Nachzügler
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Der ideale Altersabstand zwischen Geschwistern beträgt drei Jahre. Das zumindest behaupten Forscher, die sich der wohl längsten Beziehung im Leben eines Menschen widmen.
Wo aber im Leben läufts schon «ideal»? Insbesondere am Familienleben rütteln oft Unwägbarkeiten. Mal glückt alles nach Plan, mal zwingt einem das Schicksal Umwege auf. Manchmal schneit eben ein Nachzügerli ins Haus, obwohl die Familienplanung längst abgeschlossen schien.
Tatsächlich sind später geborene Nestküken seltener Wunschkinder als Erstgeborene. Doch ungeplant bedeutet nicht ungewollt, denn in der Schwangerschaft werden die «kleinen Unfälle» meist lieb gewonnen. Und oft entwickeln sie eine besonders innige und lang andauernde Beziehung zu den Eltern.
Aber es gibt auch späte Wunschkinder. Bei den einen ist es die aufflammende Torschlusspanik vor den Wechseljahren, aus der ein Baby erwächst, oder das Gefühl, man sei als Familie noch nicht vollständig. Bei den anderen schlägt es erst nach jahrelangem Üben ein zweites Mal ein, und bei den Dritten wirkt die Beziehung zu einem neuen Partner wie ein die Lust nach Kindern förderndes Aphrodisiakum.
Familie Schürmann, Basel
Statt beruflich Gas zu geben, lieber noch etwas länger Familienfrau sein.
Sabine Schürmann: Ich war knapp über 40, als sich bei mir Sinnfragen einschlichen. Als Juristin hatte ich zwar einen guten Teilzeitjob als Berufsschullehrerin, drei wunderbare Kinder, ein Haus und einen Hund. Dennoch begann ich mir Gedanken zu machen: Was will ich eigentlich noch im Leben? Beruflich aufs Pedal drücken? Mich weiterbilden? Oder das machen, was mich schon immer am meisten erfüllte: Familienfrau sein? Ich entschied mich für Letzteres. Als mich auch noch meine Frauenärztin ermunterte: «Frau Schürmann, Sie wurden immer schnell schwanger – das klappt auch diesmal!», beschlossen Georg und ich, es nochmals zu versuchen. Kurz darauf war ich schwanger. Das erste Mal leider mit einem Windei, einer Fruchtblase ohne Embryo. Ich musste abtreiben. Nach ein paar Monaten aber pochte beim Ultraschall ein Herzchen. Ich war so glücklich! Trotz leichten Blutungen verlief die Schwangerschaft gut. Obwohl ich schon 44 war. Als ich Liv im Arm hielt, fühlte sie sich wie ein kleiner Engel an. Auch Anna und Tim freuten sich über das Baby. Nur Lea, die Älteste, hielt sich etwas zurück. Zwei ihrer Kolleginnen waren gleichzeitig schwanger. Die Verschiebung um eine ganze Generation irritierte sie, sie hätte ja selber schon Mutter werden können! Mittlerweile aber ruft Lea ihre kleine Schwester abends zu sich ins Zimmer: «Komm Liv, du darfst bei mir einschlafen!»
Sabine Schürmann
Überhaupt sind unsere älteren Kinder stolz auf die Kleine. Und gewisse Aspekte sehen sie ganz pragmatisch: «Wir sind jetzt schon Profis und müssen später nicht mehr lernen, wie man mit einem Buschi umgeht!» Mit grossem Abstand nochmals ein Kind zu bekommen, hat fast nur Vorteile. Ich habe mehr Zeit für die Kleine und bezeichne meine Lebenslage manchmal scherzhaft als «Vorstufe zum Grossmutterdasein». Es kümmert mich nicht, wenn Liv mit zwei Jahren noch keine perfekten Sätze spricht, ich weiss: Das kommt schon gut. Natürlich bewege ich mich wieder kleinräumiger als vor Livs Geburt. Aber jetzt ist der Weg zum Einkauf halt ein gemütlicher Spaziergang voller kleiner Abenteuer. Na ja, ab und zu macht mich die Langsamkeit auch ungeduldig. Aber die Zeitspanne mit einem Baby ist aufs Leben gesehen so kurz. Sicher fordert das Koordinieren der Wünsche von Kindern mit grossem Altersabstand heraus: Lea und Anna wollen vom Tag erzählen, Tim braucht Hilfe beim Franzwörtli büffeln, Liv quengelt. Trotzdem: Ich finde es lockerer, neben einem Kleinkind schon Teenager oder fast erwachsene Kinder zu haben. Sie nehmen die Kleine spontan mit in die Stadt oder in den Zolli. Unser Sohn freut sich, wenn er abends ab und zu auf Liv aufpassen und sie ins Bett bringen darf. Georg und ich geniessen dann das Essen in einem feinen Restaurant oder gehen ins Theater. Das fühlt sich fast an wie vor der Kinderzeit!
