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Interview Kathrin Bertschy
Kathrin Bertschy: «Den Preis bezahlen die Mütter»
Nationalrätin Kathrin Bertschy (GLP/BE) treibt die Gleichstellung voran. Im Interview spricht die zweifache Mutter über einen neuen Feminismus, Fehler im System und den Muttertag.
wir eltern: Frau Bertschy, ich behaupte: Wie rasch es mit der Gleichstellung von Frau und Mann in der Schweiz vorwärtsgeht, hängt auch stark von Ihnen ab.
Kathrin Bertschy: Das freut mich natürlich sehr, zu hören. Im Vergleich zu früheren Jahrzehnten geht es im Moment bei den Gleichstellungsthemen Schlag auf Schlag. Das hat damit zu tun, dass Alliance F zurzeit so aufgestellt ist, dass wir Veränderungen tatsächlich herbeiführen können.
Als Co-Präsidentin des Frauendachverbands Alliance F und als Nationalrätin der GLP sind Sie mit im Zentrum dieser Erfolge. Eigentlich eine überraschende Rolle: Gleichstellungsfragen interessierten Sie früher nicht. Das änderte sich, als Sie mit Anfang Dreissig Zahlen zu Einstiegslöhnen von Frauen und Männern auswerteten und die Diskriminierung sahen. Mehr ein Schock oder ein Erwachen?
Eher ein Erwachen. Die Welt, in der ich aufwuchs, nahm ich als egalitär wahr. Im Rahmen eines nationalen Forschungsprojekts hatte ich die Zeit, die ganze empirische Literatur zur Lohndiskriminierung und Gleichstellung zu studieren und mich in die Ursachen und Symptome zu vertiefen. Und die Zahlen zeigten es halt deutlich. Als Volkswirtin interessieren mich die Systemfragen. Heute sind wir in der Lage, sehr gut zu argumentieren, weil wir die Studien kennen. Wir können zum Beispiel aufzeigen, dass Gleichstellung nicht nur der Gesellschaft, sondern auch den Unternehmen nützt.
Sie argumentieren, statt zu lamentieren.
Ja, aber ich finde auch das Beklagen völlig verständlich. Doch um etwas zu verändern, muss man es benennen und erklären können. Es freut mich, dass gelungen ist, ein neues Narrativ zu prägen.
Kathrin Bertschy (1979) ist Ökonomin und vertritt seit 2011 die Grünliberalen im Nationalrat. Sie ist Co-Präsidentin der überparteilichen Frauendachorganisation Alliance F und Stiftungsrätin des Gosteli-Archivs, dem Gedächtnis der Schweizer Frauenbewegung. Bertschy ist Co-Initiantin der Kampagne «Helvetia ruft» für eine repräsentativere Demokratie. Die Vizepräsidentin der GLP Schweiz spielt Geige und Fussball, ist kürzlich das zweite Mal Mutter geworden und wohnt mit ihrer Familie im Nordquartier von Bern.
Erklären Sie das, bitte.
Dieser oft etwas klagende Opferhaltungs-Feminismus konnte ersetzt werden durch einen gewinnenden, positiven Feminismus. Die Botschaften bringen wir nicht in beleidigtem Ton herüber, sondern humorvoll und selbstbewusst – das verändert etwas in den Köpfen.
Wie Ihre Kampagne «Helvetia ruft», mit der Sie mehr Frauen in die Politik bringen.
Das ist ein gutes Beispiel. Helvetia, die Ikone der Schweizer Demokratie, ist besorgt um die Qualität der Demokratie: Frauen und Männer sollen zu gleichen Teilen politische Entscheide treffen. Das wirkt viel mehr, als wenn wir sagen würden: Frauen sind benachteiligt, und das ist ungerecht. Das ist zwar korrekt, aber damit überzeugt man nicht.
Zurück zum Erwachen: Viele Frauen erkennen die Chancenungleichheit, wenn sie Mutter werden. Ist das auch in Ihrem Umfeld so?
