Entwicklung / Fantasie
Beste imaginäre Freunde
Von Anita Zulauf
Auf einmal waren sie da: der böse und der liebe Tiger und der liebe Wolf. Und sie brachten ganz schön Stimmung ins Familienleben. Rico, der Superheld, machte sogar Papa eifersüchtig. Geschichten über das Leben mit imaginären Freunden.
Auf einmal waren sie da: der böse und der liebe Tiger und der liebe Wolf. Und sie brachten ganz schön Stimmung ins Familienleben. Rico, der Superheld, machte sogar Papa eifersüchtig. Geschichten über das Leben mit imaginären Freunden.
Nina hat zwei. Aisha drei. Mike hat keinen. Paul einen. Imaginäre Freunde. Schattenwesen, die auf einmal da sind und oft auch für länger bleiben. Fast jedes vierte Kind hat bis zu seinem siebten Geburtstag einen oder mehrere imagninäre Gefährten, die ausser ihnen sonst keiner sehen kann. Und die Eltern? Die sind oft irritiert, erschrocken, befürchten den Beginn einer ernsten psychischen Störung. Doch was zugegebenermassen ziemlich unheimlich erscheint, ist völlig harmlos.
Ninas Wesen heissen Kadidscha und Kochia. «Das sind meine besten Freundinnen», erklärt Nina den anfangs irritierten Eltern. Und beste Freundinnen kommen überall mit hin. Zum Beispiel in den Supermarkt. Dort sitzen die drei gemeinsam im Einkaufswagen, was dann immer ein ziemliches Gedränge gibt und Nina aufpassen muss, dass Mama den Freundinnen nicht die Packung Klopapier auf den Kopf haut. Dass die Freundinnen am Abendessen teilnehmen, versteht sich von selbst, es stehen immer zwei Gedecke mehr auf dem Tisch.
Immer nett und lustig
Und dass Ninas ältere Brüder darüber lachen und Sprüche machen, das nimmt die Fünfjährige relativ gelassen hin. «Die wollen einfach nicht, dass ihr Blödmänner sie seht. Das hat mir Kochia eben gerade gesagt.» Kochia und Kadidscha gehen mit Nina durch dick und dünn und abends ins Bett. «Sie sind schon viel grösser als ich, beide mit braunen Haaren, einmal lang und einmal kurz», erklärt Nina das Aussehen der Freundinnen und flüstert der Mutter ins Ohr: «Kochia ist ein bisschen dick, aber das darfst du ihr nicht sagen, sonst ist sie traurig.» Kochia und Kadidscha sind immer nett und lustig und bald schon akzeptierte Familienmitglieder. Und sie bleiben bei Nina, mehr als ein Jahr lang. Bis sie sich nach und nach auflösen. Im Vergessen verschwinden.
Es sind vor allem Drei- bis Siebenjährige, die für eine Weile mit solchen Fantasiefiguren leben. Die Kinder spielen und sprechen mit ihren Wesen, die einen sind wahre Riesen, andere haben Platz in der Hand oder in der Hosentasche. Oft sind es menschliche Wesen, es gibt aber auch Fantasiegestalten oder Tiere. Wie zum Beispiel bei Aisha.
Ihre imaginären Freunde sind ein Wolf und zwei Tiger. Der böse Tiger, der liebe Tiger und der liebe Wolf. Doch es ist nicht so, wie es zu sein scheint. Denn der böse Tiger ist der nette, feine, tiefgründige. Er ist Aishas Beschützer. Der liebe Tiger aber macht dauernd Blödsinn, ist rotzfrech und ärgert nicht nur Aisha dauernd, sondern auch die beiden anderen imaginären Freunde. «Nein, das darf man doch gar nicht, schäm dich, lieber Tiger», schimpft Aisha, wenn der liebe Tiger schon wieder dem lieben Wolf eine runtergehauen hat. Und die Vierjährige schämt sich fremd, wenn der liebe Tiger lautstark dem Nachbarsjungen die übelsten Schimpfwörter hinterherschreit. Dann schleift sie ihn an der Pfote rein und er muss den Rest des Tages im Zimmer bleiben. Hausarrest. «Der liebe Wolf, der ist noch sehr scheu», erklärt Aisha, «er versteckt sich immer hinter mir, weil er Angst hat vor dem lieben Tiger.»
So ein imaginärer Freund ist einfach ein unglaublich dufter Typ, der alles kann, alles darf und alles relativ unverletzt überlebt. Der Gefährte kann lieb und hilfsbereit sein, er kann aber auch böse sein, frech, Schimpfwörter brauchen und fluchen. Und muss trotzdem nie mit dem Geschimpfe von Mama oder Papa rechnen. Praktisch sind die Wesen auch darum, weil imaginäre Freunde Felder abdecken können, auf denen sich die Kinder unsicher fühlen. Fachleute nennen sie auch soufflierende Engelchen und Teufelchen, mit denen Kinder die Welt voller Ge- und Verbote durchschiffen können.
Pauls Wesen jedenfalls ist sehr speziell. Er heisst Rico, ist bärenstark, schon erwachsen und ein ganz toller Typ. Er ist mutiger als Papa, fährt rasend schnell Auto, macht Sprünge bis in die Wolken, verdrückt drei Teller Pommes in zwei Minuten und matscht eine ganze Flasche Ketchup obendrauf. Er macht mit Paul Piratenschiffversenken und Schaumschlachten in der Badewanne, er ist Pauls bester Kumpel. «Rico hat sooo viele Muskeln und ist sooo mutig», schwärmt Paul dem Papa vor. Und Papa wird ein bisschen eifersüchtig auf den unsichtbaren, muskelbepackten Superman. Da kann er nicht mithalten.
