Integrative Schule
Wer ist hier behindert?
Kann die Integration von Kindern mit Behinderungen und Lerneinschränkungen in einer Schule wirklich funktionieren? Und wer profitiert am meisten davon? Wir haben einen integrativen Kindergarten in Zürich besucht. Und waren überrascht.
Es ist ein sonniger Herbstmorgen um acht Uhr in Zürich Affoltern. Wie ein wilder Ameisenhaufen wuseln die Kinder vor dem Eingang des Schulhauses Blumenfeld umher. Ein Vater erreicht die Eingangstüre gerade noch ein paar Sekunden vor dem Gong. Er schiebt seinen fünfjährigen Sohn Janis, der im Rollstuhl sitzt, zum Lift. «Janis kann den Lift noch nicht selbst bedienen», sagt der Vater, «daher bringe ich ihn jeweils zum Kindergarten.»
Eine Assistenzperson unterstützt Janis im Schulalltag
Kaum ein Zürcher Stadtquartier ist in den letzten Jahren so stark gewachsen wie Affoltern, das am Stadtrand liegt. Rund 520 Schüler:innen mit und ohne Behinderungen besuchen das Schulhaus Blumenfeld. Janis` Vater übergibt seinen Sohn in der Garderobe Sonja Mörsch, der ISR-Assistenz. ISR, das ist die Abkürzung für integrierte Sonderschulung in der Verantwortung der Regelschule. Sonja Mörsch steht Janis zur Seite und unterstützt ihn bei den Aufgaben, die er aufgrund seiner Körperbehinderung nicht selbst erledigen kann. Der Vater gibt Janis einen Kuss und verabschiedet sich, doch der Junge ist schon lange abgelenkt und plaudert mit zwei anderen Kindern.
1994 initiierten die Vereinten Nationen die Salamanca-Erklärung: Diese forderte Schulen dazu auf, sämtliche Kinder mit und ohne Behinderungen gemeinsam zu unterrichten und damit eine inklusive Gesellschaft zu fördern. Einige Länder entwickelten in der Folge inklusive Schulsysteme: so die USA, Kanada, Neuseeland, Italien oder Finnland. Seit bald zehn Jahren versucht auch die Schweiz den Grundsatz der Integration umzusetzen, der auch in der Verfassung und im Volksschulgesetz festgehalten ist.
Integrativer Ansatz in der Schweiz erst zur Hälfte umgesetzt
In der Schweiz besucht mittlerweile gut die Hälfte der Kinder mit sonderpädagogischem Bedarf eine Regelschule. Die Umsetzung integrativer Bildung geschieht aber nicht nur aus rechtlichen, sondern auch aus pädagogischen Gründen: «Gemischte Lerngruppen unterstützten die Solidarität und Kooperation in der Klasse», schreibt die Bildungsdirektion Zürich. Kinder, die heterogene Klassen besuchen, seien weniger fokussiert auf die Defizite ihrer Mitschüler:innen.
24 Kinder besuchen im Schulhaus Blumenfeld den 1. und 2. Kindergarten, geführt von den Kindergartenlehrpersonen Yvonne Trüb und Martina Mörsch; die beiden teilen sich die Stelle. Vier Kinder haben sogenannten besonderen Bildungs- oder Betreuungsbedarf. Drei Kinder haben eine Körperbehinderung, zwei davon fahren einen Rollstuhl, ein Kind hat eine sozial-pragmatische Kommunikationsstörung.
Neun Personen kümmern sich um die Klasse
Viele verschiedene Bedürfnisse und Fähigkeiten kommen da in einem Schulzimmer zusammen. Ein neunköpfiges Team kümmert sich um die Klasse. Heute sind es vier Personen: die Kindergartenlehrerin Martina Mörsch, zwei ISR-Assistenzen und Joel Stücheli, er ist Klassenassistent. «Wir würden uns nicht als eine besondere integrative Schule bezeichnen, für uns ist es einfach ein Grundsatz, dass alle Kinder, mit oder ohne Behinderung, in die gleiche Schule gehen. Jedes Schulhaus kann aufgrund des Volksschulgesetzes vor die Aufgabe der Integration gestellt werden», sagt der Schulleiter des Schulhauses, Marc Fäh. Und ergänzt: «Ich meine das nicht idealistisch, es gibt Herausforderungen und Schwierigkeiten.