Auf jeden Fall. Ich sehe in meinem Freundeskreis zwei Möglichkeiten. Die einen sorgen vor und organisieren sich, um auch mit Kind eine egalitäre Beziehung zu führen. Die anderen rasseln in die traditionelle Rollenteilung hinein; gerade, wenn sie zum Beispiel ungleiche Einkommen haben, geschieht das ohne klare Absprachen rasend schnell. Das kann für die Frauen sehr unbefriedigend sein. Sie sind im Hamsterrad gefangen und kommen beruflich nicht mehr vorwärts. Vielleicht realisieren sie noch, dass es für ihre Altersvorsorge ein Desaster ist.
Vielleicht.
Vielleicht aber auch nicht und sie stellen es erst später fest. Das grausame ist, sie verhalten sich total systemkonform. Alle Weichen werden vom Staat genauso gestellt. Ich verstehe Paare, die in traditionelle Aufteilungen hineinrutschen, denn sie müssten sich ja gegen das Modell verhalten.
Das Modell ist tief in uns verankert: Das zeigt eine im Februar 2021 publizierte Studie. Sie analysiert Trends von Einstellungen zur Geschlechtergleichstellung in den vergangenen 20 Jahren. Resultat: In der Schweiz besteht weiter eine traditionelle Auffassung der Mutterrolle. Die Erwerbstätigkeit von Frauen wird allgemein besser akzeptiert als die Erwerbstätigkeit von Müttern mit Kindern im Vorschulalter. Sind solche Einstellungen für Sie Privatsache oder Thema für die Politik?
Wir sind alle in eine Kultur, in ein System hineingeboren, in welchem die Politik Rahmenbedingungen setzt, die diese Rollenbilder fördern. Was man vorgelebt bekommt, prägt Einstellungen. Wir sind so sozialisiert.
Das System muss sich also ändern, damit sich die Gesellschaft wandeln kann.
Heute setzt das System überall Anreize, durch die sich Paare schliesslich selbst gegen den freien Willen in einer traditionellen Rollenteilung wiederfinden. Dieses Modell führt dazu, dass Frauen im Alter arm sind, dass sie Beruf und Familie nicht vereinbaren können, oft keiner Berufung nachgehen können oder dass sie sich zwischen Berufung und Familie entscheiden müssen. Es ist ein Modell, das für die Hälfte der Bevölkerung – die weibliche – arge Konsequenzen hat. Das widerspricht dem Grundsatz der Gleichstellung von Frau und Mann, den wir in der Verfassung verankert haben. Wir arbeiten nicht darauf hin, in das Gegenteil zu kippen. Aber heute haben wir schlicht keine Wahlfreiheit.
2021 feiern wir 50 Jahre Frauenstimmrecht und damit politische Gleichberechtigung. Wenn Sie durch die Gleichstellungsbrille blicken: Wie steht es denn um die Mütter in der Schweiz?
Ich finde: nicht gut. Familienpolitisch ist die Schweiz ein Entwicklungsland. Und den Preis bezahlen die Mütter, respektive alle potenziellen Mütter sprich eigentlich alle Frauen. Egal wie sie sich entscheiden, sie haben fast immer die Zwei am Rücken. Sind sie in hohem Pensum erwerbstätig, werden sie vermutlich gleichwohl auf dem Arbeitsmarkt diskriminiert – bezüglich Lohn und Aufstiegschancen. Weil insgeheim erwartet wird, dass sie sich früher oder später zurückziehen, was überhaupt nicht der Fall sein muss. Und wenn sie vorübergehend oder länger Kinder oder pflegebedürftige Eltern oder Schwiegereltern betreuen, sind sie im Alter finanziell sehr schlecht gestellt.
Familienpolitisch ist derzeit einiges im Tun – damit ist für Mütter Besserung in Sicht.
Gelingt es, die Gesetzesrevisionen einzuläuten, könnten wir in 15 Jahren an einem sehr guten Punkt sein. Dann wäre für Frauen Familie und Beruf selbstverständlich gleichzeitig möglich, so wie es bei Männern schon lange der Fall ist. Heute ist es für viele Mütter finanziell kaum lohnend, erwerbstätig zu sein; das Einkommen geht für Kinderbetreuung und Steuern drauf.
Als zweifache berufstätige Mutter kennen Sie Vereinbarkeitsprobleme wie Tausende andere auch. Wo sehen Sie die wichtigsten Hebel, um Eltern zu entlasten?