Kein Grund zur Panik
Aisha, Paul und Nina: Drei Beispiele von unzähligen. Hat man früher noch angenommen, dass nur scheue und introvertierte Kinder imaginäre Gefährten haben, hat sich diese Meinung unter Fachleuten mittlerweile revidiert. Denn so unterschiedlich die unsichtbaren Freunde sind, so unterschiedlich sind die Kinder, die sie haben. Nina ist ein Wirbelwind, rauft und tollt mit Nachbarskindern rum, hat Geschwister und Freunde. Paul ist ein lustiger kleiner Kerl, eher ruhig, hat keine Geschwister und geht gerne in den Kindergarten. Aisha ist sehr scheu und introvertiert, fühlt sich nur in der Familie wohl, spricht im Kindergarten lange nicht und spielt lieber allein als mit anderen Kindern. Was hat es mit diesen Schattenwesen also auf sich und warum kommen sie überhaupt in das Leben der Kinder? Soll man als Eltern reagieren? Wenn ja, wie? Hier ein paar Tipps:
Was tun?
Was kann ich tun, wenn mein Kind einen imaginären Freund hat?
Sie dürfen gerne mitspielen. Ansonsten besteht kein Handlungsbedarf. Imaginäre Gefährten sind keine Vorstufe zur Schizophrenie und haben nichts zu tun mit Halluzinationen. Rund 40 Prozent aller bis siebenjährigen Kinder haben einmal im Leben einen oder mehrere unsichtbare Freunde. Das ist also weder eine Seltenheit noch steckt eine psychische Erkrankung dahinter.
Warum ausgerechnet mein Kind?
Vielleicht ist Ihr Kind ausgesprochen kreativ, empathiefähig, hat grosse Sprachkompetenzen? Denn genau das hat die Forschung der amerikanischen Psychologin Marjorie Taylor ergeben. Die Vorurteile, nach denen Kinder mit imaginären Freunden meist schüchtern und soziophob seien, hat Taylor widerlegt. Was natürlich nicht heisst, dass keine schüchternen Kinder darunter sind. Auch Einzelkinder oder einsame Kinder haben oft imaginäre Freunde. Was wiederum nicht bedeutet, dass Kinder mit Schattenwesen einsam wären. Und es heisst auch nicht, dass Kinder ohne imaginäre Freunde weniger kreativ oder sprachkompetent sind als jene Kinder mit.
Muss ich für den imaginären Freund einen Teller mehr auf den Tisch stellen, auch wenn der Platz dann leer bleibt?
Unbedingt. Gastfreundschaft ist wichtig. Wenn es Ihnen jedoch peinlich ist, wenn Besuch zum Essen ansteht, könnte Ihr Kind dem imaginären Freund vorschlagen, vielleicht so lange ins Kino zu gehen. Dann erübrigen sich Fragen des Besuchs nach noch mehr geladenen Gästen oder ein vielleicht infantil erscheinendes Tischgespräch mit Superman, dem bösen Tiger oder dem Taschenbären.
Aber es sind doch Fantasiegebilde. Ist es wirklich normal, dass dieses Wesen für mein Kind so real ist?
Absolut. Und auch wenn die Kinder diese Wesen intensiv wahrnehmen, auch wenn sie sie ganz genau beschreiben können: Die Forschung hat ergeben, dass die Kinder letztlich ganz genau wissen, dass diese Freunde nicht real sind. Also keine Panik.
Wozu sind die Freunde denn überhaupt gut?
Man weiss mittlerweile, dass die imaginären Wesen den Kindern in ihrer Entwicklung gut tun. Häufig spiegeln Ängste, Gefühle und das Verhalten des imaginären Freundes Themen aus dem Leben des Kindes. Es hilft ihm, Situationen zu verarbeiten, Konflikte zu bewältigen. Die Gründe über das Erscheinen der Begleiter dürften jedoch äusserst unterschiedlich sein. Manchmal sind es ganz konkrete Auslöser, die imaginäre Begleiter ins Kinderleben rufen, sagt die Jugendpsychologin Katharina Ostermann. Etwa wenn eine Veränderung in der Familie ansteht, die Geburt eines Geschwisters, eine Trennung der Eltern, der Eintritt in den Kindergarten, ein Umzug vielleicht. Dann würden die Wesen als Stellvertreter einspringen oder als Bewältigungshilfe. Doch manchmal sind sie auch einfach da. Ohne erkennbare Gründe.
Wie wird man sie wieder los?
Das liegt nicht in Ihrer Hand. Das Kind allein entscheidet, wann es seine imaginären Gefährten nicht mehr braucht. Die Wesen verschwinden meist irgendwann im Vergessen. Aber gönnen Sie ihrem Kind die Freunde. Denn für sie sind diese Freundschaften auf Zeit äusserst bereichernd. Und hat man als Eltern noch den Zugang zu kindlichen Fantasiewelten, kann die Zeit mit den imaginären Freunden auch für sie ein Gewinn sein.
Erinnern sich die Kinder später an ihre Freunde?
Nicht wirklich. Meist erzählen die Eltern aus dieser Zeit. Darum sind die Wesen noch in der Erinnerung der Kinder vorhanden. Ansonsten verschwinden die imaginären Begleiter aus dem Leben und aus der Erinnerung, wie sie gekommen sind. Sie werden vollkommen unsichtbar. Für immer.