Was aber bedeutet es für Mütter und Väter, 15 Jahre nach der letzten Schwangerschaft, 12 Jahre nach dem letzten Nuckeln an der Brust, 10 Jahre nach dem letzten Windeln wechseln und Töpfchen leeren, noch einmal auf Feld Eins zu beginnen?
Jürg Frick, Geschwisterforscher an der pädagogischen Hochschule in Zürich, sieht die Sonnen- und Schattenseiten eines Neustarts. Ein Trumpf: «Eltern nehmen bei einem Nachzügler sicher vieles gelassener.» Sie geraten nicht mehr bei jedem Pickelchen in Panik, wissen Babys mannigfaltige Klaviatur von Weinen, Wimmern und Zetern zu interpretieren und haben dank ihrer bereits grösseren Kinder längst verinnerlicht: Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht.
Die Kehrseite sieht der Professor für Psychologie und Pädagogik in der Anstrengung, sich nochmals ganz auf ein Kleinkind einzulassen: «Besonders für Mütter ist es manchmal schwierig, sich über einen so langen Zeitraum Kindern zu widmen und die eigenen Bedürfnisse zurückzustellen.» Verständlich, wenn sie angesichts des 11. Räbeliechtliumzugs, 111. Elternabends und 1111. Znünibrötlis der Wiederholungen überdrüssig sind.
Manchmal drehen Eltern mit einem Nachzügler auch im monetären Hamsterrad: Wo bei anderen die Kinder schon ausgeflogen sind und auf eigenen Füssen stehen, belasten Schulreisen und Ausbildung das Portemonnaie der Eltern meist über deren Pensionierung hinaus.
Geschwister mit sehr grossem Abstand wachsen oft in zwei verschiedenen Welten auf. Während das Kleine noch am Schnuller nuckelt, versucht sich der Teenager am Glimmstängel. Und hängt der Grosse im Jugendclub ab, spielt der Nachzügler derweil noch in der Kita. Doch so unterschiedlich die Soziosphären sind, so harmonisch verlaufen laut Forschern die Beziehungen zwischen den ungleich alten Geschwistern. Nach allfälligen Anlaufschwierigkeiten übernehmen die Erstgeborenen gerne Verantwortung und knüpfen mit dem Schürzenkind – gewissermassen als zusätzliches «Mütterchen» oder «Väterchen» – eine Bande fürs Leben. Den Konkurrenzdruck, den kurz nacheinander geborene Geschwister erleben, entfällt.
Ein Nachzügler wächst meist mit viel Zuwendung und Wärme auf, räkelt sich darin wie ein Löwe in der Sonne. Die Regeln sind lockerer als beim Erstgeborenen und die Bereitschaft der Eltern, Wünsche zu erfüllen, wächst womöglich parallel zum Verlust der Kraft, die Erziehung kostet. Daraus kann eine Anspruchshaltung entstehen. Jürg Frick legt Eltern von Nesthäkchen nahe, sich zwar Zeit zu nehmen für die Jüngsten, sie aber weder zu verwöhnen, noch zu verzärteln. Und ihnen schon gar nicht die Rolle des Hilflosen überzustülpen. «Vielmehr sollten Nachgeborene als Individuum wahrgenommen und gestärkt, und keinesfalls mit den älteren Geschwistern verglichen werden.»
Ob schicksalshaft geboren oder von langer Hand geplant – Nachzügler bringen meist noch einmal Genugtuung, Gewusel und Glück ins Haus. Zum Kitten einer bröckelnden Beziehung eignen sie sich nicht. Umso mehr aber dazu, Eltern jung und fit zu halten und das Familienleben um Jahre zu verlängern.
Familie Werner, Merishausen (SH)
Patchwork: Noch einmal zwei Kinder mit dem zweiten Mann.