Der Blick auf andere Länder zeigt, was Entlastung bietet. Nämlich erschwingliche familienergänzende Betreuungsstrukturen kombiniert mit Arbeitszeiten, die innerhalb derer Öffnungszeiten stattfinden. Das Angebot ist in gewissen urbanen Regionen vorhanden. Finanziell erschwinglich ist es aber noch nicht. Würden die familienergänzenden Betreuungsangebote stärker subventioniert, könnten mehr Kinder von frühkindlicher Bildung profitieren. Damit verbunden erhöhen sich die Erwerbspensen der Frauen, und die Kinder sind besser vorbereitet auf die Schulzeit und haben später weniger Schwierigkeiten.
Das provoziert Widerspruch: Warum soll die externe Betreuung ein Kind besser vorbereiten als Betreuung in der Familie?
Sie ist ja nur ergänzend und ersetzt nicht die Betreuung in der Familie. Selbstverständlich gibt es zahlreiche Eltern, die ihren Kindern genauso frühkindliche Bildung bieten können. Kinder aus Familien mit sozial schwächerem Hintergrund profitieren aber enorm, wenn sie zwei bis drei Tage pro Woche familienergänzend mitbetreut und im Spiel mit gleichaltrigen Kindern sozialisiert werden und die Sprache und andere Fertigkeiten erlernen.
Welche Rolle spielt eine Elternzeit dabei, Geschlechterbilder zu ändern?
Heute gibt der Gesetzgeber vor, wer nach einer Geburt ausfällt. Das hat sich mit dem zweiwöchigen Vaterschaftsurlaub nicht gross verändert. Das spurt die Retraditionalisierung des Rollenmodells ein. Die Väter werden an den Arbeitsmarkt gerufen und sind dort unersetzlich. Die Mütter haben ihre Aufgabe zu Hause. Statt dass sie das hälftig aufteilen könnten. Und beide zu gleichen Teilen Verantwortung übernehmen. Das würde enorm helfen, damit Mütter am Arbeitsplatz dieselben Chancen und Möglichkeiten erhalten – wenn auch Männer ausfallen, dann wenn sie Väter werden.
Das eine ist die Chance auf dem Arbeitsmarkt, das andere, was Elternzeit mit dem Paar macht.
Genau. Wenn beide 14 oder 16 Wochen beziehen können, ist man als Mutter in einer anderen Verhandlungsposition, als heute, wo nicht vorgesehen ist, dass Väter auf dem Arbeitsmarkt ausfallen.
Eine Prognose: Wann kommt die Elternzeit?
In sieben Jahren.
Oh, das dauert …
(unterbricht) Das ist vielleicht sogar zu optimistisch. Die Individualbesteuerung schafft man früher.
Die Unterschriftensammlung dafür läuft. Für verheiratete Frauen würde Erwerbsarbeit in höheren Pensen attraktiver, weil individuell erhobene Steuern das Einkommen weniger belasten.
Parallel und vorgespurt zur Initiative gibt es einen parlamentarischen Prozess, den viele Frauen aus der Alliance F bereits mitprägen. Die Verwaltung ist daran, eine Botschaft auszuarbeiten zur Einführung der Individualbesteuerung. Wir sollten im Parlament noch dieses Jahr über Eckwerte befinden können. Die Initiative gibt zusätzlichen Druck, den braucht es.
Der Mai ist Muttertagsmonat. Was halten Sie davon?
Ich habe ehrlicherweise etwas meine Mühe mit diesen konsumorientierten Tagen oder der Vorstellung, dass man den Müttern gerade einmal im Jahr dankt. Wie man dem Pflegepersonal zuklatscht, anstatt ihnen den Lohn zu zahlen für ihre Arbeit. Echt jetzt: Einmal im Jahr bekommen die Mütter einen Strauss?
Der Strauss ist das eine, das andere ist das vom Kind gebastelte Geschenk. Ihre zweijährige Tochter ist wohl noch zu klein.
Das Basteln finde ich wunderschön. Ich freue mich sehr auf die Bastelarbeiten meiner Tochter! Auch wenn ich diese genauso gerne am Geburtstag nähme.