Diese zu lösen, sehe ich aber als Teil unseres Jobs.» Die Kindergartenlehrerin Yvonne Trüb nickt. Sie unterrichtet seit 25 Jahren Kinder auf dieser Stufe. Sie sagt: «Seit wir einen integrativen Kindergarten führen, habe ich endlich das Gefühl, allen Kindern gerecht zu werden: Durch die Zusammenarbeit im Unterrichtsteam haben wir viel mehr Möglichkeiten, individuell zu fördern.»
Wer bekommt wieviel Unterstützung?
Doch dann wird sie ernst: «Die grosse Herausforderung besteht darin, zu Beginn des Schuljahrs die optimale Abdeckung für ein Kind zu erreichen, zum Beispiel durch Assistenz oder schulische Heilpädagogik. Je nach Kind und Diagnose ist viel Absprache mit verschiedenen Stellen nötig.» Was Yvonne Trüb damit anspricht: Kinder mit starken Körperbehinderungen wie Janis erhalten unter Umständen eine Vollabdeckung durch eine Assistenz zugesprochen, was die Integration erleichtert. Ein Kind mit einer Autismus-Spektrum-Störung bekommt einen vorerst festgelegten Wert pro Woche, der erst später und nur unter bestimmten Umständen angepasst wird.
Verhaltensauffällige Kinder brauchen mehr Unterstützung
Das kann zu schwierigen Situationen führen, vor allem, wenn das Kind den Unterricht stört oder besonders viel Aufmerksamkeit benötigt. Eine Studie der Hochschule für Heilpädagogik ergab, dass Kinder mit lauten, externalisierenden Verhaltensstörungen oder mit Trotzverhalten und Aggressionen am meisten schulische Unterstützung benötigen und Lehrpersonen dabei ein Team von anderen Lehrpersonen und schulischen Heilpädagog:innen im Klassenzimmer als besonders wichtig empfinden.
24 kleine Holzstühle stehen im Kreis vor der Wandtafel, auf der eine riesige Raupe Nimmersatt gezeichnet ist. «Guten Morgen Nina, guten Morgen Idris, guten Morgen Rijad, guten Morgen Janis.» Die Namen sind so divers wie die Kinder selbst. Dann erzählt die Kindergärtnerin aus dem Bilderbuch «Ein Freund für die kleine Maus» und fragt: «Was machen die drei heute?» Ein Kind ruft laut «Spielen!». «Du musst die Hand heben, sonst kommst du nicht an die Reihe», antwortet die Lehrerin. Janis hebt die Hand und wird aufgerufen. «Freunde suchen», sagt er. «Genau», erwidert Frau Mörsch und Janis beugt sich im Rollstuhl nach hinten, durch die Spastik überstreckt er den Rücken, wenn er sich freut. Die Kindergärtnerin erklärt die Aufgabe: «Heute suchen wir alle zusammen Freunde. Ihr findet auf mehreren Tischen Karten vom Hasen, dem Storch und der Maus. Sucht jeweils die drei Freunde zusammen und reiht sie dann am Boden aneinander. Ihr könnt jetzt starten.» Die Kinder eilen los, es herrscht reges Treiben. «Ich will auch meine Karten hinlegen», schreit ein Mädchen einen Jungen an. Sie ist mit Abstand die Kleinste der Gruppe, besucht den 1. Kindergarten und ist kurz vor Eintritt vier geworden. Der Junge nimmt entnervt seine Karten und setzt sich zu Janis und Joel Stücheli an den Tisch, wo es ruhiger ist. Milan kriecht am Boden hinzu, er hat wie Janis Cerebralparese. Der Klassenassistent unterstützt ihn beim Aufziehen.
Kritische Stimmen wollen zurück zu den Sonderklassen
Nicht in jedem Schulhaus ist die Haltung zur Integration so positiv wie im Blumenfeld. Immer wieder, teils seit Jahren, klagen Lehrpersonen in den Medien über zu wenig Ressourcen, um den weiter auseinanderliegenden Anforderungen in einer Klasse gerecht zu werden. Eine Primarlehrerin aus Basel schilderte kürzlich einem SRF-Reporter, dass es zwischen ihren 18 Schüler:innen, 17 davon mit speziellem Förderbedraf, enorme Unterschiede gäbe. Und sie unmöglich allen gerecht werden könne.
