Abwesende Väter
Wenn der Vater sein Kind nicht sehen will
Ein willentlich abwesender Elternteil prägt die Biografie des Kindes tiefgreifend. Was Studien zeigen und wie Betroffene damit leben.
Was ist, wenn dem Vater das Kind gar nicht so wichtig ist? Wenn er sich nur alle paar Wochen blicken lässt? Wenn es ihm egal ist, wie der Alltag seines Kindes aussieht, wie es ihm geht? Diese Fragen stellte Elsa Burger* per E-Mail nach Erscheinen des Artikels «Kein Kuss zum Abschied» im «wir eltern» (Ausgabe Mai 2019), der den Kampf von Vätern gegen die Entfremdung zu ihren Kindern thematisierte. «Was passiert mit Kindern ohne verlässliche Väter?»
Wir treffen Elsa Burger in einem Café in Zürich. Grundsätzlich, sagt sie, komme sie gut durchs Leben. Doch: «Seit unserer Trennung ist Noras Vater mehr Götti als Papi, es reicht ihm, wenn er sie alle paar Wochen kurz sieht.» Tanja Leimer* aus Bern erlebt Ähnliches. «Die Kinder leiden, weil sie im Leben ihres Vaters keine wichtige Rolle spielen». Lesen Sie direkt die Erfahrungsberichte der beiden Mütter.
Ein willentlich abwesender Elternteil, egal ob Mutter oder Vater, hinterlässt in der Biografie eines Kindes tiefe Spuren. Der Kinderarzt und Buchautor Remo Largo und die Autorin Monika Czernin schreiben in ihrem Buch «Glückliche Scheidungskinder»: «Mit der Geburt eines Kindes sind die Eltern eine Beziehung und eine Verantwortung eingegangen. Die ist verbindlich und unkündbar.» Und sie stellen klar: «Die Frage, ob Kinder Trennungen relativ oder ganz unbeschadet überstehen, hängt von der Bereitschaft beider Eltern ab, sich weiterhin um sie zu kümmern.»
Doch die Realität sieht anders aus. Laut Andrea Micus, Autorin des Buchs «Väter ohne Kinder», haben im deutschsprachigen Raum Millionen Väter aller sozialen Schichten und Altersstufen wenig oder keinen Kontakt zu ihren Kindern.
Das Drama der Vaterentbehrung
Horst Petri, Kinder- und Jugendpsychiater, nennt den abwesenden Vater in seinem Buch «Das Drama der Vaterentbehrung» eine Tragödie: «Immer öfter fehlt der Vater als Identifikationsfigur und Vorbild.» Es sei ein Trend, der sich in den letzten 40 Jahren durch den Geschlechterkampf, die zunehmenden Trennungen, die Individualisierung der Gesellschaft und die veränderten Familienformen weiter beschleunige. «Wie konnte es so weit kommen, dass in Zeiten des Friedens und Wohlstands Väter reihenweise die Verantwortung für ihre Kinder aufkündigen oder von Müttern systematisch ausgegrenzt werden?», fragt Petri.
Laut UN-Kinderrechtskonventionen hat ein Kind das Recht auf den regelmässigen Umgang mit beiden Eltern. Doch Elternliebe kann nicht erzwungen werden. Laut Auskunft der Kesb wäre es zwar möglich, die Besuchszeit für ein Kind allenfalls gerichtlich einzufordern. Praktisch sei es jedoch schwierig und wahrscheinlich wenig sinnvoll, einen desinteressierten Elternteil dazu zu zwingen.
Können Kinder trotz der Vaterentbehrung glücklich werden? Ja, sagen Fachleute. Das kann gelingen, wenn:
♦ Eine andere männliche Bezugsperson in die Vaterrolle schlüpfen kann (sozialer Vater). Etwa der neue Partner der Mutter, der Grossvater, der Onkel, ein älterer Bruder. Voraussetzungen sind eine emotional verbindliche Beziehung mit hoher Kontinuität, Verlässlichkeit und Orientierung. Doch selbst im Idealfall bleibt die Sehnsucht nach dem abwesenden Vater bestehen.