Maja Werner-Bachmann: Nach der Trennung von meinem ersten Mann lebte ich ein paar Jahre allein mit Nathalie und Janine. Für mich war die Familienplanung abgeschlossen. Punkt. Ich war erfüllt und glücklich. Doch als ich Erich traf, änderte ich meine Meinung. Obwohl er auch mit einer «Kleinfamilie» zufrieden gewesen wäre, gefiel ihm die Vorstellung, auf unserem Bauernhof noch mehr Kinder herumwieseln zu sehen. Mir auch. Doch die Zeit verstrich, schwanger wurde ich nicht. Erst 12 Jahre nach Janine schlug es ein – und 15 Monate später unerwartet schnell noch einmal.
Dass der Spagat zwischen zwei Pubertierenden und zwei Säuglingen so anstrengend würde, damit hatte ich nicht gerechnet. Ein Bild hat sich besonders stark eingebrannt: Ich stehe in der Küche, das Baby an der Brust, ein Kleinkind am Rockzipfel, der mittleren Tochter erkläre ich das Prozentrechnen, der Ältesten das Rezept für eine Schoggicreme. Multitasking pur! Mit dem ersten Nachzügler meldete sich bei der damals 12-jährigen Janine die Eifersucht. Bis anhin war sie die Jüngste, nun tauchte plötzlich ein schutzbedürftiges Menschlein auf, das alle Aufmerksamkeit auf sich zog. Noch schlimmer: Janine musste plötzlich Geschwister hüten, statt im Stall die Kälber tränken zu dürfen. Das wirft sie mir heute noch hin und wieder – augenzwinkernd – vor! Möglich, dass ich während der Pubertät der grossen Mädchen nicht immer alles mitgekriegt habe. Aber vielleicht ist es gut, dass ich damals nicht von allen Lastern wusste, die meine Töchter ausprobierten! Neulich hörte ich Nathalie und Janine davon schwärmen, wie cool es war, dank der Kleinen die eigene Kindheit zu verlängern. Es legitimierte sie, ab und zu wieder «kindisch» sein zu dürfen und Rennautos über die Carrerabahn sausen zu lassen. Oder sie schickten die jüngeren Geschwister in die Militärunterkunft neben unserem Hof, um von den Soldaten Schokolade zu erbetteln.
Beginnt man noch einmal von vorne, verflüchtigen sich Kontakte zu Familien mit Gleichaltrigen. Es wird auf alle Fälle komplizierter. Die Kinder meiner Freundinnen wurden langsam flügge, ich hingegen musste für jedes «spontane» Kafichränzli eine Hüeti für die Kleinen organisieren. Neue Bekanntschaften mit jüngeren Müttern ergaben sich wenige. Zu verschieden waren die Lebenswelten, gewisse Gesprächsthemen hatte ich einfach satt.
Die Langzeitfolgen des grossen Geschwisterabstandes habe ich unterschätzt. Ich bin jetzt seit 26 Jahren ständig von Kindern umgeben, die fragen, fordern, streiten. Ein Marathon. Ich bin zwar mittlerweile ein Profi im Windelnwechseln, Einmaleins abfragen und Räbeliechtli schnitzen. Aber wenn ein Elternabend, eine Theateraufführung oder ein Fussballturnier anstehen, denke ich manchmal: «Wie lange noch?» Schauen Sie, da hängt unser Family Timer an der Wand: Da gibts schon Termine bis im Juli 2015!
Mit einem Bauernhof ist man sehr gebunden, und ich hätte vermutlich auch ohne die Kleinen keine grossen Reisen oder Ausbildungen mehr gemacht. Deshalb hatte ich nie das Gefühl, etwas verpasst zu haben. Ohne zweite Ehe hätte ich kaum vier Kinder gehabt – und vier gleich hintereinander hätte ich wohl kaum bewältigt. So gesehen sind die 2x2 gerade richtig! Rückblickend bin ich stolz, dass wir das alles geschafft haben. Und es ist herrlich zu sehen, wie sich heute alle vier Kinder heiss lieben.
So sehr ich mich danach sehne, endlich nicht mehr fremdbestimmt zu sein, so wenig weiss ich, ob mir das Haus nicht plötzlich leer erscheinen wird, wenn alle weg sind. Im Moment aber warne ich meine älteren Töchtern noch: Falls ihr mich zur Grossmutter macht – rechnet vorerst nicht mit mir. Zuerst will ich einfach ein paar Jahre für mich!
Familie Peter, Hausen (AG)
Den Grundsatzentscheid revidiert, keine eigenen Kinder mehr zu haben.
