Monatsgespräch Marco Caimi
«Vorwurfs-Pingpong ist sextötend»
Nach der Geburt eines Babys ändert sich vieles – auch die Sexualität. Der Männerarzt und Paartherapeut Marco Caimi trifft in seiner Männerpraxis auf überforderte Väter und verunsicherte Paare. Ein Gespräch über Geschlechterrollen, Treue und Tabus.
wir eltern: Das Thema Sexualität führt bei jungen Eltern oft zu Streit: Sie mag selbst Monate nach der Geburt des Babys nicht an Sex denken, er fühlt sich kaltgestellt. Widerspiegelt sich das in Ihrer Praxis?
Marco Caimi: Während der Schwangerschaft scheint fehlende Lust kein Thema zu sein – nach der Geburt hingegen schon. Dabei beschränken sich die Probleme nicht auf ein Zeitfenster wie das Wochenbett oder ein paar Wochen darüber hinaus. Die Durststrecke zieht sich oft über Jahre dahin. Rein empirisch wird es heftig, wenn ein drittes Kind hinzukommt, vor allem, wenn der Altersabstand aller drei Kinder relativ nahe ist. Dadurch erschöpfen häufig beide Eltern – für Sex bleibt einfach zu wenig Energie.
Väter durchlaufen während einer Schwangerschaft und Geburt weder Hormonbäder, noch haben sie mit einem veränderten Körper oder schweren Milchbrüsten zu kämpfen. Beim Mann läuft punkto Lust auf Sex doch alles unverändert weiter ...
Da hat schon fast ein Paradigmenwechsel stattgefunden. Dass «Männer immer wollen, Frauen nie» stimmt so nicht. Die Lustlosigkeit wurde symmetrischer. Ich begegne in meiner Praxis auch Müttern, die sich eine höhere sexuelle Frequenz wünschen. Vielleicht nicht Kleinkindmütter – aber solche, bei denen die Kinder dem Paar wieder mehr Freiheit lassen.
Lange wurde nur Frauen ein Rollen-Multitasking abverlangt: Berufsfrau, Mutter, Liebhaberin. Heute wird das auch von den Vätern eingefordert. Sind sie damit überfordert?
Der heutige Mann ist tatsächlich erschöpfter als noch vor 20 Jahren. Ich glaube aber nicht, dass es zu physischer Erschöpfung führt, wenn man sich vom Paschatum verabschiedet. Tisch decken und Müllsäcke raustragen erschöpft nun sicher nicht. Es ist vor allem die Geschäftswelt, in der die Anforderungen gestiegen sind.
Laut Umfragen möchten 95 Prozent der Männer Teilzeit arbeiten, um sich intensiver um Kinder und Haushalt kümmern zu können. Teilhaben am Familienleben heisst ja mehr als Tisch decken und Abfall entsorgen.
Es kommt bei Umfragen immer darauf an, in welchem Teich gefischt wird: Fragt man Männer aus der Banken- und Versicherungsbranche, ist davon auszugehen, dass die Antworten vorwiegend Lippenbekenntnisse sind. Sozialarbeiter und Lehrer hingegen wünschen sich vermutlich wirklich mehr Zeit für Haushalt- und Familienarbeit. Es wollen aber lange nicht so viele Männer 50 Prozent arbeiten, wie das gewisse Männerorganisationen den Männern suggerieren. Aus deren Sicht ist ja kaum ein Vater mehr authentisch, der nicht Teilzeit arbeitet.
Zurück ins Schlafzimmer: Es gibt Statistiken, wonach Männer, die Familienarbeit leisten, weniger Sex haben. Verliert ein überengagierter Vater an erotischer Ausstrahlungskraft?
Etwas skurrile Studien besagen, dass je häufiger ein Mann in der Waschküche gesehen werde, desto mehr verliere er für die Frau an sexueller Attraktivität. Mag sein. Nun gibt es aber Frauen, die es toll finden, wenn der Mann Teilzeit arbeitet, andere ziehen es vor, wenn er die Ernährerrolle übernimmt.