♦ Die Mutter und die Restfamilie nicht negativ und abwertend über den Vater herziehen. Dies könnte sich verheerend auf das Wohl des Kindes auswirken: «Sowohl Mädchen, aber vor allem Jungen laufen Gefahr, diese negativen Komponenten auf sich selbst zu beziehen und sich als böse oder schlecht zu erleben. Das Selbstbild kann erheblich beeinträchtigt werden», schreibt der deutsche Psychiater Horst Petri.
Anders als wenn der Vater verstorben, unbekannt oder als Trennungsvater zwar häufig abwesend aber trotzdem liebevoll und interessiert ist, verursacht der mutwillig abwesende Vater im Kind das Gefühl der Unzulänglichkeit. Es fühlt sich unerwünscht, wertlos, dem Vater nicht wichtig genug. Je nach Konstitution des Kindes und dem Verhalten des übrigen sozialen Umfelds kann der abwesende Vater, so weiss man aus der Psychotherapie, eine lebenslange Quelle von Ärger, Verbitterung, Scham und Traurigkeit sein. «Es gibt wenig, das Männer zu Tränen rührt, sie können in Therapien gefasst über gescheiterte Ehen sprechen. Wenn sie jedoch erzählen, was sie mit ihrem abwesenden Vater nicht erleben durften, brechen sie oft in heftiges Weinen aus», schreiben die Kinder- und Jugendtherapeuten Dan Kindlon und Michael Thompson in ihrem Buch «Was braucht mein Sohn?».
Dafür brauchts den Papa
Studien haben gezeigt: Je früher ein Kind auf die Haltestrukturen des Vaters verzichten muss, umso gefährdeter ist es in seiner gesamten weiteren Entwicklung. Der Vater spielt von Geburt an eine wichtige Rolle. Während die Mutter eher für die emotionale Sicherheit des Kindes zuständig ist, ist er der Sparringpartner, der das Kind ermutigt, nach vorn zu gehen und die Welt zu erobern. Er steht für Wagnis und Risiko und fördert die Unabhängigkeit.
Für den Sohn ist er Vorbild, er prägt sein Männerbild im Umgang mit Kraft, Wut und mit Gefühlen. «Der Vater kennt den Rauf- und Tob-Drang des Sohnes, er kann darauf eingehen, mit dem Sohn rumtollen, Kräfte messen und ihm vermitteln, dass dies gut ist und nicht sonderbar», schrieb der im Sommer 2019 verstorbene Familientherapeut Jesper Juul. Für die gesunde Entwicklung eines Jungen sei dies wichtig, zumal die Mütter mehr auf Dialog setzen und den Raufdrang der Buben eher als negativ bewerten. Mit einem interessierten und kompetenten Vater kann der Sohn das nötige Vertrauen in sich und seine Zukunft als Mann entwickeln. Wie der Vater mit Frauen umgeht, mit der Mutter, der Schwester, der Serviererin, prägt zudem sein Frauenbild und ist entscheidend, wie er sich später als Mann und Partner verhält.
Für die Tochter ist er der grosse, starke Papa, an den man sich ankuscheln kann. Wie ein Mann riecht, wie er redet, was er tut, dafür steht der Vater Modell. Zugleich ist er Versuchsobjekt, sie darf wütend werden, schreien, sich mit ihm streiten, und er liebt sie trotzdem. «Sie lernt, sich in der Männerwelt zurechtzufinden, sich Respekt zu verschaffen, der Vater hat Einfluss darauf, für welchen Mann sie sich später entscheidet», schreibt Psychotherapeut Horst Petri. Das väterliche Vertrauen in ihre Fähigkeiten macht Mädchen stark, laut Studien sind sie erfolgreich in der Schule und im Beruf. Horst Petri: «Der Vater ist entscheidend, wie die Tochter ihr Leben gestaltet, wie sie sich fühlt.»
Der uninteressierte Vater hingegen ist für viele Kinder eine Geschichte unerfüllter Liebe. «Mädchen resignieren mit der Botschaft, nie für einen Mann wichtig zu sein, was häufig zur Folge hat, dass erwachsene Frauen Sehnen mit Liebe verwechseln», sagt die Hamburger Psychologin Claudia Clasen-Holzberg im Magazin «Geo». Oft kämpften sie ihr Leben lang um Nähe, Aufmerksamkeit, für ein Lächeln der Anerkennung, des Vaters oder späteren Partners. Der fehlende Vater hinterlässt das Gefühl, leer und nicht vollständig zu sein. Laut Studien können vaterlose Mädchen unter geringem Selbstwertgefühl, einer negativen Sicht auf die Welt leiden, depressiv, mit Essstörungen und Selbstverletzungen bis zum Suizid reagieren.
