Pornografie
Was macht Pornokonsum mit der Beziehung?
Viele schauen Pornos, auch wenn sie in einer Beziehung sind – vor allem Männer. Das kann zu Schwierigkeiten führen. Wie können Paare einen Umgang damit finden, der für beide stimmt?
Auch wenn wir wenig darüber sprechen und es vielen nicht bewusst ist: Die Pornografie hat sich in den vergangenen rund 25 Jahren übers Internet ohne viel Aufheben in unseren Alltag geschlichen und darin einen festen Platz eingenommen. Ob auf dem Sofa, im Büro oder doch lieber im privaten Kämmerlein, dank dem Smartphone sind die heissen Szenen jederzeit und überall verfügbar. Nicht einmal die Hürde der Peinlichkeit gibt es noch, die früher beim Filmausleihen genommen werden musste.
Damit klar ist, was wir meinen, wenn wir von Pornografie reden: Sie ist die «sprachliche, bildliche Darstellung sexueller Akte unter einseitiger Betonung des genitalen Bereichs und unter Ausklammerung der psychischen und partnerschaftlichen Aspekte der Sexualität» – so die Definition des Dudens. Es geht also nicht um erotische Wandkunst aus der Steinzeit oder um fast schon keusch anmutende Sexheftli im Stil des Playboys. Sondern um Inhalte, wie sie auf Internetseiten wie Youporn, Pornhub oder Erotikgeek abrufbar sind, wo keine sexuelle Vorliebe, kein Fetisch zu abgefahren ist, um nicht in einer Rubrik bedient zu werden.
«Wenn jemand Pornos konsumiert, bedeutet das primär, dass er oder sie interessiert ist an Sexualität. Grundsätzlich ist das gut», sagt Notburga Fischer, Paarund Sexualtherapeutin in Bern sowie Autorin des 2018 erschienenen Buchs «Reifestufen der sexuellen Liebe – wie Herkunft prägt und intime Beziehungen (dennoch) gelingen».
Eine positive Ausgangslage also. Natürlich sind wir froh, dass Lust, dass sexuelles Begehren, Sinnlichkeit und Erotik in unserer aufgeklärten Gesellschaft nicht mehr pauschal in die Sündenecke gestellt werden. Wir könnten also cool und verständnisvoll reagieren, wenn sich der Partner oder die Partnerin hin und wieder am Bildschirm ein paar Minuten durch die filmgewordenen Pornofantasien fremder Menschen klickt und dazu masturbiert. Könnten wir, es gelingt uns aber nur selten.
Unterschiedlicher Konsum
Ursina Brun del Re (40) ist Paartherapeutin und Sexologin in Zürich. In ihrem Beratungsalltag trifft sie täglich auf Menschen, die Schwierigkeiten im Umgang mit Pornografie in der Beziehung haben. «Weil ich wenig brauchbare Forschung darüber fand, entschied ich mich, selber zu forschen und die Grundlage für meine therapeutische Praxis zu erarbeiten», sagt Brun del Re. Für ihre Doktorarbeit an der Uni Zürich über den Einfluss des Pornografiekonsums auf die Paarsexualität befragte sie 1091 Personen. Dabei ist herausgekommen, dass 93 Prozent der Männer und 57 Prozent der Frauen in den vergangenen 12 Monaten Pornografie geschaut haben – also fast alle Männer und mehr als die Hälfte der Frauen. 40 Prozent der Befragten gaben an, mehrmals täglich (3 Prozent), drei- bis siebenmal pro Woche (14 Prozent) oder ein- bis zweimal pro Woche (23 Prozent) zu schauen. Die restlichen 60 Prozent taten es weniger als wöchentlich. «Auffällig ist, dass Frauen viel häufiger einen moderateren Konsum haben als Männer», sagt Brun del Re. «Weitere Unterschiede sind, dass Porno für Männer eine relativ schnelle Sache ist, oft nur ein fünfminütiger Stimulus. Frauen hingegen haben einen höheren Qualitätsanspruch an die Filme; harte Sachen und Gewalt interessieren sie viel weniger, Handlung und Romantik sind wichtiger.»
