Gesellschaft / Die Familienoptimierer
Die perfekte Familie
Von Kristina Reiss
Strategie-Workshops für Paare, Windelbestandsmanagement im Kinderzimmer: Was wir aus der Betriebswirtschaftslehre fürs Familienleben lernen können.
Lesen Sie im Interview mit Wirtschaftsprofessor Marko Sarstedt, wie sich die Organisation des Nachwuchses mithilfe der Betriebswirtschaftslehre bis ins letzte Detail planen lässt.
Wohin wollen wir als Paar? Wie soll unser gemeinsames Leben aussehen?» – Es sind in der Regel nicht Fragen wie diese, über die Paare abends diskutieren, während sie sich schnell ein paar Happen Essen in den Mund schieben. Schon gar nicht, wenn sie Kinder haben. «Holst du die Kleine morgen von der Kita ab?» ist da ein viel realistischerer Redebeitrag. Gefolgt von: «Was ich? Ich hab eine wichtige Sitzung – wolltest du nicht …?» Dabei wäre es dringend nötig, solch essenziellen Dinge wie die Frage nach dem gemeinsamen Lebensplan zu thematisieren, findet Philipp Rufer.
Die Familie, ein Unternehmen
Der studierte Betriebswirtschaftler war bei BMW als Spezialist für Organisationsentwicklung und Innovationsmanagement tätig, bevor er zu einer Berner Unternehmensberatung für Verhaltensveränderung wechselte. Damals organisierte er häufig Strategieworkshops. Kurz vor der Geburt des ersten Kindes fragte er sich jedoch immer öfter: Weshalb gibt es so etwas eigentlich nicht für Familien? «In der Wirtschaft setzen sich Unternehmen konsequent mit der strategischen Ausrichtung auseinander, um in dynamischen Umfeldern erfolgreich zu bestehen», sagt Rufer. «Doch was tun wir, um unser Privatleben erfolgreich zu gestalten?»
Kurzerhand adaptierte der heute zweifache Vater die Methoden der Strategieentwicklung auf die Familie. In ruhiger Umgebung in den Bergen veranstaltete er den Prototyp eines solchen Workshops – zunächst ganz privat mit seiner Frau. Mit Abstand zum Alltag reflektierte das Paar dort seine Beziehung, diskutierte seine Familienpläne und entwickelte einen gemeinsamen Lebensentwurf. Inzwischen hat Philipp Rufer daraus ein Geschäftsmodell entwickelt: In seinen Familienworkshops können Paare ihre Stärken und Schwächen überdenken, Visionen für das «Unternehmen Familie» und Strategien für eine proaktive Lebensgestaltung erarbeiten. Rufer nimmt dabei die Rolle des Moderators ein; die jeweiligen Aufgaben erarbeiten die Paare selbst.
Erzählt Philipp Rufer von seinen Workshops, spürt das Gegenüber, dass er für das Thema brennt. Folien und Prospekte hat er selbst illustriert und sich berufsbegleitend zum Erwachsenenbildner qualifiziert. Seine Frau ist momentan im Mutterschaftsurlaub, er selbst arbeitet 80 Prozent – «weil ich auch etwas von meinen Kindern mitkriegen will». Ziel des Paares ist es jedoch, dass beide zu je 50 Prozent berufstätig sein werden. Der 35-Jährige ist selbst so aufgewachsen. Eine Rarität damals: «Mein Vater war noch ein richtiger Pionier. Die Leute waren irritiert und bewunderten ihn zugleich, wenn er mit drei Kindern in die Migros kam, aber er hat sich nichts daraus gemacht.»
Instrumente aus der Wirtschaft konsequent auf die Familie anzuwenden, ist neuerdings beliebt. So sorgte Marko Sarstedt, Professor für Marketing an der Uni Magdeburg, unlängst mit einem Buch für Aufsehen, das den Titel trägt: «Optimiertes Babymanagement. Den Elternalltag mit betriebswirtschaftlichen Methoden perfektionieren.» Im Gegensatz zu Rufers Ansatz ist es ein augenzwinkerndes Werk, in dem der Vater zweier Kinder überspitzt den Optimierungswahn beschreibt, der mittlerweile auch Eltern erfasst hat (siehe Interview).
Optionen ohne Ende
So unterschiedlich die Ideen der beiden Betriebswirtschaftler auch sein mögen – sie fallen in eine Zeit, in der jungen Paaren langsam klar wird: Wollen beide weiterarbeiten, wenn erst mal Nachwuchs da ist und die Kindererziehung sowie alle anderen anfallenden Arbeiten partnerschaftlich teilen, klappt dies nicht von alleine. Gute Absprache, Planung aber auch Abstriche sind notwendig. So ist es kein Zufall, dass sich nach der Geburt des ersten Kindes viele Paare wieder in der klassischen Rollenteilung finden – obwohl sie dies nicht vorhatten.
