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Vorbilder
Wen sich Kinder zum Vorbild nehmen
Niemand geht ohne Vorbilder durchs Leben. Doch wer beeinflusst eigentlich unsere Kinder – ausser wir Eltern selbst? Müssen Eltern stets vorbildlich sein? Welche Macht hat der Influencer im Handy des Kindes? Wie sucht es sich seine Freunde aus? Erkenntnisse und Antworten.
Nach dem eigenen Vorbild befragt, kommen die buntesten Antworten. Was dem einen Ghandi, ist dem anderen Bob der Baumeister. Es kann aber auch Oma sein, wegen ihres grossen Herzens. Kim Kardashian, nicht wegen ihres grossen Herzens. Pippi Langstrumpf, der Lehrer oder Holger, der Freund aus Schülertagen. Doch fast ebenso oft kommt ein abweisendes: «Vorbild? Hab ich nicht» oder «So was brauch ich nicht».
Doch kann das stimmen? Kann der Mensch überhaupt lernen, ohne sich an anderen Personen zu orientieren, sie zu bewundern, zu imitieren und nachzuahmen? Nein, kann er nicht. Mag es auch wunderbar wild und unabhängig klingen, sich die eigene Identität lediglich aus den Tiefen des Selbst zusammen
geklöppelt zu haben, falsch ist es dennoch.
- Lernen am Modell
- Warum Eltern immer Vorbild sind
- Idol versus Vorbild
- Teenies schauen zu Eltern auf
- Wie reagiert das Umfeld?
- Einfluss der Freunde
- Wer zum Freund wird
- Influencer als Freunde
- Vorbilder im Netz
Kinder lernen am Modell
Denn jeder Mensch, ja, vermutlich auch jedes Tier, begegnet, kaum geboren, anderen Lebewesen der gleichen Spezies, beobachtet sie und zieht daraus Schlüsse. Lernen am Modell – anders geht es nun mal nicht, das Heranwachsen. Primaten haben deshalb sogenannte Spiegelneuronen. Diese Nervenzellen im Gehirn sorgen dafür, dass kleine Äffchen die Zunge herausstrecken, wenn man es ihnen vormacht; Menschenbabys weinen, sobald das Gegenüber weint und sorgen auch dafür, dass Gähnen ansteckend ist.
Beobachtetes Verhalten wird gespiegelt, daher der Name. Ohne den angeborenen Mechanismus: hinschauen, abgucken, nachmachen – kein Sprechen- und Laufenlernen, keine Empathie, keine Werte, keine Entwicklung. Und das ist die Krux für Mütter und Väter. Ob sie wollen oder nicht, sie sind die ersten Vorbilder ihrer Kinder. Es ist genau wie mit Paul Watzlawiks zu Tode zitiertem Satz: «Man kann nicht nicht kommunizieren.»
Warum Eltern immer Vorbild sind
Eltern können nicht nicht Vorbild sein. Man ist es. Auch wenn man gerade nicht vorbildlich ist. Ich zum Beispiel bin, na, nennen wir es «mitteilsam», rege mich mit Vergnügen auf und explodiere beim Erziehen schon mal in den schillerndsten Farben. Temperamentvoll, sagt man dazu wohl.
Pädagogisch wertvoll ist es nicht. Ich weiss das, weil ich Pädagogik studiert habe und da wurde das acht Semester lang wirklich nicht ein einziges Mal empfohlen. Meine Tochter dagegen ist ruhig und gelassen. Ein Fels in der Brandung. Ach was, ein Fels in der Springflut. Weltuntergänge aller Art perlen an ihr ab. Wie kann das sein? Von mir hat sie das nicht. Vom Vater auch nicht. Hätte nicht, glaubt man an die Wirkmacht des Vorbilds, wenigstens ab und an ein irgendwie sizilianisch geartetes Moment in ihrem Verhalten aufscheinen müssen? War ich etwa ein abschreckendes Beispiel? Aber müssen Eltern überhaupt immerzu gute Vorbilder sein? Hat ein Bild ohne Schatten nicht einfach keine Tiefe?
«Zum Glück funktioniert Transmission nicht so simpel», beruhigt Peter Rieker, Professor für Erziehungswissenschaften an der Uni Zürich. «Das wäre ja schlimm, wenn Mütter und Väter perfekt sein müssten.» Vielmehr, erklärt er, sehe und spüre ein Kind von Anfang an das Gesamtpaket, an dem es sich orientieren und aus dem es selbstständig auswählen würde. «Nehmen wir die Blues Brothers», erläutert er der verdutzten Zuhörerin. «Wir Eltern lieben an dem Film die grossartige Musik, unsere Söhne das grausliche Benehmen von Jake und Elwood. Zum Glück verhalten sie sich aber selbst – meist – sehr anständig.»