Fakt ist: Porno ist Mainstream geworden. Heute gibt es zwar eine Offenheit gegenüber Pornografie, «der Umgang damit ist aber nicht einfach, auch für junge Paare nicht. Es löst etwas aus in einem, wenn man erfährt, dass der Partner oder die Partnerin Pornos schaut», sagt Brun del Re. Viele Frauen empfinden es als eine Art Untreue und fühlen sich in ihrem Selbstwert und in ihrer sexuellen Selbstsicherheit auf die Probe gestellt. Sie fragen sich, ob der Mann sie mit den Pornodarstellerinnen vergleicht und befürchten, bei diesem Wettstreit keine Chance zu haben. Das gilt besonders für die Monate nach der Geburt des Kindes, wenn sich Frauen hormonell bedingt und weil sich ihre Körperformen verändert haben, weder besonders lustvoll noch sexy fühlen. Andere rümpfen die Nase über geschmacklose Pornoästhetik, lehnen die Gewaltdarstellungen ab oder kritisieren die krasse Objektivierung der Frau. Eine Frau, die sich bereit erklärt hatte, mit «wir eltern» ein Gespräch über das Thema Porno und Beziehung zu führen, sagte in letzter Minute ab: «Mich ekelt sein Pornokonsum so an, ich schaff es gerade nicht. Muss versuchen, mit den Kindern in meiner Energie zu bleiben.»
Die Tatsache zu akzeptieren, dass das Gegenüber sich von anderen Personen sexuell erregen lässt, mit deren sexueller Performance man in der Regel nicht mithalten kann oder will, ist nicht einfach. Weder für Frauen noch für Männer.
Was ist Pornosucht?
Laut einer Studie der «Zeitschrift für Sexualforschung» stuft jeder dritte Mann seinen Pornokonsum als zu hoch ein. Fachleute gehen davon aus, dass fünf bis zehn Prozent der Männer pornosüchtig sind, also nicht mehr wirklich steuern können, wann, wie häufig oder in welchem Umfeld sie Pornos schauen. Wer Pornos regelmässig dazu benutzt, sich zu entspannen, Stress abzubauen, Langeweile oder Frust zu überwinden, läuft Gefahr, andere Strategien zur Wiederherstellung des Wohlbefindens zu verlernen. Wie bei anderen Süchten auch vernachlässigen Pornosüchtige nicht selten ihre Partnerschaft, die Familie, den Freundeskreis und sogar die Arbeit. «Frauen sind von Pornosucht kaum betroffen», sagt Ursina Brun del Re. Die Sexologin benutzt das Wort Sucht allerdings nicht gern: «Es enthält eine starke Wertung und dient oft dazu, den Konsum zu dramatisieren.»
Verheimlichen schadet
Auch den Männern ist meist nicht ganz wohl bei der Sache – so wie Claudio. Sie versuchen deshalb, ihren Konsum zu verstecken, tun es heimlich und fühlen sich schuldig dabei. In flagranti ertappt zu werden, gehört zu den weniger prickelnden Erlebnissen im Leben eines Mannes.
Für Ursina Brun del Re gibt es nur einen Weg raus aus den unguten Gefühlen: Ans Licht mit ihnen, über Porno und den eigenen Konsum reden, auch – oder gerade ganz besonders – in der Beziehung. «Es ist extrem hilfreich, wenn man sich darüber austauscht», sagt die Paartherapeutin. «Vielen fällt es allerdings immer noch schwer, über Sex zu reden, denn der Sexualität haftet nach wie vor etwas Tabuisiertes an.» Besonders heikel ist das Thema Solosexualität, zu der Pornokonsum in der Regel gehört. Brun del Re empfiehlt ihren Klientinnen und Klienten deshalb, gemeinsam einen Porno zu schauen. «Dabei kann die Frau dem Partner sagen, was die Bilder mit ihr machen, welche Gefühle und Befürchtungen sie auslösen. Er kann ihr erklären, wieso er so was schaut und vielleicht erfährt sie, dass er gar nicht alles machen will, was er am Bildschirm sieht, das kann entlasten», sagt die Sexologin. Voraussetzung ist eine beiderseitige Offenheit, das Gegenüber stehen lassen zu können, wie es ist.
