Generationenbeziehungen
Wenn die Eltern alt werden
Auf einmal realisiert das erwachsene Kind: Meine Eltern werden alt! Ein Gedanke, der Angst macht, auch wenn man selbst bereits 40 ist. Doch warum eigentlich? Und wie kommen wir gut durch diese Zeit?
Dieser Moment, wenn die erwachsene Tochter merkt, dass ihre Eltern auf einmal klein und zerbrechlich wirken: Wenn die Hände der Mutter zittern, als sie der Enkelin die Halskette schliessen will, und dem erwachsenen Sohn auffällt, dass der Vater nicht mehr so souverän Auto fährt. Irgendwann beginnt sie zu bröckeln, die alte Ordnung mit den einst starken Eltern. Das Familiengefüge verschiebt sich. Lange bevor Pflege oder Hilfe im Haushalt Thema werden, gibt es viele kleine Anzeichen.
«Wie Nebelschwaden, die plötzlich aus dem Nichts auftauchen», beschreibt es Lisa* (40). «Meine Mutter war dann auf einmal ungeduldiger und fahriger im Umgang mit ihren Enkeln.» Anfangs treten solche Episoden nur sporadisch auf und sind schnell wieder vorbei.
Matthias (39) erlebt dies, als ihm sein Vater beim Bauen eines Gartenhauses hilft. «Ausgerechnet er, der in seinem Leben so viel gebaut hat, zeigt sich plötzlich unsicher beim Ausmessen.» Fast schon froh ist der Sohn, als ihn der Vater kurz darauf in alter Manier belehrt, wie er den Hammer ansetzen soll. «Früher hätte ich das als Bevormundung empfunden», sagt Matthias, in diesem Moment jedoch stellte die väterliche Reaktion zumindest für kurze Zeit ein Stück beruhigende alte Normalität wieder her.
Verschwendete Lisa noch vor zehn Jahren keine Gedanken an das Alter ihrer Eltern, verspürt sie heute einen Stich, wenn sie sieht, wie mühsam sich ihr Vater nach dem am Boden liegenden Nuggi des Enkels bückt. Zeigt es doch unmissverständlich: Bald werden es unsere Eltern sein, die Schutz und Fürsorge brauchen. Es ist eine Rollenumkehr, die wir eigentlich gar nicht wollen. Denn auch wenn wir längst erwachsen sind, ist es ein gutes Gefühl, seine Eltern im Rücken zu wissen.
Alte Muster werden hinfällig
Aber warum fällt es uns so schwer, unsere Eltern altern zu sehen? «Weil wir damit eine Illusion aufgeben müssen, die uns die ganze erste Lebenshälfte Sicherheit gab: Dass nämlich unsere Eltern im Zweifelsfalle da sind», sagt Pasqualina Perrig-Chiello. Sie ist emeritierte Professorin für Entwicklungspsychologie an der Universität Bern und forscht zu Generationenbeziehungen und Midlife-Crisis. Es handle sich dabei um einen biografischen Übergang, erklärt die 69-Jährige, wie er auch in der Pubertät stattfinde.
Volljährigkeit, Menopause sowie Geburt oder Auszug der Kinder sind ebenfalls solche Transitionen. Sie gehen oft mit Verunsicherung einher – schliesslich müssen in diesen Phasen neue Wege und Rollen gefunden werden, alte Muster sind plötzlich hinfällig. Wer von Hause aus offen und resilient ist und eine gute Bindung zu seinen Eltern hat, tue sich mit deren neuen Lebensabschnitt in der Regel leichter.
Wir lösen uns später von den Eltern
Doch sollte – wer im vierten oder fünften Lebensjahrzehnt steht und selbst Mutter oder Vater ist– mit dem Älterwerden der eigenen Eltern nicht selbstverständlich umgehen können? Oder lösen wir uns heute etwa später von unseren Eltern, Frau Perrig-Chiello? «Ja, eindeutig», findet die Entwicklungspsychologin. «Die Familie ist heutzutage viel kleiner, es gibt weniger Bindungen, diese sind dafür aber umso enger und die Abnabelung vom Elternhaus dauert länger.»
Deshalb spricht die Psychologie von «Emerging Adulthood», ausgedehntem Erwachsenwerden, und beschreibt damit den Zeitraum bis zum Erwachsensein, der heute im Schnitt länger dauert als früher. So befinden sich viele 30- bis 40-Jährige in einer Art in die Länge gezogener Jugendzeit, obwohl sie faktisch längst erwachsen sind.
Gleichzeitig zeigen Studien, dass Eltern zwischen 50 und 75 Jahren ihre Kinder zeitlich mehr unterstützen als umgekehrt. Zudem ist aus der Forschung bekannt, dass Vollwaise zu werden, auch für Menschen zwischen 40 und 65 Jahren heute ein sehr einschneidendes, kritisches Erlebnis ist. Womöglich trifft uns genau deshalb das Älterwerden unserer Eltern auch so sehr ins Mark: Weil wir sie gefühlt deutlich stärker brauchen als sie uns.
