Lügen
Wenn das Kind lügt
Der lockere Umgang mit der Wahrheit gehört zur kindlichen Entwicklung. Wie Eltern zwischen unbedeutender Flunkerei und ernster Lüge unterscheiden und wie sie ihr Kind darin bestärken, offen und ehrlich zu sein.
Jetzt bloss nicht lachen! Das denkt sich Esther Thieme, als ihr dreijähriger Sohn Tristan mit ernster Miene behauptet, er habe nicht mit der Topfpflanze gespielt. «Habe ich nicht, Mama!», sagt der kleine Schwindler. An seinen Fingern klebt Erde, die beige Hose ist mit schwarzen Flecken übersät. «Wirklich!», fügt Tristan energisch hinzu. Seine Mama schmunzelt.
Eltern mögen keine Lügen
Nicht alle Eltern reagieren so entspannt und amüsiert wie Thieme. Einige sehen die Flunkereien ihrer Kinder ganz und gar nicht gerne – egal in welchem Alter der Nachwuchs sich gerade befindet. Andere fragen sich gar, ob aus ihren kleinen Schwindlern noch ehrliche Menschen werden können.
Besorgte Eltern können aufatmen: Flunkern gehört zum kindlichen Entwicklungsprozess – und das Ehrlichsein können sie den kleinen Märchenerzählern vermitteln.
Warum lügen Kinder?
Dafür gilt es erst einmal zu verstehen, wieso Kinder generell schwindeln und lügen. «Das tun sie aus verschiedenen Gründen», sagt die Psychologin Marielle Donzé vom Elternnotruf in Zürich. «Der häufigste Grund, den wir in unserer Arbeit erleben, ist die Angst vor der Reaktion der Eltern.» Etwa wenn das Kind im Haushalt etwas kaputtmacht oder in der Schule eine schlechte Note bekommt.
Wann wird das kindliche Lügen zu einem Problem, das fachliche Hilfe braucht?
♦ Sobald Eltern sich mit den Schwindeleien überfordert fühlen und für sie Leidensdruck entsteht, sollten sie Rat einholen. Fachlicher Rat steht ihnen telefonisch, online oder auch persönlich zur Verfügung. Auch der Rat anderer Eltern kann hilfreich sein.
♦ Wird das Lügen des Kindes zwanghaft, sollten Eltern ebenfalls fachliche Hilfe einholen. Dahinter kann sich eine Entwicklungsstörung verbergen, die
sich unter anderem in Lügen äussert.
Flunkern nach Alter
2–4 Jahre
Kinder beginnen zu schwindeln. Diese Flunkereien sind oftmals ungeschickt und simpel, sodass Eltern sie gleich durchschauen.
4–8 Jahre
Die Kinder flunkern und können dabei ernst bleiben, können ihre Flunkereien jedoch für gewöhnlich nicht lange aufrechterhalten, etwa weil sie schliesslich versehentlich die Wahrheit sagen.
9–12 Jahre
Die kognitiven Fähigkeiten der Kinder sind so weit entwickelt, dass sie Flunkereien auch über längeren Zeitraum beibehalten können. Allerdings ist in diesem Alter auch ihr Gespür für richtig und falsch so weit ausgeprägt, dass die Kinder wissen, dass sie sich nach dem Flunkern unwohl fühlen werden. Das hält viele vom Schwindeln ab.
Lügen um Vorteile zu erschwindeln
Kinder schwindeln auch, um die eigenen Wünsche durchzusetzen. Beispielsweise um ein paar Kekse mehr zu bekommen oder länger am Computer spielen zu dürfen. Manche erfinden Geschichten, weil sie sich mehr Anerkennung und Lob wünschen.
«Ich habe gestern fünf Saltos auf dem Trampolin geschafft!», erzählt die füllige Mirja. Ein Salto ist der Neunjährigen in Wirklichkeit noch nie geglückt. Wenn das Selbstvertrauen des Kindes gering ist oder es sich kaum beachtet fühlt, dient Flunkern auch dazu, sich bei Mama und Papa interessant zu machen.
Aber sollen die Eltern das Verhalten noch als unbedeutende Flunkerei ansehen – oder als eine Lüge, auf die sie reagieren müssen? Das hängt unter anderem vom Entwicklungsstand der Heranwachsenden ab. Kinder bis etwa drei Jahre kennen die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fantasie nicht. Sie erzählen Dinge, die nicht stimmen und sind sich der vermeintlichen Wahrheit ganz sicher. Wie der dreijährige Tristan.
