen. Es ist Donnerstag. Zum Glück haben die Jungs den Aushang nicht gesehen. Die Burg ist dennoch einen Abstecher wert – alleine der herrlichen Sicht wegen auf die satten Kornfelder und die Weser, unsere treue Wegbegleiterin.
Spät am Abend kommen wir endlich in unserem Hotel an. Und jetzt trifft uns der Nachteil einer Radtour mit Anhänger mit voller Wucht: Während wir Eltern hundemüde sind, drehen die Jungs nach einem Tag im Sitzen erst richtig auf. Gut, gibts unmittelbar neben unserem Restaurant eine Wiese, auf der sich die beiden austoben können. Wir belohnen unsere sportliche Leistung derweil mit Weissbier und Weisswein und trösten uns mit dem Gedanken, dass wir wenigstens tagsüber auf dem Velo nur unseren inneren Schweinehund überwinden müssen und nicht auch noch den der Kinder.
Bodenwerder ist bei Tageslicht betrachtet keine Schönheit und die Münchhausen-Spiele finden nur jeden ersten Sonntag zwischen Mai und Oktober statt. Heute ist Freitag. Aber das gleichnamige Museum ist geöffnet, in dem allerlei Kurioses sowie Erinnerungsstücke aus dem persönlichen Besitz des berühmten Barons ausgestellt sind. Der Besuch lohnt sich nur schon deshalb, weil Museumsführer Werner Koch Münchhausens Geschichten auf ganz köstliche Weise mit viel Schalk in den Augen zum Besten gibt. Ein grandioses Vergnügen für die Kleinen und die Grossen.
Frau Holle
Danach gehts weiter nach Hameln, der letztenStation unserer Reise. In der Nacht hat sich der Himmel klargeregnet. Die Temperaturen steigen rasant an, und gegen Mittag riechen die Kornfelder in der Sonnenglut fast schon wie gebackenes Brot. Trotzdem biegen wir ab in Richtung Emmerthal, wo auf einer leichten Anhöhe das Schloss Hämelschenburg liegt. Der Weg dorthin bringt uns an unsere Grenzen. Wir pedalen gegen den staubtrockenen, glühend heissen Wind an. Sogar die Kinder im Anhänger geraten ins Schwitzen.
Jagdtrophäen
Im Schloss angekommen, gibts erst mal Eis für alle. Oskar will wissen, ob hier eine Märchengestalt lebt. Und tatsächlich: In der Burg hat einmal eine Frau Holle gewohnt. Sie hat zwar nicht dafür gesorgt, dass es auf der Welt schneit, aber sie hat im Dreissigjährigen Krieg mit viel Geschick – und einer Truhe voll Geld – das Anwesen vor den anrückenden Truppen unter Heerführer Tilly gerettet. Die vielen Erzählungen und Anekdoten rund um die Besitzerfamilie, die noch immer einen Teil des Schlosses bewohnt, sind unseren Jungs aber herzlich egal. Sie finden die ausgestopften Jagdtrophäen, das Burgverlies und vor allem die Spielsachen im Schlosspark sehr viel spannender.
Die letzten beiden Ferientage haben wir ganz für Hameln reserviert. Zum Glück. Denn dieses Städtchen ist eine kleine Offenbarung. In der pittoresken, verwinkelten Altstadt und den Parks gibt es viel zu entdecken und in den Restaurants lässt es sich wunderbar verweilen. Hier bekommen unsere Buben endlich auch ihr Märchen zu sehen – und das sogar mitten auf dem Rathausplatz, wo jeweils an Sonntagen von Mitte Mai bis Mitte September das Rattenfänger- Freilichtspiel aufgeführt wird. Ein fulminantes Spektakel und ein Riesenspass für unsere Kleinen.
«Das war super», sagen die beiden am Ende unserer Reise. «Wir wollen wieder mal hierher kommen.» Verdenken kann ich es ihnen nicht. Ritterburgen, Schlösser und ab und zu eine spannende Geschichte am Velowegrand – das sind wirklich perfekte Zutaten für märchenhafte Familienferien.