Wir leben in einer Multioptionsgesellschaft. Und wir wollen alles auf einmal: erfüllende Jobs, spannende Freizeitaktivitäten, unkomplizierte und zufriedene Kinder. Die Wahlmöglichkeiten sind unendlich: Welchen der unzähligen Berufe ergreifen? Kind ja oder nein? Jetzt oder später? Stillen oder Schoppen geben? Impfen oder nicht? Angesichts dieser riesigen Auswahl müssen sich Paare heute viel stärker auf sich selbst besinnen. Gleichzeitig sind die Anforderungen an sie höher, weil die Rollenverteilung nicht mehr klar ist. Gab es früher einen Alleinverdiener und eine Haushalts- und Kindermanagerin, muss im 21. Jahrhundert alles ständig neu ausgehandelt werden: Wer bleibt bei dem kranken Kind, wer geht arbeiten? Wer organisiert die Geburtstagsgeschenke, wer besucht die Schulaufführung? Umso wichtiger, findet Philipp Rufer, sei es für ein Paar zu wissen, was es will: Welche gemeinsamen Grundwerte haben wir? Ist der Erfolg im Job das Wichtigste? Auch zulasten der Kinder?
Beziehung bewusst führen
Bea, 29, und ihr Freund kennen ihre Prioritäten bereits. Die beiden waren noch nicht lange ein Paar, als sie beschlossen, einen Familienworkshop zu besuchen. «Wir wollten einfach eine bewusste Beziehung führen, die Sinn macht», sagt die Hotelfachfrau. «Früher habe ich mir darüber nie Gedanken gemacht, aber nun war es mir wichtig.» Ihre Haupterkenntnis nach dem Wochenende in den Bergen: «Wir haben beide ziemlich gleiche Vorstellungen.» Wichtig war für sie aber auch zu lernen, wie man bei auftauchenden Problemen reagiert, um Konflikte zu vermeiden.
In der Tat geht es im Familienworkshop auch darum, dass Paare ihre Stärken und Schwächen erkennen und realisieren, wo es Meinungsverschiedenheiten und unterschiedliche Wahrnehmungen gibt. Mit Übungen versuchen die Teilnehmenden Missverständnisse zu lösen. Dabei arbeiten sie mit eigenen, möglichst banalen Beispielen: Nicht abgeschlossene Wohnungstüren etwa, unterschiedliches Einkaufsverhalten oder nicht weggeräumte Schuhe und Jacken. Hanspeter, 37, der mit seiner gleichaltrigen Partnerin und deren 16-jährigem Sohn zusammenlebt, stellt fest: «Seit meine Freundin und ich den Workshop besucht haben, sind Themen, die wir bereits früher oft besprochen haben, auf einer anderen Ebene gelandet. Zum Beispiel was den Umgang mit Zeit angeht. So haben wir nun genau definiert, wer wie viel für sich sein kann und was es braucht, damit sich beide wohlfühlen.»
Infografik: istockphoto, Gabriela Gründler
Sich angeleitet damit beschäftigen, welche Vorstellungen man von der gemeinsamen Zukunft hat und eine starke Beziehungs- und Familienidentität zu finden – das sind die Hauptziele des Workshops. Am Ende visualisiert jedes Paar seine Resultate in Form eines Familienbaumes. Der Baum dient im Alltag als Gedankenstütze – insbesondere dann, wenn wieder mal alles andere wichtiger zu sein scheint.
Von Unternehmen lernen als Geheimrezept für eine glückliche Beziehung? «Während sich erfolgreiche Firmen kontinuierlich damit auseinandersetzen, wo sie in Zukunft hinwollen, gibt es in der Paarbeziehung meist nichts dergleichen», sagt Philipp Rufer. Da wird geheiratet – was analog einer Unternehmensgründung gleichkommt – doch anschliessend passiert in der Regel nichts mehr. Man überlässt die Partnerschaft sich selbst. Dabei spricht die Scheidungsrate nicht gerade für uns – im Gegenteil.
Junge Eltern in der Krise
Familien-und Paartherapeuten wissen es längst: Viele junge Eltern durchleben eine Beziehungskrise. Besonders die ersten Jahre sind oft belastend. So berechnete das Bundesamt für Statistik den Zeitaufwand für familiäre und berufliche Aufgaben und kam zum Schluss: Am stärksten belastet sind Mütter und Väter mit Kleinkindern. Ist das jüngste Kind 0- bis 4-jährig, arbeiten Väter in Paarhaushalten insgesamt 75 Stunden pro Woche, Mütter 73 Stunden. Da bleibt wenig Zeit für Hobbys und Freunde – geschweige denn Zeit zu zweit. Keine einfache Voraussetzung, um sich in der neuen Situation einzufinden oder gar Probleme zu diskutieren. Umso mehr, raten Fachleute, sollten wir uns mit Beziehung und Lebensgestaltung auseinandersetzen – und zwar am besten, bevor der Nachwuchs da ist.
«Der Familienworkshop ist keine Paartherapie», betont Rufer. «Dorthin geht man erst, wenn man sich in einer Krise befindet.» Wie ein Unternehmen müssten auch wir im Moment der Stärke die Weichen für die Zukunft stellen, solange der Handlungsspielraum ausreichend gross ist und viel Liebe, Kraft und Empathie vorhanden sind. «Es ist wie mit allem im Leben: Prävention erscheint im Moment mühsam, ist aber viel weniger aufwendig als eine Rehabilitation. Diese Erkenntnis und die Fähigkeit zur kritischen Selbstreflexion ist der Unterschied zwischen erfolgreichen und weniger erfolgreichen Beziehungen, beziehungsweise Firmen.»