Schwindeln als Experiment
Dagegen setzt bewusstes Schwindeln beachtliche kognitive Fähigkeiten voraus: Das Kind muss zwischen sich und anderen Personen unterscheiden können. Es muss sich seiner eigenen Gedankengänge bewusst sein und verstehen, dass andere Menschen andere Gedanken und Ziele haben. Ausserdem muss sich ein kleiner Schwindler in andere hineinversetzen können, um zu wissen, was sie von ihm hören möchten – und was nicht. Er bedarf all der Fähigkeiten, die Psychologen als Theory of Mind bezeichnen. Diese entwickeln sich im Alter von etwa drei bis fünf Jahren. In dieser Phase sind Schwindeleien sowohl ein erster Ausdruck als auch eine Erprobung der eigenen Identität.
«Es ist normal, dass die Heranwachsenden experimentieren und sich ausprobieren», sagt der Entwicklungspsychologe Luciano Gasser von der Pädagogischen Hochschule Luzern.
«Eltern müssen sich keine Sorgen machen, wenn Kinder in diesem Alter hin und wieder flunkern.»
Wert von Ehrlichkeit vermitteln
Aber die Erwachsenen sollten diese Flunkereien nicht ignorieren – sondern sie als günstige Momente betrachten, um dem Kind den Wert von Ehrlichkeit zu vermitteln. Ertappen sie den Märchenerzähler auf frischer Tat, sollten sie ihn darauf ansprechen. Bei kleineren Kindern können sie humor- und fantasievoll reagieren. Etwa das Kind nach dem unsichtbaren Freund fragen, der angeblich den letzten Keks stibitzt hat.
Dabei sollten sie vermitteln: Schwindeln ist nicht nötig. Sie können beispielsweise sagen: «Du magst etwas Unerwünschtes oder Verbotenes gemacht haben – aber kannst es immer offen sagen.» Gewöhnt sich das Kleinkind daran, dass Schwindeln unnötig und Ehrlichkeit willkommen ist, wird es mit zunehmendem Alter generell seltener lügen.
Bei Kindern ab etwa vier bis fünf Jahren sollten die Eltern sich mehr Zeit für ein Gespräch nehmen. Etwa am Wochenende, falls zwischendurch nicht genug Ruhe für eine ruhige Unterhaltung herrscht. Bei diesem Gespräch sollten sie respektvoll bleiben: Sie können das kindliche Verhalten kritisieren, aber nicht das Kind. Den Heranwachsenden gar als Lügner zu beschimpfen ist tabu. Solches Schimpfen verletzt das Kind. Es schämt sich – und lernt ähnlichen Situationen aus dem Weg zu gehen, indem es nicht weniger, sondern womöglich mehr flunkert. «Deshalb sollten Eltern die Schwindelei möglichst nicht dramatisieren», rät Donzé vom Elternnotruf.
Gründe für das Schwindeln herausfinden
Aber das heisst nicht, dass Mutter und Vater ihren Zorn oder ihre Enttäuschung verstecken müssen. Die Eltern können dem Kind sagen: «Ich bin zwar ein wenig enttäuscht – aber trotzdem sehr froh, dass du uns die Wahrheit gesagt hast.» Das empfiehlt die Sozialpädagogin Barbara Wüthrich von der Pro Juventute Elternberatung.
Im gemeinsamen Gespräch sollten Eltern den Gründen des Schwindelns nachgehen. Wieso will unser Kind nicht die Wahrheit sagen? Dabei könnten die Erwachsenen fragen: «Hast du Angst, dass wir dich bestrafen?» oder «Hast du dich in der Situation überfordert oder ängstlich gefühlt und deshalb geschwindelt?» – «Weil Kinder ihre Gefühle noch nicht problemlos kommunizieren können, sind solche Fragen eine praktische Hilfestellung, um die Ursachen des Fabulierens herauszufinden», sagt Wüthrich.
Ernste von harmlosen Lügen unterscheiden
Wissen die Eltern, wieso ihr Kind geschwindelt hat, können sie entscheiden, ob sie etwas unternehmen müssen. Hat es beispielsweise einen Grund erfunden, um nicht mit dem Nachbarsburschen zu spielen, weil dieser es bedroht hat? Oder flunkerte es lediglich aus der Situation heraus, ohne ernste Ursachen? Ernste von harmlosen Lügen unterscheiden zu können, ist ein Ziel des Gesprächs.