Verschiedene Studien haben zudem ergeben: Ist der Vater für den Sohn das unbekannte Wesen, bleibt sich der Sohn selber fremd. Er spürt sich nicht, kann an innerer Verwahrlosung, Suchterkrankungen, emotionalen und sozialen Problemen mit Gleichaltrigen leiden und suizidgefährdet sein. Bei vielen jugendlichen Straftätern fällt das Fehlen von Schuld- und Schamgefühl und Gefühlskälte auf. Viele dieser Kinder seien vaterlos aufgewachsen, schreibt Buchautor Horst Petri und mahnt: «Kinder, denen der Halt fehlt und vorgelebte Autorität, reagieren entsprechend. Währenddessen feiert die Gesellschaft unbekümmert die individuelle Freiheit, Emanzipation und Selbstverwirklichung – und spürt nicht, wie heiss der Vulkan inzwischen geworden ist, auf dem sie tanzt.»
Tanja Leimer*, 44, Melanie, 11, Jan, 9 Jahre
«Er wollte Kinder, aber als sie da waren, war ihm alles, was mit Familie zu tun hat, egal. Bei der Trennung vor sechs Jahren war Melanie 5, Jan 3 Jahre alt. Ich wollte die Familie nicht zerstören, nur die Strukturen verändern. Die Kinder sollten weiterhin Kontakt haben zum Vater, das war mir wichtig. Doch zu welchem Preis? Die Kinder leiden enorm. Sie merken, dass sie im Leben ihres Vaters keine wichtige Rolle spielen. Oft sagt er die gemeinsamen Wochenenden kurzfristig ab. Manchmal sehen sie ihn nur einmal im Monat, manchmal noch seltener. Ein Anruf, wie es ihnen geht? Eine SMS? Vergiss es. Wenn sie ihn anrufen, nimmt er meist nicht ab. Ferien mit den Kindern? Keine Chance. Darauf hat er keine Lust. Wenn er sie für ein Wochenende abholt, bringt er sie anderen Leuten, weil er keine Zeit hat. Wenn sie doch mal bei ihm sind, gibts Rambazamba, Europa-Park, Badi, Chilbi. Die Kinder rufen mich an, weinen, klagen über Kopfweh, Bauchweh, schimpfen, wie langweilig es gerade sei. Er ist oft sehr gereizt und abweisend. Vor allem zu Jan. Als Jan ihn kürzlich umarmen wollte, hat er ihn weggeschoben. Kommen die Kinder zurück, sind sie gestresst, genervt und frech, oft auch krank. Sie sagen, sie möchten lieber auch mal allein sein mit ihrem Papa, doch seine Interessen und seine neue Partnerin stehen für ihn im Mittelpunkt. Die Kinder finden sie blöd, und sie mag sie wohl auch nicht. Sie vermissen ihren Papa, weinen oft um ihn, sie trauern. Wenn wir befreundete Familien zu Besuch haben und engagierte Väter dabei sind, ist es für sie besonders schwierig. Jan überbordet dann regelmässig, spürt sich nicht mehr und saugt sich an diesen Vätern regelrecht fest. Es ist so traurig, das alles mitanzusehen. Ich bin oft so frustriert. Ich mag einfach nicht mehr Geduld haben und Trösterin sein. Wenn die Wut über meinen Ex-Mann hochkocht und ich über ihn schimpfe, nehmen die Kinder ihn in Schutz und werden auf mich wütend. Sie verkümmern emotional und ich bin limitiert.
Ich kann ihn nicht ersetzen. Melanie zieht sich in ihrer Trauer eher zurück oder ist gegen mich aggressiv. Jan ist völlig haltlos. Ihm fehlt ein Mann, eine positive Männerfigur, die nahe an ihm dran ist, das spürt man deutlich. Nur leider kann ich das nicht bieten, ich habe keinen neuen Partner. Das macht mich wehmütig. Ihr Vater will nicht sehen, wie es den Kindern geht. Wahrscheinlich ist er schlicht nicht fähig dazu, er ist völlig empathielos. Ein totaler Narziss. Er sagt, für ihn sei alles wunderbar. Bei Schulanlässen und vor Freunden bläht er sich gross auf und mimt den lässigen, engagierten Papa. So ein Idiot. Ich bin oft auch so eifersüchtig auf ihn. Er hat unsere schöne Wohnung, ich lebe mit den Kindern quasi in einer Sozialwohnung. Er hat alle Freiheiten, ich die Arbeit, den ganzen Stress und das Leiden der Kinder. Manchmal möchte ich den ganzen Bettel einfach hinschmeissen, nicht mehr zuständig sein.»