Bis 80 ist man jung-alt
Benötigen Eltern dann tatsächlich Hilfe von ihren erwachsenen Kindern, fällt dies meist in eine Zeit, in der die mittlere Generation stark beansprucht wird: von pubertären oder sich im Auszug befindenden Kindern, die emotional oder finanziell unterstützt werden wollen, vom eigenen Job und dann auch noch von den Eltern. Oft beginnt es mit kleinen Botengängen, von denen die erwachsenen Kinder anfangs denken: «Das kann ich gut übernehmen, kein Problem.»
Weil jedoch noch immer Frauen am meisten Care-Arbeit leisten, laufen vor allem Töchter Gefahr, dabei langsam in eine neue Rolle zu rutschen, ohne zu bemerken, wie sie selbst ausbrennen, warnt Perrig-Chiello. Umso wichtiger sei es, sich früh über Hilfsangebote zu informieren und mit Vater und Mutter das Gespräch zu suchen.
Wie soll das Leben im Alter aussehen?
Matthias hat dies bisher hinaus geschoben («Ich weiss nicht, wie ich es anfangen soll»), Lisa ist schon einen Schritt weiter. Ihre Eltern, beide Anfang 70, wehrten jedoch energisch ab, als die Tochter sie nach ihren Vorstellungen vom Leben im Alter fragte: «So alt sind wir doch gar nicht, das hat noch Zeit!»
Verständlich, findet Pasqualina Perrig-Chiello: Es gebe schliesslich das junge Alter, zwischen 60 und 80, und das hohe Alter, ab etwa 80. «Gerade im jungen Alter fühlt man sich von vielem noch nicht angesprochen– auch wenn es sinnvoll wäre, manche Themen dann schon anzugehen.» Hilfe beim Leben zu brauchen, ist eben für beide Seiten kompliziert.
**Um offen reden zu können, ohne ihre Angehörigen zu verletzen, wünschten die betroffenen Auskunftspersonen eine Anonymisierung ihrer Namen.*
Wenn die Eltern Hilfe im Alltag brauchen
♦ Ältere Menschen bestimmen selbst, wie sie leben möchten. Kinder können aber ihre Gedanken, Bedenken oder Ideen äussern, um so einen Einblick in ihre Perspektive zu geben. Dabei auf Formulierungen achten: «Wollt ihr nicht mal eure Wohnsituation überdenken?», würden viele wohl als übergriffig empfinden. Lieber Ich-Botschaften nutzen («Ich mache mir Gedanken, ob die Gartenpflege euch überhaupt noch Freude bereitet.»).
♦ Anzeichen, dass jemand Unterstützung braucht, kann ein Stapel ungeöffnete Post sein, vernachlässigte Körperpflege, einseitige Ernährung oder ein Mangel an sozialen Kontakten.
♦ Wie Hilfe anbieten? Ist man in regelmässigem, lebendigem Austausch, lassen sich auch heikle Themen einfacher ansprechen. Ausserdem können Kinder etwa bei der Recherche für Unterstützungsangebote helfen (Mahlzeitendienst, Haushaltshilfe).
♦ Wann das Thema Pflegeplatz ansprechen? Wenn die Person zu Hause nicht adäquat betreut oder gepflegt wird – etwa, weil die ambulante Betreuung oder Pflege durch eine Spitex-Organisation nicht mehr möglich ist oder die betreuende Bezugsperson keine Kraft mehr hat. Aber auch, wenn sich jemand zu Hause nicht mehr sicher oder wohlfühlt, soziale Kontakte fehlen oder es plötzlich zu einem Sturz oder Schlaganfall kommt. Ist jemand hingegen an einer Demenz erkrankt, bemerken das zunächst meist nur Partner*innen. Hier braucht es ein gutes Gespür und Feingefühl. Auch deshalb sind regelmässige Besuche wichtig.
♦ Bevor ein Angebot in Anspruch genommen wird, ruhig erst einmal probehalber testen und die Qualität überprüfen. Oft geht es nicht in erster Linie um eine Pflegebedürftigkeit, sondern etwa um mangelnde soziale Kontakte. Eventuell gibt es in der Gemeinde einen Treffpunkt, einen Besuchsdienst oder ein Kursangebot für ältere Menschen.
♦ Konflikte zwischen Kindern und Eltern sind häufig sehr emotional, weil es gegenseitig unterschwellige Erwartungen gibt, wie sich Mutter, Vater, Sohn oder Tochter zu verhalten habe. Werden diese nicht erfüllt, wird dies irrtümlich häufig mit fehlender Liebe assoziiert.
♦ Wollen Eltern keine Hilfe annehmen, kann es helfen, ein Gespräch zu dritt oder viert mit einer Fachperson zu führen (Pro Senectute, Arzt oder Ärztin, Fachperson für Pflege).
♦ Weitere Infos: Pro Senectute, 058 591 15 15, prosenecute.ch/vor-ort
Quelle: Sonja Kunder Wälchli, Pro Senectute Schweiz
Einst Redaktorin beim «Tages-Anzeiger», später Korrespondentin in Shanghai, schreibt Kristina Reiss heute als freischaffende Journalistin leidenschaftlich über den Mikrokosmos Familie. Dabei interessiert sie sich für alles, was Menschen bewegt – ihre Wünsche, Sehnsüchte, Ängste und Hoffnungen.