Solange beide Partner von derselben Vorstellung ausgehen, sollten die gewählten Rollenmodelle kein Problem darstellen …
Ein Problem für viele Männer ist, dass ein erheblicher Anteil an Frauen sich nicht mehr ganz klar ist, welchen Mann sie möchten: Den Softie oder den Macho. Es erstaunte mich zutiefst, welchen Erfolg das von einer Hausfrau geschriebene Buch «Fifty Shades of Grey» verzeichnete. Offensichtlich ist sanfte Unterwerfung und sanfte Gewalt doch gefragt – als Gegenstück zum weichgezeichneten Mann, der lange gefordert wurde. Diese Unentschiedenheit der Frauen macht den Männern in meiner Praxis schon manchmal Mühe. Ich hatte einen Vater in Behandlung, Ende 40, dessen Frau möchte es in der Sexualität etwas härter haben. Er aber schafft es einfach nicht, seiner Frau auch mal die Augen zu verbinden, sie leicht zu fesseln, so wie sie sich das wünscht. Er ist überaus aktiv beteiligt an der Erziehung der Kinder – den Dominator, den Macho aber mag er einfach nicht geben. Sie hat deswegen sogar eine Aussenbeziehung begonnen.
Womit sie den Fünfer und das Weggli hat ...
... man soll nicht richten, schon gar nicht als Therapeut.
Unter jungen Müttern ist eine etwas befremdliche Entwicklung festzustellen: Viele befürchten, nach einer vaginalen Geburt wegen einer vermeintlich «ausgeleierten» Scheide für den Mann an Attraktivität zu verlieren. Die eine oder andere Frau wünscht sich deswegen sogar einen Kaiserschnitt. Beklagen sich in Ihrer Praxis junge Väter über zu weite Vaginas?
Damit kam noch keiner zu mir! Aber wir Ärzte haben unseren Unfug zu dieser Entwicklung beigetragen. Wenn etwas medizinisch möglich ist – wie eine operative Scheidenverengung – wird das angeboten. Und wenn suggeriert wird, zu einem makellosen Körper gehöre eine sogenannt geraffte oder verengte Vagina oder Anal- Bleaching, verunsichert das eine in sich nicht gefestigte junge Frau. Schönheitschirurgen sind da manchmal grosse Bedürfniswecker. Bei mir beklagte sich aber noch kein Mann über eine erweiterte Vagina oder hängende Brüste. Da kann ich die Frauen beruhigen!
Gibt es andere Problemfelder, mit denen junge Väter Sie aufsuchen?
Es gibt Männer, die Mühe haben, wenn ihre Frau sich über längere Zeit gehen lässt, und aus dem Mickey-Mouse-T-Shirt in Übergrösse nicht mehr herauskommt. Diese Männer wünschen sich im erotischen Sinn mehr Pflege. Es klingt hart: Aber wenn der Vater als Familienernährer die allenfalls attraktiv zurechtgemachten Berufskolleginnen als ästhetisches Kontrastprogramm zu seiner Frau zuhause erlebt, beschäftigt ihn das, manchmal eben auch erotisch ...
Oje! Was ist denn mit den Überfrauen in Werbung und auf Pornosites? Da ist das Kontrastprogramm noch viel grösser – mit oder ohne Schwangerschaft!
Cybersex ist tatsächlich zu einem grossen Problem geworden. Da kann die Durchschnittsfrau von morgens bis abends im Badezimmer stehen – sie wird nie an die retuschierten Pornodarstellerinnen herankommen. Da entstehen Bilder im Kopf, die belasten. Gerade nach einer Geburt und der dadurch allfällig entstehenden sexuellen Durststrecke geraten viele Männer in den Sog der Internetpornografie. Dadurch kann ein Teufelskreis entstehen, in dem die Frau findet: Da kann ich sowieso nicht mithalten – also was solls. Er wiederum stört sich daran, dass sie sich mehr und mehr zurückzieht.