Elsa Burger*, 38, Nora, 4 Jahre:
«Nora war unser Wunschkind. Mein Ex-Mann war völlig vernarrt in das Baby. Als sie acht Monate alt war, ist er gegangen. Wir hatten kurze Zeit heftige Streitereien. Ich hätte an unserer Beziehung gearbeitet. Aber er wollte weg. Seither kümmert er sich nur um Nora, wenn er Lust hat. Manchmal nimmt er sie einmal im Monat, dann sieht sie ihn zwei bis drei Monate nicht. In der Zwischenzeit hören wir nichts von ihm. Ich rede bei Nora nie negativ über ihn. Sie freut sich immer wie verrückt, wenn sie weiss, dass er kommt. Sie hüpft aufgeregt vor dem Fenster und wartet auf ihn. Dann ziehen sie los, Hand in Hand. Das ist mega herzig, sie sieht ihm sehr ähnlich. Ist er bei ihr, ist er sehr liebevoll. Sie gehen in die Badi, auf den Spielplatz, schauen was im Fernsehen und haben viel Spass. Nach ein paar Stunden bringt er sie wieder zurück. Nie nimmt er sie über Nacht. Er sei nicht dafür eingerichtet, sagt er, obwohl er mit seiner neuen Frau eine grosszügige Wohnung hat. Seine Partnerin ist nett, ich verstehe mich gut mit ihr. Und mit Nora ist sie total lieb. An ihr liegt es nicht. Er hat immer Ausreden, er habe zu viel Arbeit, sei zu müde, brauche Zeit für sich. Da kann ich nur lachen. Ich arbeite 80 Prozent, der Rest bleibt an mir hängen. Habe ich einen Termin am Abend, muss ich einen Babysitter bezahlen. Dass er mal auf Nora aufpassen kommt, kann ich vergessen. Ich habe zum Glück tolle Eltern.
Bei ihnen hat Nora ein zweites Zuhause. Sie liebt es, dort zu sein. Mein Vater macht mit ihr so Männerzeug wie Grillieren im Wald und Baumklettern. Ich kann sie bei ihnen lassen, wenn sie krank ist oder wenn ich am Abend mal ausgehe. Nora ist so lässig und unkompliziert. Ich habe ihm gesagt, du verpasst alles, bei jedem ersten Mal bist du nicht dabei. Wir haben eine wunderbare Tochter, sie wird einmal eine tolle Frau. Es ist auch deine Verantwortung, dass es ihr gut geht. Er sagt, für ihn stimme es so. Es tut mir einfach für sie mega leid. Jetzt ist sie vier Jahre alt und verlangt noch nicht aktiv mehr Kontakt zu ihm. Doch sie wird älter. Er wird später an Elternabenden in der Schule fehlen, an Aufführungen. Sie wird sehen, wie ihre Freundinnen liebevolle Väter haben, die für sie da sind. Sie wird sich vielleicht die Schuld daran geben, dass ihr Vater sich so wenig interessiert. Vielleicht wird sie sich fragen, ob er sie nicht liebt. Ich weiss nicht, wo das hinführt. Kürzlich hat er gesagt, er sei wohl kein so guter Vater, er werde es Nora später mal erklären.»
**Die Namen der Betroffenen sind anonymisiert*
Als Quereinsteigerin in den Journalismus schreibt Anita Zulauf erst für die «Berner Zeitung», die Migrationszeitung «Mix», nun bei «wir eltern» und als freie Journalistin bei dem Kulturmagazin «Ernst». Sie mag Porträts und Reportagen über Menschen-Leben und Themen zu Gesellschaft und Politik. Als Mutter von vier Kindern hat sie lernen müssen, dass nichts perfekt, aber vieles möglich ist.