Idol versus Vorbild
Soll heissen, ein Kind erlebt ein Ganzes, was davon jedoch genau die Aufmerksamkeit weckt, welcher Aspekt des Gesehenen interessant erscheint, positiv bewertet und gegebenenfalls nachgeahmt wird, das ist unwägbares Gelände. Einfluss allerdings hat, wie gross die Nähe zum Modell ist, wie stark die Sympathien, wie erfolgreich das beobachtete Verhalten. Deshalb ist ein Idol, ein Held oder eine Ikone etwas anderes als ein Vorbild. Der Held steht unerreichbar auf einem Sockel, Idol und Ikone werden aus der Ferne angeschwärmt. Sie sind grandios. Fehler haben sie nicht.
Besser gesagt, die kennt man nicht. Wer weiss schliesslich, ob Shaqiri schnarcht, Mark Zuckerberg leere Craftbeer-Dosen sammelt oder Kylie Jenner ohne Photoshop und Schminke gar nicht aussieht wie Kylie Jenner. Bei Vater, Klassenkameradin und Opa hat man meist schon entdeckt, dass sie tatsächlich menschliche Schwächen haben, wie man selbst. Und partielle Ähnlichkeit ist ein wichtiges Kriterium für die Wahl eines Vorbilds. Ab einem gewissen Alter.
Mädchen und Jungen zwischen 6 und 13 Jahren nennen, laut KIM-Studie des «Medienpädagogischen Forschungsverbands», noch zu 39 Prozent Film- und Fernseh-Stars als Vorbild. Jedes vierte Kind schwärmt für Fussball- oder Tennishelden und jedes fünfte für irgendwen aus der Musikbranche. Dass all diese Roger Federers, Neymars und Ariana Grandes in der Realität vermutlich weniger glamourös und zweitens unerreichbar sind, ist Kindern auf dieser Entwicklungsstufe noch nicht klar. Millionen verdienen? Auf dem Mars spazieren gehen? Prinzessin werden? Why not? Noch scheint alles möglich.
Teenies schauen zu Eltern auf
Bei Teenagern sieht es schon anders aus. In einer repräsentativen Umfrage des Geschichtsmagazins «PM History» nannten 65 Prozent der Teenager ihre Mutter oder ihren Vater als wichtigstes Vorbild, gefolgt, mit 58 Prozent, von «Freunden». Unter jungen Erwachsenen sind sogar 73 Prozent Fans von Mama und Papa.
Was aber macht jetzt das Vorbild mit dem Verhalten? Gilt Karl Valentins Bonmot «Wir brauchen unsere Kinder nicht zu erziehen, sie machen uns sowieso alles nach»? Bedeutet Erziehung, laut Friedrich Fröbel, wirklich «Beispiel und Liebe und sonst nichts»? Ist «Vorbild» der pädagogische Supertrumpf? Oder eher eines von den 3000 Teilen im Persönlichkeitspuzzle?
Darüber wird derzeit wenig geforscht, vielleicht weil dem Wort Vorbild etwas miefig Spiessiges anhaftet. Etwas von «nimm dir ein Beispiel an», von Klassenprimus und «richtigem Umgang». Vielleicht steht der Begriff auch im Ruch des Autoritären: sich an jemandem orientieren, bewundern, nacheifern … Das knirscht in modernen Ohren. Schliesslich wollen wir alle und sollen unsere Kinder alle unabhängig denken, frei, kreativ und zufrieden mit sich selbst durch die Welt gehen. Aufschauen zu irgendwem und das pädagogische Gebot, stets miteinander auf Augenhöhe zu sein, das passt nicht zusammen. Kurz: Dem Vorbild weht derzeit eine steife Brise entgegen. Wissenschaftliches zum Lernen am Modell ist daher oft schon ordentlich runzelig und betagt, aber nicht grundverkehrt.