Im Kanton Zürich möchte ein Komitee aus FDP und GLP mit einer Volksinitiative zurück zum Kleinklassenmodell – ein grosses und umstrittenes Politikum. Denn der Blick auf aktuelle Forschungsergebnisse zeigt, dass Kleinklassen zwar kurzfristig zu einer Entlastung des Regelsystems führen können. Die Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik schreibt in einem Bericht aus dem Jahr 2016 allerdings: «Langfristig bringt die integrierte Förderung den Kindern und Jugendlichen mit Lern- und Verhaltensproblemen aber mehr Erfolg. Das nützt der ganzen Gesellschaft.»
Alle Beteiligten müssen voll hinter dem integrativen Ansatz stehen
Schulleiter Fäh sieht die Herausforderungen im Klassenzimmer: «Es ist sehr wichtig, bei allen Kindern immer wieder zu prüfen, ob die erteilten Ressourcen ausreichen und ob die Regelschule für das Kind nach wie vor der richtige Platz ist. Oder ob für die Entwicklung und das Wohl des Kindes doch beispielsweise eine heilpädagogische Schule besser ist.» Fähs Erfahrung nach sei es in Bezug auf ein gutes Schulklima und gelingende Integration sehr wichtig, dass Unsicherheiten und Anliegen von Lehrpersonen ernst genommen werden.
Wenn möglich, berücksichtige er bei der Zuteilung von Kindern mit besonderem Bildungsbedarf und ISR-Settings die unterschiedlichen Stärken und Grenzen der Lehrpersonen, so komme es weniger zu Frustrationen. Der Schulleiter wirft eine weitere Perspektive ein: «Es ist in meinen Augen ein Trugschluss, zu denken, die Probleme in Klassen gingen von den integrierten Kindern aus. Oftmals sind es Kinder mit Verhaltensschwierigkeiten ohne Diagnosen, die uns herausfordern. Oder Eltern, die aus verschiedenen Gründen nicht mit uns zusammenarbeiten wollen oder können, und sich mit einer Diagnose noch schwertun.»
Der Rollstuhl gehört zu Idris Körper
Im Kindergarten von Yvonne Trüb und Martina Mörsch geht heute Morgen zwischen Kindern mit und ohne Behinderung alles Hand in Hand, die Unterschiede scheinen keine Rolle zu spielen. Um Janis stehen mehrere Kinder und legen zusammen die drei Tierkarten. Idris, der ebenfalls einen Rollstuhl fährt, wird währenddessen von einem Mitschüler in den Kreis zurückgestossen. Der Klassenassistent setzt sich zu den beiden und erklärt, dass der Rollstuhl zu Idris`Körper gehöre. Es sei daher wichtig zu fragen, ob es okay sei, den Rollstuhl anzufassen.
Yvonne Trüb, Kindergartenlehrerin
Eltern tun sich mit Abklärungen schwer
«Für eine gelingende Integration braucht es den Willen aller Beteiligten. Gleichzeitig habe ich Verständnis dafür, dass Eltern sich mit Abklärungen und Stigmata schwertun», erklärt Fäh die Ambivalenzen seines Alltags. Yvonne Trüb sieht vor allem Bedarf in der Aufklärung der Eltern: «Es braucht das Wissen, dass Abklärungen beim schulpsychologischen Dienst keine Bedrohung sind, sondern wichtig, damit wir Unterstützung für das Kind in der Klasse bekommen und wir somit adäquat begleiten können.» Für die Eltern von Janis ist seine Integration im Schulhaus Blumenfeld elementar für seine und ihre Teilhabe am sozialen Leben: «Würde er sonderbeschult, mit dem Taxi hin- und hergefahren, gäbe es keine Einladungen zu Geburtstagen im Quartier, kein Abmachen, keine gemeinsamen Lieder oder Themen, die sie zusammen im Hof besprechen», sagt seine Mutter.
Was Janis am Kindergarten am meisten mag? «Turnen mit meinem e-fix», erzählt er – der e-fix ist sein Elektro-Rollstuhl. Doch erst mal bauen die Kinder der Eule, der Maus und dem Storch Nester aus verschiedenen Materialien. Dann ist Museumsrunde und Zehn-Uhr-Pause. Die Kinder räumen die Bildkarten auf, dürfen gegenseitig ihre Werke bestaunen und versammeln sich wieder im Kreis, alle holen ihre Znüniboxen aus ihren Rucksäcken heraus. Danach geht es mit allen Kindern an die frische Luft. Und Yvonne Trüb sagt: «Ohne meine Assistenzen wäre nur schon das nicht zu bewältigen.»
*Die Namen der Schüler:innen und Eltern wurden zum Schutz ihrer Privatsphäre geändert.