Sacha Peter: Als ich Franziska kennenlernte, sprach sie von einer Kinderschar, gross wie eine Fussballmannschaft, die sie einmal haben wollte. Ich handelte sie auf eine halbe Mannschaft hinunter. Als unser erstes Kind zur Welt kam, waren wir 24 Jahre alt. Trotz Schwierigkeiten während der Schwangerschaft hielt uns nichts davon ab, im Takt von zwei Jahren noch Nicola und Noëlle zu bekommen. Doch bei Noëlle hatte meine Frau schon früh starke Blutungen, und sie musste ab dem dritten Monat liegen. Es war ein Wunder, dass Noëlle überlebte. Die Erfahrung zehrte so an unserer Substanz, dass wir entschieden, uns mit der Hälfte einer halben Fussballmannschaft zu begnügen.
Im Job habe ich Karriere gemacht, ich leite heute die Abteilung Raumplanung des Kantons Zürich mit rund 30 Mitarbeitenden. Meine Frau arbeitete über Jahre teilzeitig nachts als Pflegefachfrau. Das war sehr anstrengend und sie fand die Zweigleisigkeit von Familie und Job je länger desto unbefriedigender. Deshalb wechselten wir zum traditionellen Rollenmodell, als Noëlle fünf Jahre alt war: Franziska wurde Mutter und Hausfrau. Lange trugen wir uns mit der Idee, noch ein Kind zu adoptieren. Kurz bevor sich die Hoffung darauf definitiv zerschlug, konnten wir unverhofft ein vier Monate altes Pflegekind aufnehmen. Aus den geplanten drei Monaten wurde ein Jahr, und der Kleine wuchs uns allen ans Herz. Als seine leiblichen Eltern ihn als Einjährigen zur Adoption freigaben, durften wir ihn aus juristischen Gründen nicht adoptieren. Wir mussten den Kleinen wieder hergeben – das war für uns alle schwierig und riss eine Riesenlücke in unser Familiengefüge. Das Positive dieser traurigen Erfahrung war, dass wir unseren Grundsatzentscheid, keine weiteren eigenen Kinder mehr zu haben, überdachten. Respekt hatten wir trotzdem, als Franziska mit Nevin schwanger wurde. Wir waren mittlerweile 38, daheim ratterte eine «Hochleistungsmaschine»: Kinder, die nach der Schule Aufmerksamkeit erforderten, Hausaufgaben erledigen mussten, essen wollten, und einen Teenager, den wir bei der Lehrstellensuche begleiten wollten – es wimmelte vor Verpflichtungen und Ansprüchen. Aber dank des Jahres mit dem Pflegekind waren wir gewappnet.
Als unsere Freunde und Verwandten erfuhren, dass wir noch ein Kind erwarteten, meinten manche augenzwinkernd: Ihr habt ja den Babysitter schon im Haus! Welcher Trugschluss: Naomi kam mit der Geburt von Nevin schlagartig in die Pubertät. Sie lehnte sich gegen die latente Erwartung der Erwachsenen auf und wollte sich auf keinen Fall einspannen lassen. Womit sie natürlich recht hatte. Jugendliche brauchen ihrerseits noch Zuwendung und Unterstützung, selbst wenn sie selber das nicht so sehen.
Es gab Phasen, da hatten wir schlaflose Nächte – nicht nur, weil das Baby zahnte, sondern Naomi gleichzeitig in der Berufswahl steckte. Doch solch strube Zeiten gehen vorüber. Dafür fördert unser Nesthäkchen die Sozialkompetenz von allen in der Familie. Nevin ist das neue «schwächste Glied», auf das wir Rücksicht nehmen müssen. Das ist heilsam. Und wenn die Grossen in Ferienlagern sind, geniessen Franziska und ich den Kleinen vorübergehend als «Einzelkind» – eine für uns neue und schöne Erfahrung.
Vor allem aber führt mir Nevin vor Augen, was eigentlich wichtig ist im Leben. Ich hatte schon immer die Tendenz, etwas viel zu arbeiten. Mit seiner Geburt wurde mir klar, dass es niemandem etwas bringt, wenn es mich gesundheitlich «verbläst». Deshalb gehört das Wochenende auch weiterhin ganz meiner kleinen Fussballmannschaft.
Ehrlich, das Geschwafel von der «neu gewonnen Freiheit, wenn die Kinder grösser sind» finde ich ziemlich daneben. Das ist, wie wenn man erwartet, nach der Pensionierung endlich abfeiern zu können. Das ist Quatsch. Das Leben findet jetzt und hier statt, nicht in einer ungeschriebenen Zukunft. Ich betrachte die Zeit, die ich mit den Kindern verbringe, nicht als verlorene Zeit, sondern als Glücksmomente.