Ein anderes Ziel lautet: Eltern sollten deutlich machen, dass Wahrheit wichtig und positiv ist. Sie können zum Beispiel betonen, dass Ehrlichkeit gegenseitiges Vertrauen fördert – und so die Beziehung zwischen dem Kind und ihnen noch stärker macht. «Nicht zu lügen ist auch ein Zeichen von Respekt», sagt Donzé und rät Mama und Papa, solche positiven Seiten von Ehrlichkeit zu betonen.
Gleichzeitig sollten Eltern ihren Nachwuchs durchaus auf die Nachteile des Lügens aufmerksam machen. Durch Schwindeln und Lügen, so ein denkbares Argument der Eltern, mache es sich das Kind unnötig schwer – weil es allein mit einem Problem kämpft, bei dem Mama und Papa ihm sehr gerne helfen würden.
Anschliessend können Eltern im Gespräch mit dem Kind überlegen: Wie kann es den Fehler, den es mit seinem Schwindeln verheimlichen wollte, wiedergutmachen? Kann es die Vase der Nachbarn, die es kaputtgemacht hat, aus seinem Taschengeld ersetzen?
«Eltern können einerseits ihren Nachwuchs fragen, wie er die Situation korrigieren möchte», rät Wüthrich, «andererseits können sie ihm auch Optionen vorschlagen.» Sieht das Kind, dass es seine Fehler aus der Welt schaffen kann,
wird es langfristig selbstbewusster mit ihnen umgehen. Schwindeleien, die der Angst und der Unsicherheit entspringen und diese Fehler vertuschen sollen, werden dadurch weniger.
Weisse Lüge aus Empathie?
Doch was tun bei Schwindeleien, die im Grunde gut gemeint sind? Etwa wenn das Kind ein Geschenk der Oma nicht mag – ihr aber sagt, es gefalle ihm sehr gut. Das schützt die Gefühle und die Beziehung zur Grossmutter, ist aber streng genommen eine Lüge.
«Diese ‹weisse› Lüge kann als soziale Kompetenz und Empathie betrachtet werden», sagt Luciano Gasser. «Da müssen die Eltern selbst entscheiden, ob sie diese soziale Fähigkeit ihres Kindes oder aber die rigorose Ehrlichkeit fördern.» In diesem Fall müssen Eltern für sich selbst klären: Wo sollen wir die Grenze ziehen zwischen erwünschtem und unerwünschtem Schwindeln?
Kind schaut sich unehrliches Verhalten ab
Die Antwort finden die Erwachsenen ausgehend von ihrem eigenen Verhalten: Eltern, die stets ehrlich sind – ohne auf die Gefühle anderer Rücksicht zu nehmen – werden ihrem Nachwuchs kaum vermitteln können, dass er in manchen Situationen zum Wohle der Verwandten flunkern soll. Denn das Kind schaut sich ehrliches und unehrliches Verhalten auch von den Eltern ab. Über ihre Vorbildfunktion prägen Mutter und Vater den Nachwuchs – und können so bewusst auch seine Ehrlichkeit fördern.
Auch der Erziehungsstil prägt den kindlichen Umgang mit der Wahrheit. Ein Elternhaus, das rigorose Regeln vorschreibt, viel Kontrolle ausübt und dem Kind kaum Freiraum lässt, führt zu Schwindeleien. Der Heranwachsende lügt, um Aufmerksamkeit für seine Bedürfnisse zu bekommen.
Ein Elternhaus, das offene Gespräche und respektvollen Austausch favorisiert, begünstigt die Wahrheit. Hier merkt das Kind: «Meine Ehrlichkeit wird nicht bestraft, sondern hilft mir, Fehler und Probleme aus der Welt zu schaffen.» So vermitteln Eltern ihrem Kind die entscheidende Lektion: Es lohnt sich viel mehr die Wahrheit zu sagen als zu lügen.
«Jede Entwicklungsphase des Kindes basiert auch auf dem Machen von Fehlern – dazu gehören ebenfalls moralische Fehler», sagt Gasser. Doch erlebt das Kind die Ehrlichkeit und Wahrheit in seinem Elternhaus als etwas Positives, wird es auch ehrlich in die Welt hinausgehen.
Anna Gielas schreibt als Wissenschaftsjournalistin für deutsch- und englischsprachige Medien, u.a. auch für «Die Zeit» und «The Guardian». Sie mag es, grossen und kleinen Erziehungsfragen auf die Spur zu gehen – am liebsten anhand neuster Beobachtungen aus der Entwicklungspsychologie und den angrenzenden Disziplinen. Ausserdem hat sie eine Schwäche für schlaue und schön gemachte Kinderbücher.