Der Philosoph, 4-fache Vater und Autor von «Sexout», Wilhelm Schmid, plädiert dafür, sich anderswo zu holen, was einem fehlt. Jeder Paartherapeut bestätige «die inspirierende Wirkung einer Aussenbeziehung», sagt er. Sie auch?
Treue versus Untreue ist ein schwieriges Thema. Ich glaube, man darf nicht allgemeingültige Rezepte abgeben. Dass eine Aussenbeziehung die Paarbeziehung beleben kann, davon berichteten mir Klienten auch schon. Aber: Was je nachdem an Kollateralschäden auftreten können, an Scherben, die schwer wieder zu verleimen sind, das steht auf einem anderen Blatt. Auf keinen Fall ist zu raten, einfach mal ein bisschen über den Hag zu fressen. Da muss man den Partner, die Partnerin schon sehr gut kennen. Es stellt sich auch die Frage, wie gross der Kränkungsgrad ist: War es ein einmaliger Ausrutscher auf Geschäftsreise? Oder wurde mit System hintergangen? Oder hat er seine Frau mit ihrer besten Freundin betrogen? Andererseits sage ich zu Paaren, bei denender Eros nach 20 oder 30 Jahren Beziehung erloschen ist, und die es in einem gegenseitigen Agreement mit Aussenbeziehungen aushalten: go for it.
Entspringen Probleme punkto Sexualität nicht vor allem Beziehungsschwierigkeiten?
Ich glaube, die grösste Hürde ist, überhaupt über Sex zu sprechen. Ich stelle in meiner Praxis eine unglaubliche Sprachlosigkeit fest, wenn es um den intimen Bereich geht. Paare diskutieren über Autoleasing, Hausbau und Urlaubsziele. Da ist man konsensfähig. Wenn es aber um sexuelle Wünsche und Fantasien geht, verstummen sie. Ich weiss nicht, ob das mit unserer jüdischchristlichen Tradition zu tun hat, die trotz Internetzeitalter sehr schambehaftet ist – noch immer sprechen wir von Schambereich, Schamlippen, Schamhaaren. Andere Paare wiederum kommunizieren nur im Vorwurfston: «Du gibst dir keine Mühe», «Du weisst auch nach fünf Jahren nicht, wie ich es mag!». Dieses Vorwurfs-Pingpong in sexuellen Belangen ist besonders sextötend. Da denkt sich der Mann oft: «Ich habe ja zwei Hände – die stecken nicht in Gips». Aus einer Beziehung einfach auszusteigen, macht es auch nicht besser. Denn bei einem neuen Partner wird das Sprechen nicht einfacher.
Und was empfehlen Sie Eltern, um nicht in Sprachlosigkeit oder erotischer Einöde zu landen?
Ich rate jedem jungen Paar, bevor die Kinder kommen, darüber zu sprechen, wo Inseln geschaffen werden können. Es ist wunderbar, wenn Grosseltern, Schwiegereltern, Göttis und Tanten eine junge Familie unterstützen können, damit diese Freiraum erhält. Denn Kinder sind manchmal auch kleine, süsse Blutegel und Beziehungsterroristen. Kluge Paar- und Psychotherapeuten raten nicht von ungefähr, Paarzeit immer vor Elternzeit zu setzen! Und ja: Bevor eine Beziehung in Schweigen versinkt oder auseinanderbricht, sollte man sich professionelle Hilfe holen.
Marco Caimi (55) ist Männerarzt und sagt: «Der Mann hat während der letzten 40 Jahre Emanzipation an physischer, psychischer und sexueller Kraft eingebüsst.» Weil Caimi als Arzt und Paartherapeut mit zahlreichen verunsicherten Männern zu tun hatte, gründete er in Basel die erste Männerpraxis der Schweiz (www.maennerpraxis.ch, auch Frauen sind willkommen). Caimi ist begeisterter Ausdauersportler, Vater von zwei erwachsenen Kindern und Autor. Sein neustes Buch heisst «Mann, Macht, Mannzipation. Der Mann im Spannungsfeld zwischen, Beruf, Beziehung und Bedürfnissen», Pro Business GmbH, Fr 35.90