Positive Einstellung hilft
Wer wagt, gewinnt, das zumindest zeigen Brun del Res Studienergebnisse. Wenn Männer ihren Pornokonsum verheimlichen und eine negative Einstellung dazu haben, wirkt sich das auch negativ auf die Zufriedenheit in der gemeinsamen Sexualität aus. Ebenso ist bei Frauen die sexuelle Zufriedenheit grösser, wenn Pornografie sein darf. «Mit ihrer Paarsexualität am Zufriedensten sind diejenigen Paare, die sich über ihre sexuellen Bedürfnisse, Wünsche und Grenzen austauschen und hin und wieder sogar gemeinsam einen Porno schauen», sagt Brun del Re. Es geht also darum, dem Sex, der genitalen Erregung, all diesen «juicy feelings» mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Nicht zuletzt auch, um den Schattenseiten, die Porno zweifellos hat, entgegenzuwirken.
Da ist zum Beispiel das Risiko der Abstumpfung. «Viele Männer merken, dass sie immer stärkere Reize, immer härtere oder extremere Bilder brauchen, um noch zum Orgasmus zu kommen», sagt Brun del Re. Dabei wird ausgeblendet, dass es echte Menschen sind, die bei oftmals zutiefst entwürdigenden Praktiken gefilmt werden, unter Arbeitsbedingungen, die meist zu wünschen übrig lassen Sein hässlichstes Gesicht zeigt Porno in der Sparte Kinderpornografie. Seit der Coronakrise hat der Konsum dieser illegalen Bilder dramatisch zugenommen, wie die «NZZ am Sonntag» im November 2020 berichtete.
Gefahr der Entfremdung
Die Gefahr besteht gerade bei Männern, dass sie immer tiefer in die Pornowelt abtauchen und das Gefühl für den eigenen Körper und die Realität verlieren. Dadurch kann es bei langjährigem Konsum zu Erektionsproblemen oder vorzeitigem Samenerguss kommen. «Der Mann kriegt die Bilder, die er seit seiner Jugend sieht, nicht mehr aus dem Kopf und auch die Frau wird beeinflusst», sagt Sexualtherapeutin Notburga Fischer. «Porno zeigt, wie man es macht, wie man sich bewegen, stöhnen und aussehen muss – vermeintlich! Das schafft Druck und führt zur Entfremdung von einem selbst.»
Notburga Fischer wünscht sich, dass weibliche und männliche Sexualität besser verstanden wird, damit sich Männer und Frauen wieder wirklich begegnen können. «Als Junge und später in der Beziehung fühlt sich der Mann von der Frau mit seiner nach aussen drängenden Sexualität oft nicht willkommen, nicht vollständig angenommen.» Genau das aber signalisiere die Pornodarstellerin dem Mann, wenn sie «nimm mich, fick mich» stöhne. Auf der anderen Seite hätten viele Frauen nicht auf natürliche Weise gelernt, dass es sicher ist, sich sexuell einem Mann zu öffnen. «Um den eigenen Körper zu erforschen und um herauszufinden, was einem gefällt in der Sexualität, ist es nie zu spät», sagt Fischer, die mit ihrem Mann Robert Fischer Seminare und Trainings auf der Basis der Sexual-Grounding-Therapie gibt, die eine wesentliche Ergänzung zu gängigen Paartherapien darstellt.
Damit die Paarsexualität durch den Pornokonsum nicht leidet, ist es also wichtig, die Pornowelt und das Reich der Fantasien hin und wieder zu verlassen und das «Abenteuer Realität» zu entdecken, wie Fischer sagt: «Wir können uns immer wieder aufs Neue fragen: Wer ist das überhaupt, mit dem ich zusammen bin? Wie ist es wirklich, ihr oder ihm zu begegnen, mit allem, was er oder sie ist?» Wirken Kopf, Herz und Körper zusammen, sind wir ganzheitlich, das gilt auch in der Sexualität. «Dann können im Bewusstsein Räume aufgehen, wo wir eine spirituelle Dimension berühren», sagt Notburga Fischer. Wer weiss, vielleicht ist eine solche Erfahrung berauschender als jeder Porno.
Veronica Bonilla wollte früher Fallschirmspringerin werden. Seit sie den freien Fall bei der Geburt ihrer Kinder erlebt hat, hat sich dieser Wunsch in Luft aufgelöst. Übergänge und Grenzerfahrungen faszinieren sie bis heute. Dabei liebt sie es, um die Ecke zu denken und sich davon überraschen zu lassen, was dort auftaucht. Und stellt immer wieder fest, dass ihr Herz ganz laut für die Kinder schlägt. Sie war bis 2022 auf der Redaktion fest angestellt, seither als Freie für das Magazin tätig.