Albert Bandura bewies in seinen berühmten Bobo-Doll-Studien der 60er- und 70er-Jahre: Menschen lernen sogar dann aus Beobachtung, wenn sie selbst nicht aktiv beteiligt sind. Bandura zeigte Kindern im Vorschulalter einen Film, in der irgendwer die arme Puppe Bobo tritt, schlägt, knufft und beschimpft. Anschliessend werden verschiedene Szenarien kreiert: Einmal wird der Puppen-Rambo von einer dazu kommenden Person für sein Verhalten gelobt, einmal getadelt. Ergebnis: Die Kinder waren erstens anschliessend beim Spielen aggressiver und malträtierten ihre Puppen häufiger, zweitens gerieten vor allem diejenigen Kinder ausser Rand und Band, in denen die Puppen-Prügel-Person gelobt worden war, während die Kinder der Prügler-fängt-sich-einen-Rüffel-ein-Gruppe seltener zu Puppen-Quälern wurden.
Wie reagiert das Umfeld?
Banduras Experimente waren damals, zu Beginn des Fernseh-Zeitalters, bahnbrechend, zeigten sie doch erstmals, dass Filme Wirkung entfalten. Und sie zeigten: Komplexes Lernen funktioniert nicht nach dem Reiz-Reaktions-Schema, sondern dazwischen ist ein Filter des Nachdenkens geschaltet.
Banduras Studien sind inzwischen vielfach kritisiert worden, und ein bisschen angejahrt sind sie auch. Trotzdem machen sie klar: Gesehenes tropft an Kindern nicht ab, wie Wasser an der Ente; und – die Frage «Wie gut kommt das Verhalten in meinem Umfeld an?» wird stets miteinbezogen, bevor eine Person zum Vorbild aufsteigt und deren Verhalten nachgeahmt wird. «Ein Effekt, den wir auch bei unseren Studien an gewalttätigen rechtsradikalen jungen Männern feststellen konnten», sagt Peter Rieker. Keiner der Männer war selbst Kind rechter Gewalttäter, doch viele von ihnen hätten daheim diese schwefelige Unterströmung gespürt, jenes toxische Gemisch aus Angst vor Unbekannten, Fremdenfeindlichkeit und Sündenbocksuche. Und sich dann, in ihren Augen konsequent prestigeheischend, nach dem Motto verhalten: «Was ihr denkt, setzen wir in Taten um.»
Die Atmosphäre machts. Ja, aber können wir uns als so weit okaye Eltern jetzt gechillt zurücklehnen? Liebevoll zu den Kindern gewesen? Check. Bücher gelesen UND vorgelesen? Check. Mit dem Partner leidlich zivilisiert gestritten und in der Nase nur heimlich gebohrt? Alles check. Ist das Kind jetzt durch unser leuchtendes Beispiel gegen schlechte Einflüsse imprägniert wie Siegfried durchs Drachenblut? Nicht ganz. Lindenblätter gibt es auch hier.
Einfluss der Freunde
Denn der überschaubare Kokon der Familie bricht spätestens mit sechs Jahren auf. Dann kommen die Freunde dazu, genauer: erstmals erwacht der Wunsch, von diesen Gleichaltrigen gemocht und akzeptiert zu werden.
Jüngere Kinder sind von ihrem Entwicklungsstand her noch egozentristisch genug, um zu finden: Der Stärkste von allen? Klar, ich! Die Schlauste? Ich! Mittelpunkt des Universums? Ich, wer sonst.
Doch mit Kindergarten– oder Schuleintritt wird die Wahrnehmung differenzierter, das Kind lernt: Es gibt nicht nur eine einzige Sichtweise, sondern viele verschiedene. Der Einfluss der Eltern schrumpft. Was Freunde und Freundinnen finden, denken, machen – das ist es, was jetzt zählt.
Die amerikanische Psychologin Judith Rich Harris stellte 1995 gar die steile These auf, Eltern seien machtlos gegenüber dem Einfluss der Freunde. Vater und Mutter vererbten ihre Gene, was aber wirklich präge, seien Vorbild und Einwirkung der Gschpänli. Als Beleg führt die Wissenschaftlerin den Spracherwerb von Einwandererkindern an: Kaum in der Schule eignen sie sich die dort von Gleichaltrigen gesprochene Sprache an, die eigene Muttersprache versandet auf Dauer oft als Zweitsprache.
Wer zum Freund wird
Ob Harris' Forschungen tatsächlich bedeuten, dass Eltern als Vorbild Insolvenz anmelden können, ist umstritten. «Viele Untersuchungen legen vielmehr nahe, dass Kinder und Jugendliche sich Freunde suchen, die zu ihnen passen», relativiert Peter Rieker. Sprich: Gleich und Gleich gesellt sich gern. Und welche Freunde das Kind nun «passend» findet, ist selten meilenweit von dem entfernt, was das Elternhaus mitgegeben hat. Der Freundeskreis fungiert als Verstärker von Vorhandenem, als eine Art Brandbeschleuniger.
«Gleich» – das scheint Zauberwort Nummer 1 für die Wahl des Vorbilds zu sein. Ein Grund, weshalb Genderforschende mehr weibliche Führungskräfte, toughe Filmheldinnen und Professorinnen als Role-Model für Mädchen fordern und Primarlehrer als männliche Vorbilder für die Jungen dringend gesucht werden.
«Aber selbst dieser Zusammenhang ist nicht so simpel», sagt Rieker. Denn ob stets «männlich oder weiblich» den Ausschlag dafür gebe, ob eine Person für ein Kind oder einen Heranwachsenden als menschliches Leuchtfeuer der Orientierung wirke, dahinter dürfe man getrost ein Fragezeichen machen. «Studien in Primarschulen jedenfalls belegen das nicht. Ob eine Lehrperson gemocht, bewundert und als kompetent erlebt wird, war jedenfalls unabhängig davon, ob es sich um einen Lehrer oder eine Lehrerin handelte.»
Influencer als Freunde
«Suchen» ist Zauberwort Nummer 2. Stets werden Vorbilder selbstständig, ganz nach eigenem Geschmack ausgesucht. Aufpfropfen lassen sie sich nicht. Heute allerdings sind viele der ausgesuchten Idole ihrer Kinder den Eltern völlig unbekannt. Wofür sie stehen, ist es auch. Hingen die Angeschwärmten früher als Poster und Bravo-Starschnitt unübersehbar für Mama und Papa über dem Bett, sind sie nun ins Handy verschwunden. Die Influencer von jetzt ersetzen die Boygroups von einst. Massenhysterie, Fan-Gedrängel und monatliche Einkünfte der Bejubelten von 100 000 Franken aufwärts inklusive.
60 Prozent der Schweizer zwischen 13 und 30 Jahren, so eine Untersuchung der Universität Luzern, folgt aktiv im Netz Influencern, der Rest stolpert mehr oder weniger freiwillig darüber. «53 Prozent dieser Follower gaben zu, schon einmal von einem Influencer zu einem Kauf animiert worden zu sein», berichtet Psychologin Melanie Clegg.
«Influencer sind extrem einflussreiche Vorbilder für Teenager.» Warum? Weil sie wie beste Freunde sind: Etwa gleich alt, per Smartphone stets verfügbar, man kann ihnen schreiben, was sie tun kommentieren, sie teilen Interessen und sie wirken nah und vertraut. Schliesslich darf man ihnen zuweilen beim Zähneputzen oder Aufwachen, beim Kochen, Basteln oder Ferienmachen zusehen.
Vorbilder im Netz
Undenkbar noch vor einer Generation. Bowie im Bad? Nie gesehen. Und wie sollen nun Eltern auf die Vorbild-Konkurrenz im Netz reagieren? «Interesse zeigen», empfiehlt Eveline Hipeli, Medienpädagogin an der PH Zürich. «Mit dem Kind im Gespräch bleiben über das, was sie sich anschauen. Das geht allerdings nur, wenn Mütter und Väter nicht ständig sämtliche Online-Kanäle verteufeln.» Besser sei es nachzufragen, was eigentlich an Bibi, Chaosflo44, Dagi Bee und Co so toll ist.
Nur dann bestehe die Möglichkeit, offen miteinander zu reden: über Wunsch und Wirklichkeit, Konsum, Körperformen, Photoshop, Porno – und das eigene Leben, so im Vergleich. Vielleicht wird dann das ein oder andere Internet-Vorbild entzaubert. Und vielleicht, weil so beispielhaft aufgeschlossen, tolerant und interessiert, strahlt dann wieder, tataaa! Mutters Stern am Vorbild-Himmel, voll im Zenit, hell wie die Venus, stets den Weg weisend und ... Reaktion der Tochter: «Vergiss es, Mama. Lieb hab ich dich trotzdem.» Immerhin.
Caren Battaglia hat Germanistik, Pädagogik und Publizistik studiert. Und genau das interessiert sie bis heute: Literatur, Geschichten, wie Menschen und Gesellschaften funktionieren – und wie man am besten davon erzählt. Für «wir eltern» schreibt sie über Partnerschaft und Patchwork, Bildung, Bindung, Erziehung, Erziehungsversuche und alles andere, was mit Familie zu tun hat. Mit ihrer eigenen lebt sie in der Nähe von Zürich.